Predigt über 2. Korinther 6,1-10
gehalten am Sonntag, den 12. März 2000 (Invocavit)
in der Pauluskirche Freiburg
anlässlich des Tags der Stadtmission

12.03.2000
- Kanzelgruß -

Liebe Festgemeinde am Tag der Stadtmission,
liebe Schwestern und Brüder!

Manchmal wünsche ich mir, der Apostel Paulus lebte noch mitten unter uns. In einer Welt -voll von widersprüchlichen Angeboten auf dem bunten Markt der Religion - wäre er ein Felsder Wahrheit. In der Brandung der Beliebigkeiten könnten wir von ihm aus erster Handerfahren, worauf es am Ende für uns wirklich ankommt zwischen Himmel und Erde. Ob fürden Dialog zwischen Juden und Christen oder für das Gespräch zwischen Theologie undPhilosophie - von Paulus könnten wir lernen, wie wir als Gesprächspartner auchernstgenommen und gehört werden. Wäre Paulus unter uns, es fiele uns leichter, unsglaubwürdig zu den Themen und Fragen zu äußern, die die Menschen beschäftigen.

Paulus unter uns in diesen Tagen - er wäre ein gefragter Mann. Vor lauterGesprächsangeboten, Interview-Wünschen und Anfragen nach der Bereitschaft zur Mitwirkungin Talkshows käme er kaum noch dazu, seinem Textilgewerbe nachzugehen, geschweige denn zupredigen. Anfragen von Kirchen aus nah und fern hätte er zu beantworten. Und ich binsicher, er hätte keine Probleme damit, seine Briefe auch per fax und email zu sendenund zu verbreiten.

Grund zur Dankbarkeit ist es allemal, dass wir bis heute die Möglichkeit haben, dieBriefe des Apostels Paulus - geschrieben vor fast 2000 Jahren - zu lesen und uns dabeiimmer wieder neue, unverhoffte und überraschende Einsichten schenken zu lassen. Auseinem seiner zahlreichen Briefe an die Gemeinde in Korinth - es waren sicherlich mehrBriefe als nur zwei - stammt der Predigttext für den heutigen Sonntag "Invocavit", derSonntag, mit dem wir den Beginn der Passionszeit feiern.

Im sechsten Kapitel des zweiten Korintherbriefes nach unserer Zählung stehen in denVersen 1-10 jene Worte, über die heute in den Kirchen gepredigt wird. Und hätte ichdie freie Textwahl gehabt für die Predigt an diesem Tag der Stadtmission, ich wärewomöglich auch zu diesem Text geführt worden, der wie kein anderer geeignet ist,Gottes Gute Nachricht an diesem Tag und für diesen Tag weiterzugeben. Hört, was derApostel Paulus an die Gemeinde in Korinth schreibt:

- Textverlesung (Luther 85) -

Segne, Herr, unser Reden und Hören und verwandle uns durch deinen heiligen Geist.Amen.
Paulus, der Apostel, der alle überragt. Der eine Zeitansage wagt von höchsterGenauigkeit, liebe Gemeinde. Und zugleich eine von unüberbietbarer Aktualität."Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe jetzt ist der Tag des Heils."

Paulus zitiert ein Wort aus dem Buch des Propheten Jesaja. Aber er spricht nicht vonGottes Heilshandeln in der Vergangenheit. Er spricht von Gottes Gegenwart damals undjetzt. Und geht man nur wenige Verse zurück in das fünfte Kapitel des zweitenKorintherbriefes, dann ist man bei der Basis, von der aus wir die Aussagen des Paulusim Predigttext her verstehen können. Dort heißt es und wir alle kennen dieses Wort:"Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen;siehe, Neues ist geworden."

Dieses Neue anzusagen, das ist die Aufgabe des Amtes, das die Versöhnung Gottesausrufen soll über die ganze Welt: "So sind wir nun Botschafter an Christi Statt." Und in seinem Namen bitten wir: "Lasst euch versöhnen mit Gott!"

Dieser Paulus ist so recht nach unserem Geschmack. Einer, der allein schon durch seineBriefe das Geschick einer Gemeinde durch schwieriges Fahrwasser leiten kann. Einer, der -wie er sagt - "nichts hat" und doch "alles hat". Nicht zuletzt auch dieAnerkennung seiner Autorität durch die Empfänger seines Briefes. Kein Wunder also, wennwir uns die Vorstellung fasziniert, der Apostel Paulus lebte und wirkte mitten unter uns.

