Predigt über Lukas 1,67-79
gehalten am Sonntag, den 3. Dezember 2000 (1. Advent)
in der evangelischen Kirche in Gundelfingen

03.12.2000

Endlich wieder Advent, liebe Gemeinde. Endlich wieder Zeit für täglich neu geöffnete Türen. Zeit für einen Neuanfang! Advent muss sein, damit es Weihnachten werden kann. Das ist im Kirchenjahr so, das neu beginnt mit diesem heutigen ersten Sonntag im Advent. Und schon in drei Wochen - nach der kürzest möglichen Zeitspanne - wird diesen Kirche in den Gottesdiensten des Heiligabends wieder bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten gefüllt sein. Der Weg zum Fest der Geburt Christi führt über die Tage des Advent.

Dass das Fest der Weihnacht einen adventlichen Vorlauf hat, das gilt nicht nur für das Kirchenjahr. Das können wir auch schon bei den biblischen Texten beobachten. So beginnt auch das Lukas-Evangelium nicht gleich mit seinem wohl berühmtesten zweiten Kapitel. Am Anfang stehen - kunstvoll miteinander verflochten - zwei Berichte adventlicher Erwartung. Maria und Elisabeth, die beiden Cousinen, sind die Hauptdarstellerinnen, Zacharias und Josef die beiden Hauptdarsteller.

Gleich zweimal erscheint der Engel des Herrn, um die Geburt eines Kindes anzukündigen. Und beide Male sind die Angesprochenen überrascht. Schließlich ist die eine der beiden Frauen - Elisabeth - eigentlich zu alt. Und Maria, die andere, noch viel zu jung und mit ihrem Josef noch nicht in einer legalisierten Beziehung verbunden. Zacharias, dem einen, verschlägt es die Sprache, so sehr, dass er über die Zeit der Schwangerschaft seiner Frau nicht reden kann. Josef, der andere, so beschreibt es zumindest Matthäus, hätte sich am liebsten aus dem Staub gemacht, wenn ihn nicht der Engel Gottes davon abgehalten hätte.

Sechs Monate liegen die Geburtsage des adventlichen und des weihnachtlichen Kindes auseinander. Am 24. Juni ist alljährlich Johannestag. Am 24. Dezember feiern wir die Geburt Christi. Und beide mal geht es um Erinnerung des Glaubens, nicht um historische Datumsgenauigkeit.

Jesus und Johannes sind nach den Berichten des Lukas von Anfang an miteinander verbunden. Beiden ist ein Weg in die Wiege gelegt, der sie gewissermaßen heraushebt aus der unendlichen Vielzahl möglicher Lebenswege, die tagtäglich ihren Ausgang nehmen.

Die vorgeburtliche Würdigung Jesu wird Maria in den Mund gelegt. Sie alle kennen jenen schönen Text, der nach dem ersten Wort seiner lateinischen Übersetzung den Namen "Magnificat" trägt: "Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes." Ein Lied von gewaltiger Aussagekraft und zugleich von anrührender Direktheit und Schönheit: "Die Gewaltigen stürzt er vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungrigen macht er satt mit seinen Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen." Herodes hat schon gewusst, warum er sich in Acht zu nehmen hat vor diesem Kind.

Das zweite adventliche Lied wird nach der Geburt des Johannes gesungen. Genau dann, als Zacharias seine Sprache wieder findet. Nach der Geburt des einen und vor der Geburt des anderen - geiwssermaßen also zwischen den Zeiten. Noch im Alten und schon im hereinbrechende Neuen. Zwischen dem "jetzt noch" und "schon nicht mehr".

Die Zeit dieses Liedes des Zacharias, diese Zwischenzeit, das ist die Zeit des Advent. Advent ist Zwischenzeit. Einbrechend in unser geschäftiges Treiben und zur Einkehr, ja zur Umkehr mahnend. Zugleich aber auch schon bestimmt und beglänzt von jenem Fest, an dem die adventliche Erwartung ans Ziel kommt. Advent ist überhaupt nur auszuhalten, weil wir wissen, dass es dann bald auch unaufhaltbar Weihnachten wird.

