Predigt über Hebräer,15.26b-28
Geahlten am 21. April 2000 (Karfreitag)
in Merdingen und Ihringen

21.04.2000
Liebe Karfreitagsgemeinde in Merdingen / Ihringen!

"Ein für allemal erledigt!" - So hätten wir es gern. So müsste es immer sein. Was ein für allemal erledigt ist, davor haben wir endgültig Ruhe. Das nimmt uns nicht mehr in Beschlag. Ein für allemal - da gibt es nichts mehr nachzuverhandeln und nachzubessern. Da hat das, was gilt, Bestand. Eben ein für alle mal.

Der Predigttext für den heutigen Karfreitag hat in ganz besonderer Weise dieses ein für allemal zum Thema. Ein für allemal - so lesen wir es im Hebräerbrief - hat Christus sich für uns geopfert. Ein für allemal hat Christus unsere Schuld auf sich genommen. Hören wir jetzt erst den ganzen Predigttext im Zusammenhang. Er steht im 9. Kapitel des Hebräerbriefes im Vers 15 und in den Versen 26b-28.

Predigttext

Eindeutige Worte sind das, liebe Gemeinde. Worte, die ein für allemal klarlegen, worum es geht am Karfreitag. Das Vorbild für das Verständnis Christi im Hebräerbrief, das ist der jüdische Tempelkult. Nur einmal im Jahr durfte der Hohepriester das Allerheiligste im Tempel betreten. Und auch nur er allein. Der alljährliche Versöhnungsfest Yom Kippur hat den Sinn, Gott ein ganz besonderes, einmaliges Opfer zu bringen. Das Versöhnungsfest markiert einen Neuanfang. Was war, ist vergeben. Das Leben kann gewissermaßen ganz neu beginnen.
Dieses einzigartige Opfer ist nur ein Schatten des Opfers, das Christus gebracht hat, so lesen wir es immer wieder im Hebräerbrief. Sein Tod ist das endgültige, unüberbietbare Opfer. Es bedarf keiner Wiederholung. Es gilt eben ein für allemal.

Was theologisch richtig ist, liebe Gemeinde, ist aber noch lange nicht allgemeinverständlich. Der Opfergedanke, so wie die Menschen ihn damals verstanden, ist für uns schon lange nicht mehr einfach selbstverständlich. Der befreiende Sinn des Opfers ist uns längst verloren gegangen.

Wenn einer sich aufopfert - für seine Firma, für einen Verein, für seine Angehörigen, da ist doch er oder sie selber schuld, wenn ihm alles über den Kopf wächst. Wer seine Zeit opfert, will Anerkennung haben. Wer in der Kirche opfert, gibt, auch wenn er gut gibt, etwas ab von dem, was er hat. Ein Opfer, ein wirkliches Opfer ist es noch lange nicht.

Die unsinnigsten Opfer fordert der Straßenverkehr. Verkehrs-opfer sind sinnlos. Zum Heil, wie es im Predigtext im Blick auf Christus heißt, geschehen diese Opfer wahrhaftig nicht. Am ehesten kann man noch sagen, dass sie den Götzen Geschwindigkeit und scheinbare Freiheit gebracht werden.

Auch Christus haben wir heute vielfach längst geopfert. Auf das, was wir von ihm hören und auch lernen können, können wir meist ganz gut verzichten. Wir dienen anderen Göttern. Dem Gott Erfolg etwa. Oder dem Gott Leistung. Dem Gott Konsum. Dem Gott Freizeit oder auch Urlaub. Manchmal auch dem Gott: "Das ist eben mein Recht!"
Ja, auch unsere Arbeit, unsere vielen Pläne und Vorhaben, unsere terminlichen Verpflichtungen können für uns zu Göttern werden. Sie können der Erkenntnis Gottes und seiner Menschenfreundlichkeit in Christus sehr wohl im Wege stehen.

Ein zeitgenössischer Künstler hat sich des Verhältnisses zwischen Christus und unseren vielen Verpflichtungen und Sachzwängen angenommen. Eine Photographie seiner Plastik habe ich ihnen austeilen lassen. Schauen sie das Bild noch einmal ganz in Ruhe an:

Bildbetrachtung

"Soll das der Gekreuzigte sein?" So fragen sie sich vielleicht, wenn sie das Bildblatt in ihrer Hand etwas näher ansehen. Und ich kann sehr gut verstehen, dass dieser Christus ihnen zunächst fremd und fragwürdig vorkommt. Ihnen sogar ohne erläuternde Hilfe fremd und fragwürdig bleiben muss.

