Predigt über Apostelgeschichte 8,26-39
gehalten am Sonntag, den 30. Juli 2000 (6. S. n. Tr.)
in der Christuskirche in Freiburg

29.07.2000

Liebe Gemeinde!

Reisezeit ist angesagt. Vor drei Tagen haben schließlich die Schulferien begonnen. Die alljährliche kleine Völkerwanderung hat längst wieder eingesetzt. Staumeldungen von der Autobahn und den Grenzübergängen. Unübersehbare Lücken zwischen den Zuhausegebliebenen. Auch am Sonntagmorgen in den Kirchenbänken.

Reisen ist in. Und durchaus auch gefährlich. Die Entführung auf Jolo und der Absturz der Concorde sind dafür nur die prominentesten Beispiele. Wer reist, will Abstand gewinnen. Will die Seele baumeln lassen, wie es so schön heißt.

Manchen ist es genug, sich tagtäglich träge an den Strand zu legen - wenn die Sonne es denn zulässt. Andere fügen der Sammlung erklommener Berggipfel täglich immer noch neue hinzu. Dritte wiederum definieren den Wert ihres Urlaubszieles nach Entfernung in Kilometern zum Heimatort. Dortgewesen zu sein, ist schon alles. Urlaub, als Unterbrechung der Arbeitsphasen, dient der Erholung. Reisen ist mehr.

Reisen heißt, sich einlassen auf Neues. Neugierig und mit offenen Augen eine andere Welt als die vertraute wahrnehmen. Reisen bedeutet Ausstieg auf Zeit. Andere Sprachen, andere Musik, andere Speisen, andere Landschaft. Andere Traditionen, andere Kulturen. Auch andere Erfahrungen im Blick auf die Religion. Manchmal überhaupt ganz andere Religionen.

Nirgendwo kann Religion stärker von neuem zum Zug kommen als eben auf einer Reise. In der Unterbrechung der gewohnten Alltagsrituale. Wer reist, merkt, dass es im Leben noch andere Dinge gibt als das tagtägliche Einerlei. Dass uns viel verborgen bleibt zwischen Himmel und Erde, weil wir zu geschäftig, zu sehr in Beschlag genommen sind, um wirklich noch einen Blick für anderes übrig zu haben.

Reiszeit - richtig genutzt - ist Zeit für das Wesentliche. Zeit uns zu entspannen. Zeit für die Pflege unserer Beziehungen - im horizontalen und im vertikalen Sinn. Reisen ist - auch wenn wir es so oft gar nicht wahrnehmen - Wendezeit im wahrsten Sinne des Wortes.

Von einem Reisenden handelt auch der Predigttext für den heutigen Sonntag, den sechsten nach dem Fest der Dreieinigkeit. Die Gründe für das gewählte Reiseziel liegen in diesem Fall eindeutig im religiösen Interesse. Da sympathisiert einer mit der Religion eines ganz anderen Kulturkreises. Auch dieses Phänomen ist heute nichts Ungewöhnliches. Der Zielpunkt fremder religiöser Faszination liegt heute von uns aus gesehen oft in östlicher Richtung. Die Hauptperson des heutigen Predigttextes hat es damals nach Norden gezogen. Hören Sie selbst auf jene bekannte Geschichte von einem, der auszog, um in Jerusalem zu beten.

    Vorlesung des Predigttextes
In der vergangenen Woche war in der Zeitung zum Abend ein Gespräch mit einem Urlaubsforscher zum Thema Erholung abgedruckt. "Ihr Urlaub kann 13 Tage lang daneben gehen", sagte der Wissenschaftler. "Doch wenn sie am vierzehnten Tag eine umwerfende Erfahrung machen, hat sich der Urlaub gelohnt."

Für den Finanzbeamten der Königin von Nubien - irgendwo im Bereich des Sudan und Äthiopiens gelegen - trifft dies sicherlich zu. Von eine Reisegeschichte mit Happy-end wird da berichtet. "Und er zog seine Straße fröhlich!"

Auf dem Hinweg nach Jerusalem mag zunächst anderes seine Gemütslage bestimmt haben. Das Bedürfnis, endlich einmal für einige Zeit der Verantwortung für die königlichen Geldgeschäfte entledigt zu sein. Die Erwartung der Ankunft in der Regional-Metropole Jerusalem. Die unbestimmte Sehnsucht nach religiösen Erfahrungen im Tempel Jahwes.

Allzuviel weiß er nicht von den religiösen Gepflogenheiten und Werten der dortigen Menschen. In Jerusalem wird er wieder ein Fremder sei. Ein Exot. Er gehört nicht dazu. Und als Eunuch hat er auch keine Möglichkeit, überhaupt jemals dazugehören. Das hatte man ihm schon bei früheren Gelegenheiten wissen lassen.

