Predigt zum Lied "Es kommt ein Schiff geladen" (EG 8)
gehalten am Sonntag, den 9. Dezember 2000 (2. Advent)
in der Zachäusgemeinde Freiburg

10.12.2000

Liebe Gemeinde!

Am 15. Juni des Jahres 1361 starb im Nonnenkloster Sankt Nikolaus zu den Unden in Straßburg der Dominikanermönch Johannes Tauler. Sein Grabstein ist bis heute in der Predigerkirche aufgestellt. Auf ihm könnten die Worte stehen, die man schon zu Lebzeiten über Johannes Tauler vernehmen konnte: "Gott wohnt in ihm als ein süßes Saitenspiel!"

Es hat gute adventliche Gründe, warum ich heute an Johannes Tauler erinnere. Im Evangelischen Gesangbuch finden sie unter der Nr. 8 ein Adventslied, das zu den ältesten und schönsten Liedern in unserem Gesangbuch überhaupt gehört. Nämlich das Lied: "Es kommt ein Schiff geladen". Unter den Strophen steht (groß) T, das bedeutet Text: Daniel Sudermann um 1626.

Diese Angabe ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Denn Daniel Sudermann, ein Anhänger von Johannes Tauler gut zwei Jahrhunderte später - er hat diesen Text nicht geschrieben, sondern im Jahre 1626 zwischen uralten Manuskripten des Johannes Tauler gefunden. Er hat ihn dann veröffentlicht mit der Bemerkung: "Ein uralter Gesang, gefunden unter den Schriften des Herrn Tauler, etwas verständlicher gemacht." Im alten Gesangbuch hat man auch Johannes Tauler noch unter dem Lied genannt. Im neuen wird er nicht mehr erwähnt. Auch darum möchte ich heute mit dem Nachdenken über dieses Lied auch an Johannes Tauler erinnern.

Natürlich soll es beim Nachdenken nicht sein Bewenden haben. Wir wollen dieses Lied auch immer zweistrophenweise miteinander singen und beginnen zunächst mit den ersten beiden Versen:
    EG 8,1+2
Ein Schiff "geladen bis an sein‚ höchsten Bord!" Diese Beschreibung, in der Bildersprache des Liedes auf ein Schiff bezogen, löst andere, weitere Bilder in uns aus: Beladen sind die Einkäuferinnen und Einkäufer, die sich an den verkaufsoffenen Samstagen einen Weg durch die Masse der Menschen bahnen, um die vorweihnachlichen Einkäufe hinter sich zu bringen.

Beladen sind, auf wiederum ganz andere Weise, die Menschen heute zunächst einmal eher mit Sorgen. Mit großen und kleinen. Mit ausgesprochenen und unausgesprochenen. Beladen sind wir - gerade auch in der Adventszeit - mit vielem, was uns auch sonst zu schaffen macht und auf der Seele liegt: Ungeklärtes, Unerledigtes - Belastendes im wahrsten Sinne des Wortes.

Beladen kommt auch dieses Schiff daher, von dem wir im Lied eben gesungen haben. Der gebürtigen Straßburger Johannes Tauler wird mehr als ein Schiff auf dem Rhein fahren gesehen haben, auch wenn der Rhein damals noch nicht in vergleichbarer Weise schiffbar war wie heute. Denn auch in Köln, wo er Philosophie und Theologie studiert hat, wie in Basel, wo er sich gezwungenermaßen für einige Jahre niederließ, prägte genauso wie in Straßburg eben der Rhein das Stadtbild entscheidend mit. Und über dieses Schiff, das ihm als Bild vor Augen stand, schreibt er:

    "Trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
    des Vaters ewigs Wort.
Lesung: Johannes 1, 1+2+4

"Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. In ihm war das Leben, und von seiner Fülle haben wir alle genommen, Gnade um Gnade."