Das adventliche Lied des Zacharias soll heute im Mittelpunkt des Gottesdienstes stehen. Es ist der vorgeschlagene Predigtext. Auch dieses Lied verdankt seinen Namen dem ersten Wort seiner lateinischen Übersetzung. Es ist das sogenannte "Benedictus". Dabei sind sie heute nicht nur eingeladen, den Predigttext zu hören. Sie können ihn heute auch im Wechsel miteinander sprechen. Und da in den vorweihnachtlichen Berichten des Lukas das spannungsreiche und spannende Zusammenspiel von Frauen und Männern eine so wichtige Rolle spielt, werden wir diesen Text auch nicht im Wechsel von Liturg und Gemeinde lesen wie den Eingangspsalm, sondern im einander ergänzenden und auf einander angewiesenen Wechsel von Frauen und Männern. Sie finden den Lobgesang des Zacharias, das Benedictus, in ihrem Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 778:

- Sprechen des Benedictus
im Wechsel von Frauen und Männern -


" ... und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens!" Allein schon diese letzte Bitte überbrückt die Distanz zwischen Zacharias und uns. Zwischen damals und jetzt. " ... und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens!" Diesen Satz sollte man eigentlich unter jede Seite unserer Tageszeitungen schreiben - so wie die Warnungen der EG-Gesundheitsminister auf den Zigarettenschachteln.

Die Atlanten der Wege des Unfriedens werden immer dicker. Und die Wege des Friedens immer schwerer begehbar. Da schien in Israel-Palästina der Frieden so greifbar nah. Man redete miteinander, verhandelte und schien dem Frieden einen Ort und ein Datum geben zu können. Es war Friedens-Advent und eine Zeit großer, begründeter Hoffnungen. Bis diejenigen, die auf beiden Seiten diesen Frieden nicht wollten, mit ihren gegenseiten Provokationen das zerstörten, was jeglichen Frieden erst ermöglicht: nämlich das gegenseitige Vertrauen. Und das Friedenslicht aus Bethlehem, das wir in zwei Wochen auch wieder in Freiburg in Empfang nehmen werden - es kommt in diesem Jahr aus einer Region, für die der Friede wieder in weite Ferne gerückt ist. Doch ohne Frieden im Nahen Osten steht auch unser Frieden auf tönernen Füßen.

" ... und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens". Da hielten wir uns für eine Insel der Seligen; hielten unsere Rinder für gefeit gegenüber den Gefahren, die ausgehen von einem schöpfungsunwürdigen Umgang mit Tieren, die nur noch als Ware von Interesse sind - und wie ein Nebel legt sich mit einem Mal die diffuse Angst vor den tödlichen Folgen des eigenen Tuns auf die unsere Ernährungs- und Lebensgewohnheiten. Ohne Rücksicht auf Tiere und Pflanzen können wir den Weg des Friedens nicht gehen.

" ... und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens." Da haben wir ernsthaft geglaubt - oder aufgrund böser Erfahrungen doch zumindest heimlich gehofft - den Menschen bliebe zumindest doch das menschliche Leben heilig. Und mit Entsetzen lesen wir, dass in unserem Nachbarland ein Gesetz verabschiedet wird, das den Ärzten aktive Sterbehilfe erlaubt. Und wenn es noch so vernünftig ist und scheinbar oder zurecht menschlichem Willen entspricht: Der Grat zwischen wohlgemeinter Verminderung von Leiden und menschlicher Selbstüberschätzung ist unendlich schmal. Wir übernehmen uns, wenn wir uns zumuten, über Leben verfügen zu können.

Aushalten können, dass wir leben in aller Vorläufigkeit, in aller Unfertigkeit, ja auch in aller Ungewissheit im Blick auf das, was auf uns zukommt - dies aushalten können im Vertrauen auf die Zusage: "Ich will hinfort die Erde nicht mehr zerstören!" Und "Ich will bei euch wohnen" - eben dies ist Advent.