Aber machen wir es uns nicht allzu leicht. Paulus hatte einen unglaublich schweren Stand,als er die Verse des heutigen Predigttextes geschrieben hat. Seine Position in Korinthwar angeschlagen. Seine Position in Frage gestellt. Gut, "seine Briefe wiegenschwer", heißt es in Korinth. "Aber wenn er selbst anwesend ist, ist er schwachund seine Rede kläglich." So urteilt man in Korinth über den Predigtextschreiberdes heutigen Sonntags.

Paulus - der Apostel schlechthin - hier ist er in der großen Krise seines Lebens. KeinRuhm ist wirklich groß genug, dass er nicht sehr schnell auch wieder verblassen könnte.Das lehren uns nicht nur die Vorgänge aus der Politik der letzten Monate. Das war auchdamals schon so in Korinth. Einer Welt ohne Massenmedien. Zugleich aber einer Welt, inder wie heute Menchliches und Allzumenschliches die Regeln bestimmte. Da hat dieseGemeinde dem Paulus doch wirklich alles zu verdanken. Und schon kurz drauf ist sienicht gefeit vor Menschen, die Paulus ironisch nur als Über-Apostel charakterisierenkann.

Was haben diese Über-Apostel, das ihre Botschaft attraktiver macht als die des Paulus?Was suchen und finden die Menschen auch heute allenthalben bei religiösen Anbieternaller Art, dass sie bereit sind, von der Kirche fort und diesen nachzulaufen? Schauenwir, was man an Paulus zu mäkeln und zu kritisieren hat in Korinth. Kein glühenderRedner sei er. Er vollbringe keine Machttaten. Ja, er verzichte sogar darauf, sichvon der Gemeinde versorgen zu lassen und erwirtschafte sich seinen Lebensunterhaltselber - aus der Sicht seiner Gegner nichts anderes als ein Zeichen des Kleinglaubens.

Es ist im Grunde nichts anderes als die Nüchternheit seines Glaubens, die man ihmvorwirft. Das Auseinanderklaffen zwischen der Botschaft, die Paulus ausrichtet, aufder einen und der Wirklichkeit der Welt - so wie sie ist - auf der anderen Seite.Die Kontrahenten des Paulus in Korinth, das sind Menschen, die die Spannung zwischendem schon jetzt und dem noch nicht, einfach nicht aushalten wollen - oder nichtaushalten können. Kein "auf Glauben hin", sondern alles schon jetzt und sofort.Sie suchen den Glauben als Massenereignis. Sie suchen die Anerkennung der Menschen.Sie suchen den Erfolgstyp, den nichts mehr aus der Bahn werfen kann. Der die Weltund seinen Glauben im Griff hat.

Paulus passt nicht in dieses Schema. Der Zeuge Gottes in der Existenz derZerbrechlichkeit ist nicht gefragt. Wer wie Paulus Apostel sein kann nur "ingroßer Geduld, in Trübsal, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, inVerfolgung, in Mühen" - was hat der - so fragen seine Gegner - denn tasächlichzu bieten? Wahrer Glauben - so argumentieren sie - muss einfach umwerfend sein imwahrsten Sinn des Wortes. Muss die Lücken unseres Lebens schon jetzt ausfüllen. Darfsich nicht einmal mehr den Anschein geben, dass Gottes Welt in ihrer Fülle nochausstehe.

Die Botschaft, dass die Gegenwart schon zu bieten habe, was wir erst von der Zukunft,ja was wir eigentlich nur von Gott erwarten können - die kommt an. Power und eventsind gefragt, um es in heutiger Sprache auszudrücken. Man könnte auch sagen gewaltigeTaten und medienwirksamer, sogar unterhaltsamer Glaube. Paulus haben wir dann allerdingsnicht auf unserer Seite. Vor allem aber auch den nicht, den uns die kommenden Wochen derPassionszeit wieder neu vor Augen rücken wollen.

In einer Welt, die das hielte, was die Gegner des Paulus in Korinth den Menschenversprechen, hätte auch keinen Platz mehr für eine Evangelische Stadtmission - inFreiburg oder anderswo. Wo wir alle schon am Ziel sind, ist die helfende Hand nichtmehr gefragt. Wo alles schon erreicht ist, ist Zuspruch nicht mehr nötig. Wo alleAntworten schon gegeben sind, ist für unser Fragen kein Raum mehr. Wo wir diePassionszeit einfach übergehen können, kommt es auf den Gekreuzigten nicht mehr an.

