Predigt zur Eröffnung der Veranstaltungsreihe
"Kantaten im Gottesdienst"
Am Sonntag, den 28. November 1999 (1. Advent)
in der Ludwigskirche in Freiburg
28.11.1999
Kantate BWV 36 "Schwingt freudig euch empor" -
prima pars
Klänge einer erfüllten Erwartung! Eine Festtagskantate für den 1. Advent. Erstmalin dieser Fassung zum Erklingen gebracht am 1. Advent 1731. 46 Jahre als ist JohannSebastian Bach zu diesem Zeitpunkt. Thomaskantor in Leipzig, doch darum noch langenicht mit Prädikaten der Einzigartigkeit ausgestattet, wie man es aus heutigerPerspektive annehmen könnte. Schließlich ist die meinungsmachende Macht derheutigen Medien noch nicht einmal vorauszuahnen.
Bach schöpft nicht nur aus seiner schier grenzenlosen musikalischen Genialität.Längst kann er auch in den Schatz seines bisherigen Schaffens greifen, um Bewährtesauf‚s neue erklingen zu lassen. Der Eingangschor der 1. Teiles der in diesemGottesdienst aufgeführten Kan-tate ist dafür nur ein Beispiel. Komponiertwurde er schon sechs Jahre früher zum Geburtstag eines Lehrers. Wiederverwendetein Jahr später zum Geburtstag der Fürstin Charlotte Friederike zu Anhalt-Köthen;dann auch zum Geburtstag eines angesehen Juristen aus der Familie Rivinus."Steigt freudig in die Luft" ist der Chor das eine Mal betitelt. "DieFreude reget sich" in einem der anderen Male.
In der heutigen Fasung heißt die Kantate nach der Anfangszeile der adventlichenNutzung des Eingangschores "Schwingt freudig euch empor!".
Noch weitere Sätze der Kantate sind Umdwidmungen und Bearbeitungen des eigenenfrüheren Schaffens. Beethoven formuliert ein Menschenleben später ohne Grundüber ihn: "Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen wegen seines unendlichen,unerschöpflichen Reichtums an Harmonien."
Knapp dreißig mal werden sich Kantaten aus dem nach Hunderten zählenden Bach‚schenKantatenwerk im nächsten Kirchenjahr durch Kirchen des Bezirks "schwingen". Heutewird diese Reihe, für die der Landesbischof die Schirmherrschaft übernommen hat,eröffnet.
Eine adventliche Kantate ist es, die zur Aufführung gelangt. Doch zugleich eine,die dem Advent schon fast zu sehr in die weihnachtliche Zukunft enteilt.
Das Lied "Nun komm, der Heiden Heiland" - eines der schönsten Adventslieder- gibt gleichsam das Gerüst ab, dem weitere Motive als reichhaltige Ausstattungmitgegeben werden. Entstanden ist eine Kantate freudiger Erwartung, die biblischeMotive aufgreift, ohne sie im letzten wirklich streng aus- und durchzuführen.
Das Evangelium des 1. Advent, der Einzug in Jerusalem, steht im Hintergrund,klingt an und klingt auf, wenn die Nähe des kommenden Herrn der Herrlichkeitbesungen wird. Zugleich bezieht sich der Text der Kantate auf das Bild der Braut,die den herannahenden Bräutigam erwartet.
Die Mystik hat sich dieses Bildes vom Seelenbräutigam immer wieder bedient. Aberauch hier bestimmen biblische Vorbilder das Motiv, am schönsten ausgeführt imGleichnis Jesu von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen - schondamals als Evangelium des vorausgegangenen Sonntags noch gut im Gedächtnis derZuhörerinnen und Zuhörer.
Nicht immer -so hat es manchmal den Eindruck - können die Kantatentextedas Niveau ihrer musikalischen Bearbeitung durch Johann Sebastian Bach wirklichhalten. Aber Schlichtheit ist kein Schaden für die Botschaft. Eher ein Gleichnisunseres Glaubens. Schnörkellos trägt er uns oft am leichtesten über dieHindernisse unserer Lebensgeschichten. Und so kann die Arie, die dem Schlusschoraldes zweiten Teiles vorausgeht, einem durchaus anrühren:
- Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen
wird Gottes Majestät verehrt.
Denn schallet nur der Geist dabei,
so ist ihm solches ein Geschrei,
das er im Himmel selber hört.