Gottes Sohn getragen in ihrem eigenen Leib - das hat nach dem Glauben unserer Kirche in Wahrheit nur eine einzige: Maria, die Mutter Jesu. Das Lied vom Schiff - es ist in Wahrheit ein altes Maienlied. Verwundern braucht uns das nicht. Schließlich hat Johannes Tauler den größten Teil seiner Arbeit in Frauenklöstern zugebracht. Und gerade dort war die Marienfrömmigkeit besonders verbreitet.

Still treibt dieses Schiff auf dem Wasser dahin.
    "Das Segen ist die Liebe.
    Der heilig Geist der Mast."
Schon in der zweiten Strophe weitet sich die Botschaft dieses Liedes über die Marienverehrung hinaus. Spricht es plötzlich von einem ganz anderen Schiff: vom Schiff der Kirche, das des "Vaters ewigs Wort" durch die Jahrhunderte hindurch in die Welt trägt. Denn wo anders sollte die Liebe das Segel sein, getragen vom Mast des heiligen Geistes.

Zu Lebzeiten Taulers war dieses Schiff nicht ohne Grund und auch nicht ganz freiwillig zu stillerer Fahrt gezwungen. Zwei Fürsten stritten sich um die Kaiserwürde: Ludwig der Bayer und Friedrich der Schöne. Der Papst stand damals auf der Seite des letzteren. Über die Gebiete, die den Bayern anerkannten, verhängte er den Bann. Wir können uns kaum vorstellen, was das für die Menschen damals bedeutet hat: Das religiöse Leben brach zusammen. Das gottesdienstliche Leben war untersagt. Lediglich die Sterbesakramente durften noch gereicht werden.

Straßburg war kirchlich gesehen auch schon damals ein Unruheherd. Und ist es bis in reformatorische Tage und darüber hinaus geblieben. Die Anordnungen des Papstes wurden außer Kraft gesetzt. "Fürbass singen oder aus der Stadt hinaus springen!" - Gottesdienst halten oder die Stadt verlassen. Vor diese Alternative gestellt wählte Johannes Tauler die Flucht und lebte für ein Jahrzehnt in Basel.

Dort schenkte man dem Verbot des Papstes Beachtung uns schwieg. Das Kirchenschiff mit der "teuren Last" - es ging eben wirklich "still im Triebe". Doch das Segel der Liebe konnte nicht eingeholt und der Mast des heiligen Geistes nicht aus der Verankerung gerissen und über Bord geworfen werden.
    EG 8,3+4
Mit einem Mal ist es aus mit der stillen Triebsamkeit. Das Schiff geht vor Anker. Die kostbare Ladung kommt von Bord. Und mit einem Mal wechselt das Lied seinen Charakter. Das Bild wird aufgegeben zugunsten der Wirklichkeit, die es beschreibt.
    "Das Wort will Fleisch uns werden,
    der Sohn ist uns gesandt."
Lesung: Johannes 1,14 und Philipper 2,6+7

"Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit, die ihm der Vater gegeben hat als seinem einizigen Sohn, voller Gnade und Wahrheit. Denn obwohl er in göttlicher Gestalt war, behielt er seine Göttlichkeit nicht für sich wie ein Räuber seine Beute, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an und wurde den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt."

Wie aus dem Marienlied ein Lied über die Kirche wird, so wandelt sich der Charakter des Liedes von adventlicher Erwartung zu weihnachtlicher Erfüllung:
    "Zu Bethlehem geboren
    im Stall ein Kindelein.
    Gibt sich für uns verloren.
    Gelobet muss es sein."
Gott wird Mensch! Die Fülle geht ein in die Begrenztheit unserer Lebensverhältnisse. Das Leben selber tut sich kund in der Lebendigkeit eines kleinen Kindes. Was uns oft nicht einmal mehr aufhorchen lässt, war für die Menschen damals eine un-erhörte, eine noch niemals gehörte Wahrheit. Kaiser wurden vergottet - aber doch nicht kleine Kinder.