In unseren Köpfen hat sich ein ganz anderes Bild des Gekreuzigten schon seit unserer Kindheit meist ganz tief eingeprägt. Der am Kreuzesstamm hängende Körper. Die ausgestreckten Arme am Querbalken festgenagelt. Manchmal auch gebunden. Aber der auf dem Bildblatt: soll das derjenige sein, dessen Tod wir am heutigen Karfreitag gedenken?!

Ganz ohne Zweifel ist auf diesem Bild auch der Gekreuzigte dargestellt, nur eben ganz anders. Steffen Martens heißt der Künstler, der diese Plastik geschaffen hat. Sie stamm aus dem Jahr 1986 und ist aus gebranntem, unglassiertem Ton - also aus Terrakotta - gemacht. Im Original ist die Plastik 50 mal 65 cm groß.
Wenn sie genauer hinsehen, erkennen sie auf dem Bild die Umrisse eines Aktenordners - ein Hinweis auf den Arbeitsalltag - irgendwo in einem Büro, wo Rechnungen oder Belege gesammelt werden. Vielleicht auch Briefe.

Die Arbeit ist noch lange nicht zu Ende. Höchstens unterbrochen. Auf dem offenen Aktendeckel steht eine Tasse - eine Kaffeetasse oder eine Teetasse. Ein Hinweis auf eine kleine Verschnaufpause; vielleicht auch für den kleinen Genuss nebenher, damit das Opfer der Arbeit nicht allzu schwer wird.

Die Tasse ist leer. Wohl geht die Arbeit gleich weiter - oder es steht der Feierabend vor der Tür. Vielleicht auch das Wochenende. Wenn nicht gerade Karfreitag ist, warten die meisten am Freitag nicht auf den Sonntag, sondern auf das Wochenende.

Wenden wir uns noch einmal dem Aktenordner zu. Die Klammer hält dieses Mal keine Blätter oder Dokumente fest. Statt dessen sind die Hände eines jungen Mannes eingeklemmt. Sein Oberkörper ist entblößt. Er ist nur mit einer langen Hose und mit Turnschuhen bekleidet. Der Kopf des jungen Mannes ist leicht zur Seite geneigt. In dieser ganz besonderen Haltung erinnert diese Figur an andere Darstellungen des Gekreuzigten - so wie sie uns vertraut sind.

Nun hängt der Gekreuzigte, der ans Kreuz Geheftete, aber hier: mitten in einem Aktenordner. Ich höre ihre Einwände. "Das ist doch der falsche Ort. Der Künstler will ja nur provozieren!" Der Gekreuzigte mitten in der Welt von Akten. Unsichtbar umgeben von Terminplanern und Prospekten. Nur eine Wurfweite vom Papierkorb entfernt. Beliebig und vervielfältigbar. Alltäglich unter Alltäglichem.
Steffen Martins, der Künstler, hat seiner Plastik den Namen "Der Angeheftete" gegeben. In unseren Ohren schwingt dazu gleich auch "Der Abgeheftete", der zu den Akten gelegte mit. Der, mit dem wir fertig sind. Der abgelegt wird, wenn er nicht gleich im Reißwolf landet.

Natürlich ist die Botschaft des Künstlers provozierend. Er will sagen: Ihr habt euch an den Anblick des Gekreuzigten gewöhnt. Ihr könnt über ihn hinweg zu Tagesordnung übergehen. Seine Schmerzen, seine Qualen, sein Opfer regen euch schon gar nicht mehr auf. Höchstens noch am Karfreitag. Für euch ist es wichtiger, euren Alltag zu bestehen. Auch wenn wir den Aktendeckel zuschlagen, geht das Leben weiter. Ja, es muss doch weitergehen. Wir haben doch gar keine Wahl.