Kantate BWV 36 "Schwingt freudig euch empor" -
sekunda pars
Klänge einer erfüllten Erwartung! Eine Festtagskantate für den 1. Advent. Derart inmusikalischer Vielstimmigkeit zelebriert lässt sich das Warten angenehm aushalten.Adventliches Warten ist eben wissendes Warten. Ist ein Warten aus der Perspektivederer, die längst dar-über im Bilde sind, wie es weitergeht. Adventliches Wartenist ein Warten aus weihnachtlicher Perspektive. Warten im Rückblick. Aus der Erfahrungder Erfüllung.
Doch solches Warten ist im Grunde kein Warten. Zumindest kein wirklich adventliches.Kein Warten, das davon lebt, dass die Sehnsüchte noch am Brennen sind.
Meist halten wir das Warten gar nicht mehr wirklich aus. Beschweren uns, wenn wirzu lan-ge warten müssen am Schalter oder im Restaurant. Solches Warten ist garkeines. Ist bestenfalls eine Folge unserer gehetzten Art zu leben. Dieunterblieben Befriedigung unserer Bedürfnisse ist kein Warten. Bestenfalls einNichtaushalten können der Einsicht des biblischen Predigernuches, dass alles ebenseine Zeit hat.
Worauf warten wir Menschen heute? Auf steigende Gewinne und Wachstumsraten. Aufberufliches Weiterkommen. Auf das nächste Event, das die Eintönigkeit unserer Tageetwas anreichert und erträglich macht. Darauf, dass die Politiker endlich erkennen,worauf es wirklich ankommt. Auf die nächste Enthüllung, die die Einschalt-Quotenund die Auflagen steigen lässt.
Wann haben sie / wann habe ich zum letzten Mal wirklich gewartet? So wie Verliebteauf den nächsten Brief. So wie die um ihren Arbeitsplatz fürchtenden Mitarbeitervon Holzmann auf das Ergebnis der Verhandlungen der Banken. So wie demnächst vieleältere Menschen auf den Weihnachtsbesuch ihrer Kinder - oder überhaupt auf einenBesuch. So wie Frauen auf ihre Männer nach 1945. So wie wir auf einen Menschenwarten, der uns genommen wurde - durch das Scheitern einer Beziehung oder durchdie Endgültigkeit des Todes.
Anstelle einer Haltung produktiven Wartens bestimmt unsere Erfahrung meist anderes.Die des Übergangen-Werdens, wo ich doch eigentlich an der Reihe wäre. Beruflich. Da,wo ich mich engagiere. Das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Unrecht erlitten zuhaben. Die Erfahrung, hinter den eigenen Anforderungen oder denen andererzurückgeblieben zu sein. Am bittersten womöglich die teils uneingestandene,teils lähmende Erfahrung, eigentlich gar kein Ziel mehr vor Augen zu haben.
Worauf warten wir mit derselben Intensität wie die Menschen zur Zeit Jesu? -wie gläubige Juden heute auf den Messias. Wie die ersten Christen auf dieWiederkunft ihres Herrn.
Die Haltung des Wartens ist ein Grundelement christlichen Glaubens. Und derAdvent ist die Zeit, in der wir dies als Leit-Thema zulassen. Ja mehr noch,in der wir vor allem anderen eben daraus neue Lebensenergie gewinnen. Nichts,wirklich nichts kann den Lebens-Horizont so sehr öffnen wie adventliches Warten.Wie das auch gottesdienstlich gefeierte Eingeständnis der eigenen Bedürftigkeit.
Advent heißt die verdrängten Lebens-Lücken vor Gott freigeben. Mit offenen Händen.Mit der Bereitschaft zum Hören. Mit einem Herzen, das dem anderen, dem Ungeahnten,ja dem Unglaublichen wieder Raum gibt.
Advent heißt Warten, weil mir Raum dazu gewährt wird. Warten, weil nicht alle Lastder Welt auf meinen Schultern ruht. Heißt Abstand gewinnen und den Perspektivenwechselwagen. Advent heißt warten können, weil Gott kommt.
Eine schlichte Antwort, viel einfältiger vielleicht als die Großartigkeit Bach‚scherMusik. Eine Antwort zugleich, die sich vielfältig brechen kann in den uns zugedachtenHandlungsmöglichkeiten. Die 41. Aktion von Brot für die Welt, die auch in diesem Jahrwieder am 1. Advent beginnt, ist eine Möglichkeit. Und eine mit vielfacher Wirkung.
Das rechte Warten gibt unserem Handeln Kraft. Kann uns verlocken, uns hinauszuwagen- weit über unsere bisherigen Möglichkeiten. "Schwingt freudig euch empor"-das ist zu wenig als nur der Eingangschor einer Bachkantate zum Advent."Schwingt freudig euch empor!" - die Kraft adventlichen Wartens kannes als mutmachendes Lebenswort aufleuchten lassen. Gott sei Dank. Advent! Amen.