Die Zeit des Zacharias und die Zeit der Maria - das war nicht weniger als bei uns eine Zeit besonderer Erwartung. Politisch von den Römern gedemütigt. Religiös in einer Phase der Aufsplitterung in einem nicht mehr zu überblickenden Richtungsstreit. Lokal unter der Herrschaft des Herodes, der um die Gunst des Volkes buhlte, ohne Aussicht, je einer von ihnen werden zu können. Nicht einmal durch die von ihm initierten große Baumaßnahmen am Tempel.

Die Gegenwart drohte den Menschen durch die Finger zu gleiten. Vergeblich suchten sie eine neue tragende Grundlage, ein neues System stabilisierender Werte für die Zukunft. Da reagieren diese Zeitgenossen von Maria und Zachrias genauso wie viele es heute auch wieder tun. Sie suchen die rettenden Ideen in der Vergangenheit. In den Zeiten des glorreichen Königs David. Und sie halten sich fest an der Hoffnung auf einen neuen Sproß aus jenem Stamm. Ja, selbst auf den Bund Gottes mit dem Stammvater Abraham wird Bezug genommen, um weniger ängstlich die Schritte in die Zukunft gehen zu können.

Und all diese Hoffnungen bündeln sich in der Erwartung des Gesalbten Gottes. Er würde dem Tempelkult und der Gottesfurcht neue Nahrung und den Römern zugleich den Abschied geben.

In diesem Milieu, in diese Mixtur, diesem Cocktail von Stimmungen und Erwartungen hinein werden Johannes und Jesus geboren. Diese Stimmung ist der beste Nährboden des Advent. Aber Advent ist nicht diffuse, sondern konkrete Erwartung. Ist nicht vage Hoffnung, sondern begündete Aussicht auf bessere Zeiten. Der Advent legt frei, worauf es ankommt, und wofür es sich zu leben lohnt.

Das, wonach wir uns sehnen, ist längst Gegenwart. Das, wovor uns graust, ist längst mit dem Datum des Verfalls versehen. Nein, natürlich sieht auch unsere Welt - zweitausend Jahre nach jenem ersten Advent - noch nicht so aus, wie wir sie uns wünschen. Schon gar nicht so, wie sie nach Gottes Willen sein soll.

Aber wir feiern Advent nicht ohne Aussicht. Wir feiern Advent, indem wir mit Zacharias singen: "Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk." Aber hier müssen wir noch einmal einhalten auf dem schmalen Weg der Hoffnungen damals und unserer Hoffnungen heute. Die Zusagen Gottes, die uns Zukunft schenken sollen im Reich seines Christus, gelten nicht uns zuallererst. Wir sind gewissermaßen hineingenommen in jene Hoffnungs- und Glaubensgemeinschaft, der das Kind in der Krippe selbst entstammt. Und deren Lebenslichter immer und immer wieder zu verlöschen drohten und denen millionenfach der Garaus gemacht wurde.

Dass auch wir noch Hoffnung haben - dass wir Advent feiern können: Gottes Gabe ist es! Fest verankert in jener Krippe, auf die sich unsere Blicke bald wieder richten.

Uns bleibt, uns hineinzunehmen zu lassen in die Aufgabe des Johannes. Bereit zu sein für dieselbe tröstliche Inanspruchnahme des "Benedictus":

Auch ihr sollt dem Herrn vorangehen,
um der Guten Nachricht den Weg zu bereiten
durch die herzliche Barmherzigkeit unsere Gottes,
durch die uns besucht hat
das aufgehende Licht aus der Höhe,
damit es erschiene denen, die da sitzen in Finsternis
und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.


Die Türen des Friedens stehen tagtäglich auf‚s neue offen. Es ist höchste Zeit für den Advent.

Und der Gott, der unsere Füße richtet
auf alle Wege des Friedens,
bewahre euren guten Gedanken
und eure Herzen und Sinne
in Jesus, dem Grund und dem Garanten
unserer adventlichen Hoffnung.
Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.