Natürlich: Vor dem Anblick von Leiden bleiben wir nicht verschont. Tagtäglich werden sie uns vom Fernsehen ins Haus geliefert. Vom Hunger ausgezehrte und ausgemerkelte Menschen im Ogaden in Äthiopien. Zerfetzte Leiber. Vom Leid überwältigte Angehörige an den Gräbern der Opfer in Tscheteschenien. Das ist Karfreitag. Golgatha - mitten unter uns. Und wir gewöhnen uns daran. Die gräßlichen Bilder und die schrecklichen Nachrichten werden zu einem Teil unserer Welt. Die nächste Katastrophenmeldung lässt nur noch für einen Moment aufhorchen. Dann legen wir sie zu den Akten - ein für allemal!

Eine unübersehbare Spur von Kreuz und Passion zieht sich durch die Geschichte der Menschheit bis hin zu jenen drei Kreuzen vor den Stadttoren von Jersaulem. Wir haben und an ihren Anblick gewöhnt. Sind abgestumpft. Regen uns nicht mehr auf. Nicht einmal mehr darüber, dass da einer geopfert wird.

Das Unfassbare wird eingeordnet. Eingefasst. Manchmal sogar in Silber - wie ein Edelstein. Das Kreut, der Galgen des römischen Weltreiches, als Talisman an einer Kette um den Hals. Es hat mich vor vielen Jahren einmal sehr betroffen gemacht, als ich von einem asiatischen Christen zu hören bekam: "Ihr Christen in Europa tragt das Kreuz so, wie die Geschäftsleute bei uns in Hogkong ihre schwarzem Aktenkoffer." Ganz Unrecht hat er damit nicht.

Jesus hat etwas anderes gemeint und gelebt. "Wer unter euch der erste sein will, der sei euer aller Diener." Das hat Jesus einmal zu seinen Jüngern gesagt, als sie dabei waren, sich um Ehrenpositionen im Himmel zu reißen. Vielleicht müssten wir die Schürze als Zeichen des Dienens wieder neu empfehlen, wie damals, als Jesus seinen Freunden die Füße wusch.

Den anstössigen, den provozierenden Jesus müssen wir festhalten - gerade am Karfreitag. Hier - auf dem Bild - hat einer den Gekreuzigten festzuhalten versucht - auf seine Weise. Nicht als Schmuckstück, das man tragen und dann wieder ablegen kann.

Der Künstler möchte uns daran erinnern, dass wir diesen Jesus - den, der für uns eingetreten ist - festhalten. Ihn nicht ablegen und damit verlieren. Auch nicht über unsere vielfältigen alltäglichen Geschäftigkeiten. Er möchte sich ihn nicht aufsparen für Sonntag und Karfreitag.

Es ist gerade diese Gestalt, dieser Jesus, der alles zusammenhält wie eine Klammer. So wie die Arme des Gekreuzigten auch den Riss überspannen, der mitten durch die Tontafel geht.

Kein Leben gibt es, durch das sich nicht solche Risse ziehen. Versagen. Misserfolg. Vergebliche Träume. Ja auch der gewaltige Riss, der alles durchtrennt: der Tod. Doch wir wissen - auch am heutigen Karfreitag - dass der Tod nicht der endgültige Riss durch unser Leben ist. Mitten im Angesicht des Todes haben wir schon eine Ahnung von Ostern.

Wer immer die Jesus-Aktes auf dem Bild zu schließen versucht - er wird nicht verhindern, dass die Beine des Angehefteten immer noch ein Stück weit herausschauen. - als ein Merkzeichen, als ein Stück, das immer übrig bleibt, um sich daran festzuhalten. Ein für allemal!

Jesus, der Christus Gottes - das ist die Möglichkeit, uns an Gott und am Leben festzuhalten - mitten in unserem Alltag - sogar mitten im Tod.

Am Angefteten können wir uns selber anheften. Können wir uns festmachen. Können wir alle uns konfirmieren lassen. Nichts anderes als festmachen bedeutet ja das Wort konfirmieren.

Christus ist das allgegenwärtige Merkzeichen des Lebens. Der, der uns immer wieder neu konfirmiert. Die verbindende Brücke ist er zwischen Himmel und Erde. Zwischen Gott und Mensch. Zwischen mir und dir.

Längst hat der Angeheftete den Tod als Lügner überführt. Wenn man die Plastik umdreht, wenn man also auf die Rückseite dieser Todesakte des Angehefteten schaut, steht da zu lesen: ER LEBT! Und weil er lebt, geht er mit uns. An unserer Seite! Uns zugut. Ein für allemal. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.