Paulus ahnt die Größe der Gefahr. Und er gibt weder nach noch gibt er auf. Einenpersönliche Besuch in Korinth bricht er unvermittelt ab, weil die Methoden seinerGegner ihm unerträglich zusetzen und ihn verletzen. "Aus großer Trübsal, unterAngst des Herzens und unter Tränen" schreibt er jenen Brief, dem der heutePredigttext entnommen ist. Und er wagt - wie in seinen anderen Biefen - eine Offenlegungdessen, was den Glauben an den gekreuzigten und auferstendenen Christus in Wahrheitausmacht.

Der große Verkünder der Rechtfertigung allein aus Glauben, er scheut nicht einmaldavor zurück, all das aufzulisten, dessen er sich doch zurecht rühmen könnte; allerdingswie er schreibt "in Torheit und nicht dem Herrn gemäß". "Gerühmt muss werden", sogeht er auf seine Widersacher ein, "auch wenn es gar nichts nützt." "Wenn ich michdenn wirklich rühmen soll" - so lesen wir‚s in jenem 11 Kapitel des zweitenKorintherbriefes, "dann will ich mich meiner Schwachheit rühmen." JenerSchwachheit, in der Gottes Macht Allein Raum hat, sich zu entfalten.

Nur in dieser Form hat der Glaube Bestand. Nur so läuft er nicht Gefahr, dem nächstenSturm der Wirklichkeit zum Opfer zu fallen. Nur so kann er Menschen verändern - unddas schon seit zweitausend Jahren. Und Paulus füllt das "Haben, als habe man nicht", das wir schon aus dem ersten Korintherbrief kennen, mit den konkreten Erfahrungenseines Lebens: "Wir erweisen uns als Diener Gottes - als Verführer und doch wahrhaftig;als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben. Als dieTraurigen und doch allezeit fröhlich. Als die nichts haben und die doch alles haben."

"Welch eine Tiefe des Reichtums und der Erkenntnis" möchte ich dem Paulus mitseinen eigenen Worten zurufen. Wir brauchen mit unserem Glauben der Wirklichkeit nichtdavonlaufen. Wir können sie vielmehr aushalten und verwandeln. Wir werden durch denGlauben nicht in neue Abhängigkeiten geführt. Scghon gar nicht in die Abhängigkeit vonMenschen, die scheinbar nur so von jener großen Kraft strotzen, auf die wir manchmalso vergeblich warten.

Mit Paulus an den Gekreuzigten glauben und im Vertrauen auf seine Auferstehung dieunsere erwarten - solcher Glaube macht die Welt nicht nur erträglich. Da sind wir auchzur Mitgestaltung herausgefordert. Oder noch besser: eingeladen. Die vollmundigen Kritikeraus Korinth haben den Menschen eine Welt vor Augen gestellt, die ihrer Sehnsucht entgegenkam. Aber sie haben sie dadurch nicht besser machen können. Die rosaroten Brillen der korinthischen Über-Apostel sind vielfach in Lizenz weiterproduziert worden. Bis heute. Doch bestenfalls verschleiern und beschönigen sie die Wirklichkeit. Nicht anders wie eine Fata Morgana. Zum Greifen nah. Aber eben nicht mehr. Ein Spiegelbild urmenschlicher Sehnsucht - und doch nur ein Gebilde aus Luft

Auch der Glaube im Sinne des Paulus hebt die Wirklichkeit nicht einfach auf. Aber erhilft durch sie hindurch. Lässt uns erahnen, ja wissen, was Gott mit uns und dieserWelt noch an Gutem im Sinn hat. Wenn der Apostel Paulus auch nicht mehr mitten unteruns lebt - seine Worte können Glauben hervorrufen und stärken - bis heute an diesem Tagder Stadtmision 2000.
Darum lasst euch gegen allen Augenschein und wider alle Mächte des Bösen und imVertrauen auf die alle verwandelnde Kraft Gottes zurufen: "Siehe, jetzt ist dieZeit der Gnade. Siehe, jetzt ist der Tag des Heils." Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.