Adventsbesinnung
anlässlich der Weihanchtsfeier 2000
des Betreuungsvereins der Diakonie Freiburg

05.12.2000

Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!

Adventliche Bräuche. Einst und jetzt. Hier und anderswo. Das ist ihr Thema an diesem Spätnachmittag. Einiges haben wir schon gehört. Und ich will mich einfach mit einigen Gedanken - und einem weiteren Beispiel einreihen.

Jede Zeit des Jahres hat ihre eigenen Bräuche und Symbole. Ja mehr noch, jede Region, jede Landschaft hat einen besonderen Schatz an solchen Zeichen. Jedes Zeitalter, auch jede Familie bringt Bräuche und Gebräuche, Zeichen und Symbole hervor. Ja man geradezu den Schatz an solchen Dingen als Kennzeichen nehmen, um eine besondere Gruppe - ob eine die eine ganze Region oder eine kleine wie eine Familie - von einerandew abzugrenzen. Dies alles nach dem Motto: "Sage mir, wie ihr feiert und wie ihr euer Leben gestaltet!" - und ich sage dir, wer du bist und wo du dazu gehörst.

In besonderer Weise machen sich solche Bräuche auch im Bereich der Religion fest. Das braucht uns nicht zu verwundern. Denn das Ziel jeder Religion ist nicht - wie manche meinen - der pure Gehorsam gegenüber einer Gottheit. Das Ziel von Religion ist das gelingende Leben. Der überwundene Riss, der sich durch diese Welt und durch unsere Existenz zieht. Das Ziel von Religion ist Schalom. Und Schalom meint nicht einfach Frieden, sondern Schalom meint Heilsein und Unversehrtsein. Meint Ganzsein. Und dieser Ganzheit, dieser Integrität unseres Lebens vor allem dienen unsere Bräuche und Symbole.
Kein anderes Fest des Kirchenjahres ist so reich an solchen Bräuchen wie das Weihnachtsfest und die ihm vorausgehende Adventszeit. Welche Funktion, welche Aufgabe aber haben diese Symbole? Warum lagern sie sich gewissermaßen wie ein bunter Kranz, wie eine farbenfrohe Lichter-Kette um die weihnachtlichen Tage herum?

Eines der älteren und zugleich sehr bekannten Weihnachtslieder ist das Lied "Alle Jahre wieder" kommt das Christuskind." In diesen drei Anfangsworten "Alle Jahre wieder" liegt das erste Merkmal unsere Bräuche. Sie wiederholen sich immer wieder. Ob alle Jahre wieder wie der Geburtstag des Kindes in der Krippe und der aller anderen Kinder. Oder jeden Tag oder jede Woche. Je nachdem.

In der Wiederholung liegt die Wiedererkennbarkeit begründet. Und in der Wiedererkennbarkeit die Vertrautheit, die Heimat ermöglicht. Denn das ist das zweite. Die Bräuche sind gewissermaßen die besondere Duftnote, an der wir spüren, dass wir dazu gehören. Oder mit der wir womöglich irgendwann nichts mehr zu tun haben wollen.

Bräuche beheimaten aber nicht nur regional. Sondern auch biographish. In jedem Weihnachtsgebäck, jedem Zimtstern, jedem Hildabrötchen liegt die Erinnerung an die Tage der Kindheit. An den adventlichen Duft der geheimnisvollen Bäckerei der Mutter oder der Großmutter. Nebenbei bemerkt: Natürlich verdankt derrzuckerüberzogene Zimtstern seine Existenz der Erinnerung an den Stern, dem die Weisen aus dem Morgenland, biblisch die Magier aus dem Osten auf ihrer Reise gefolgt sind.

Neben der Wiedererkennbarkeit und der Vertrautheit bewirken die Bräuche natürlich auch noch ein Drittes. Sie entlasten davon, zum Beispiel Advent und Weihnachten erst machen zu müssen. Jedes Jahr neu zu überlegen, wie man diese Zeit gewinnbringend - und ich meine das jetzt nicht im materiellen Sinn - gesalten kann. Wer käme denn schon darauf, den Adventskranz oder gar den Adventskalender zu erfinden. Und dann so zu erfinden, dass alle erkennen, was damit gemeint ist.

Und eben das ist das vierte. Die Bräuche binden zusammen. Sie verbünden zu einer Traditionsgemeischaft - ganz positiv verstanden - , ohne die wir gar nicht leben können, ohne an unserer Vereinzelung zu erfrieren. Wer darum von Brauchtum spricht, oder gar von der Pflege von Brauchtum, der oder die ist nicht einfach der Volkstümelei zu verdächtigen. Ganz im Gegenteil: die Erinnerung an das, was eine Gruppe von Menschen zusammenhält, war in den alten Gesellschaften die Aufgabe der Weisen. Und darum hochgeachtet.

Ein letztes möchte ich anfügen. Bräuche helfen mit zu feiern. All das, was ich schon zu ihren Gunsten ins Feld geführt habe, ist nicht einfach aus Gründen der Vernunft richtig und wichtig. Die Wurzeln der Wirkkraft der Bräuche liegt im Bauch. Ich sage noch lieber im Herzen. Dort, wo all das verortet ist, worin unser leben wurzelt. Denn man muss Bräuche nicht erklären. Wenn man sie immer erst erklären muss, wirken sie nicht mehr. Wer weiß, wie alles funktioniert, mag ein Wissender oder eine Wissende sein. Ein Weiser oder eine Weise ist er oder sie deshalb noch lange nicht. Wissen füllt den Kopf. Weisheit aber kräftigt unsere Herzen und unsere Sinne.