In weihnachtlichen Geschehen machen nicht die Großen Geschichte. Nicht die Männer und die Macher. Ein kleines Kind. Eine unverheiratete junge Frau. Der Inhaber einer Absteige. Rauhe Gesellen, die auf anderer Leute Schafe aufpassen. Ja sogar ein Ochs und ein Esel - sie konnten nicht einmal ahnen, dass wir uns an sie erinnern. Bis heute.
Der große Gott erweist sich einmal mehr als Gott der kleinen Leute. Will nicht auf der Seite der Sieger stehen. Wird, was wir alle einmal waren: ein Kind. Und darum schließt die vierte Strophe mit der Aufforderung:
    "Gelobet muss es sein!"

    EG 8,5+6
Man muss nur einmal durch unsere Innenstadt und durch unsere Kaufhäuser gehen. Dann sehen wir: Bei uns hat die süßliche Weihnacht Konjunktur. Dem Kind in der Krippe haben wir ein Dauerlächeln aufgesetzt. Nur schwer kann es sich noch wehren gegen unsere Vereinnahmungsversuche. Kinder sind eben herzig. Auch das Kind in der Krippe.

Johannes Tauler kann uns heraushelfen aus dieser einseitigen Sicht der Weihnacht. Die Schatten des Karfreitags fallen bereits in den Stall von Bethlehem. Johannes Tauler weiß: Dieses Kind ist nur von seinem Ende her zu begreifen.

Hier ist der Liederdichter in seinem ureigensten Element. Johannes Tauler ist Mystiker. Darum ist für ihn klar: Das Leid dieses Kindes muss sich niederschlagen in der Tiefe unserer Seele. Anders können wir nicht frei dazu werden, die Erfahrung der Auferstehung am eigenen Leibe nachzuvollziehen. Unser Leben muss dem Leben des Kindes ähnlich werden:
    "... muss vorher mit ihm leiden
    groß Pein und Marter viel."
Davon hören wir in den meisten anderen Weihnachtslieder nichts. Im Leben des Johannes Tauler war der Tod allgegenwärtig. So etwa auch in seiner Straßburger Zeit. Allein im Jahre 1348 fielen dort 16.000 Menschen der Pest zum Opfer. Die Menschen damals wussten sehr wohl, was Leid bedeutet. Wie unbarmherzig der Tod oft eingreift in unser Leben. Am Ende bleibt er ohnedies keinem erspart.

Aber Johannes Tauler meint noch einmal etwas anderes. Er glaubt an die Überwindung des Todes schon jetzt. In diesem Leben. In er Anteilhabe am Tod und an der Auferweckung der teuren Last dieses Schiffes.

Lesung: Römer 6,3+4

Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft. So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit - wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters - auch wir in einem neuen Leben wandeln."

Neues Leben - das wird uns auf‚s neue zugesagt in diesen Tagen des Advent. Und "ewiges Leben" dazu. Nachzulesen und zu singen in der sechsten Strophe des Liedes. Abzulesen hoffentlich auch in unserem Leben. Heute. Jetzt. Und immer.

Für Maria ist nichts beim Alten geblieben, seit sie dieses Kind getragen hat. Aber Maria hat viele Schwestern - die Mutter in einem palästinensischen Flüchtlingslager, die ihren Sohn in der Intifada verloren hat. Die Mutter in Tel Aviv, die dieses Schicksal mit ihr teilt. Die Flüchtlingen ohne Zahl und für uns oftmals ohne Namen, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren und wo sie ihr nächstes Kind zur Welt bringen sollen.

Wirklich - für Maria ist nichts beim Alten geblieben, seit sie dieses Kind getragen hat. Ihre Schwestern und ihre Brüder in unseren Tagen sind darauf angewiesen, dass einer oder eine ihnen ihre Last tragen hilft, damit auch für sie nicht alles beim Alten bleiben muss.

Anders kann es nicht gelingen, als dass der den Himmel zerreißt und lebendig ist unter uns, der zu uns kommen will und uns zum Singen bringen will. Jeden Tag neu. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.