Natürlich wandeln sich Bräuche auch. Sie können deplaziert werden. Nichtssagen. Oder uns gar gegen den Strich gehend. Weil wir uns abgrenzen wollen. Von unserem Elternhaus. Von einer gewissen Tradition. Auch von bestimmten Formen der Religion. Wenn eine solche Ablösung von einer Bräuche-, ja sogar von einer Brauchtumsgemeinschaft gut geht, dann treten neue Spielregeln für unser Leben an die Stelle der alten. Das kann fast unbemerkt und allmählich gehen. Oder abrupt. Je nachdem.

Ganz ohne Bräuche, ohne Symbole, ohne Riten zu leben - das geht fast gar nicht. Und manchmal ist es dann doch hilfreich, die lebensunterstützende Wirkkraft der alt-überlieferten Bräuche wiederzugewinnen. Indem man ihnen nachspürt wie an diesemNachmittag. Und indem man ihren Sinn neu entdeckt. Und dabei so manche Überraschung erlebt. Weil Alltägliches so einen neue Sinn gewinnt.

Wie etwa beim Blick auf den weihnachtlichen Tannenbaum. Natürlich ist die Tradition des Baumes an heiligen Orten älter als das Christentum. Man denke nur an die Donar-Eiche der Germanen, die der heilige Bonifatius bei Fulda umgehauen hat. Aber der Christbaum ist christlichen Ursprungs. Und noch kein halbes Jahrtausend alt. Er wird in der uns bekannten Form gegen 15oo erstnalig im Elsass erwähnt. Mit diesem Baum wird auf den Paradiesbaum angespielt, der ohne dem Wechsel der Jahreszeiten zu unterliegen, immer grün und jung bleibt. Das Lied "O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter" nimmt diese Thematik auf. "Du grünst nicht nur zur Sommerszeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit." Damit wird die Unabhängigkeit von den Jahreszeiten in den Blick gerückt.

Da aber nach alter Tradition der Paradiesbaum ein Apfelbaum war - obwohl wir davon nichts in der Bibel lesen - hängte man die Äpfel einfach dran. Zunächst - und manchmal bis heute als richtige Äpfel; dann aber auch kunstvoll handwerklich gefertigt als Glaskugeln, die nicht selten rotbackig sind wie eben Äpfel. Natürlich war auch an Weihnachten der Blick insgeheim schon auf Passion und Ostern gerichtet. Um diesen Baum gleichsam mit dem gegenwärtigen Christus in Verbindung zu bringen, hängte man neben den Äpfeln oder Kugel Hostien oder Oblatenan den immergrünen Baum. Backoblaten gibt es ja bis heute. Das war dann - ebenfalls in kunstfertiger Verfeinerung -die Geburtsstunde der Weihnachtsplätzchen. Die silbernen oder goldenen Fäden, die früher als Lametta die Kinderaugen besonders zum Leuchten gebracht hatten, sollten mit dem Rauschen, das dadurch erzeugt wurde, an die geschenkeüberhängten Könige aus dem Morgenland erinnern.

Ohne diese behängten Bäume - ohne den Christbaum - ist Weihnachten auch heute nicht zu denken. Dieser Baum soll uns an die mit Weihnachten neu geschenkte Rückkehr ins Paradies erinnern, wo es keine Vergänglichkeit und keinen Mangel mehr gibt, eine Thematik, die ebenfalls von einem der ganz bekannten Weihnachtslieder aufgenommen wird:
    Heut schließt er er wieder auf die Tür
    Zum schönen Paradeis.
    Der Cherub steht nicht mehr dafür.
    Gott sei Lob Ehr und Preis.
Zugleich wird hier auch auf jenen Engel, jenen Cheruben angespielt, der die Menschen nach der Vertreibung vom erneuten Eindringen ins Paradies abgehalten hat.
Insofern - und das ist nun wirklich das letzte - nehmen Bräuche, sofern sie sinnvoll wirken - eine Welt vorweg, die es so nicht mehr gibt, nach der wir uns aber gerade in den weihnachtlichen Tagen um so mehr sehnen: die Welt des Schalom, ohne Hass, Krankheit und Krieg, eine Welt ohne Gewalt und ohne, dass der Mensch des Menschen Wolf ist. Dies ist ohne Zweifel eine heile Welt. Und eine Ahnung davon dürfen und sollen wir uns immer wieder schmecken lassen.

Gebet zum Abschluss
Gott, diese Welt ist nicht so, wie wir sie uns wünschen. Auch nicht so, wie du sie gemeint hast. Lass uns immer wieder an den Früchten unserer Sehnsucht kosten, es könnte sich alles zum Besseren wenden. Lass uns in den vielen weihnachtlichen Zeichen deine Gegenwart erahnen. Lass uns im Advent an jedem Tag ein neues Türchen zum Leben offen stehen sehen. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.