Aber an Faszination hat diese Religion für ihn nichts verloren. Ein prächtiger Tempel mit großartigen Ritualen und Opferhandlungen. Ein buntes Menschengemisch aus vielen Ländern der damals bekannten Welt. Eine Religion mit klaren Vorgaben. Und mit einem hohen ethischen Anspruch. Eine einzige Gottheit, die so ganz anders war als der himmlische Vielfalt in seiner eigenen Heimat.

Kein Wunder, dass es ihn immer wieder nach Jerusalem zieht. Dieses Mal hatte er sich eine besonderen Wunsch erfüllt. Er hat sich eine Devotionale mitgenommen. Eine Buchrolle. Nicht des Inhalts wegen. Davon versteht er ohnedies nicht viel. Es genügt ihm zu wissen: Dieses Buch ist ein heiliges Buch. Mit diesem Buch hat er einen Zipfel jener Wahrheit, die er nie so ganz würde erahnen oder gar verstehen können.

Ein Reiseandenken besonderer Art ist dies. Es kann helfen, etwas von der besonderen Atmosphäre Jerusalems nach Hause mitzunehmen. Mit dem Akzent des Fremdsprachigen liest er einen Abschnitt der Buchrolle laut vor sich hin. So einigermaßen versteht er, wovon die Rede ist. Seine vielen Reisen haben schließlich auch seinen Sprachschatz erweitert.

Die Rede ist von einem, dem der Erfolg versagt geblieben ist - von einem, dessen Leben nichts wert war. Manchmal, denkt der Reisende, ja manchmal, da geht es mir doch auch so. Einsatz bis an die Grenzen der eigenen Kräfte. Und der Erfolg, die Anerkennung bleiben aus. Oder es erntet sie ein anderer.

Er blättert weiter. Da sieht er den Mann am Straßenrand. Der reisende Kämmerer hat keine Eile. Er hat Zeit. Und die Reise ist noch weit. Eine Begegnung, ein gutes Gespräch bringt sicherlich Abwechslung. Er lässt anhalten und bietet dem Mann die Mitfahrt an. Kontakt mit Einheimischen. Auch davon würde er zu Hause stolz erzählen können.

Stolz zeigt er dem Mitfahrer sein Souvenir. Und liest ihm vor, was er eben gelesen hat. "Wie kannst du das verstehen, fragt sein Gesprächspartner?" "Verstanden hab‚ ich‚s auch nicht", gibt er zur Antwort. "Aber es hat mich angesprochen." "Kein Wunder", sagt sein Gesprächspartner. "Da ist von einem die Rede, der sich niemals zu schade war. Eigentlich wissen nicht, wer mit diesem Gottesknecht gemeint ist. Aber in seinem Ergehen finden wir uns aufgehoben. Weil Gott ihm seine Nähe nicht entzieht. Nicht einmal dann, als es für ihn um Leben und Tod geht."

Der Reisende in Sachen Religion denkt nach. "Es muss euch gut tun, euch der Nähe Gottes versichert zu wissen", sagt er dann. "Gott gleitet jedem durch die Hände", gibt ihm sein Gesprächspartner zur Antwort. "Niemals kannst Du seiner habhaft werden. Aber selbst als große Lücke spürst du ihn immer noch. Wenn du dich einmal aufgemacht hast auf den Weg zu Gott, suchst du immer wieder nach seiner Spur."

Erneut schweigt der Nubier. Dann sagt er: "Euer Gott ist der ganz andere. Nah und doch jenseitig. Euch zugewandt und doch so erhaben. Ist die Kluft nicht zu groß? Ist der Graben nicht zu breit zwischen seiner und eurer Wirklichkeit?" "Es gibt Brücken", sagt sein Gesprächspartner. "Für mich sogar die Brücke. Einen gibt es, in dem ist Gott ganz nah gekommen. Einer, der selber den Menschen nah gekommen ist. Selbst im Tod war seine Gegenwart - und Gottes Gegenwart in ihm - nicht aufgehoben."

Und der Kundige in Sachen Religion erzählt, was er weiß. Was er glaubt und wie er zweifelt. Er erzählt, was er noch wissen will. Und wie er selber jene Schrift, die sich der königliche Beamte erworben hat, noch einmal ganz neu verstehen gelernt hat. Von Jeschua erzählt er, dem guten Menschen aus Nazareth, in dem ihm Gott unüberbietbar aufgeleuchtet sei. Und er erzählt von der Möglichkeit dazuzugehören - gratis und ohne Anrecht. Einfach so.

Der Nubier wird hellhörig. Ja, dazuzugehören, das wär‚s. Verbunden sein mit anderen, die auf der Suche sind. Fündig zu werden, ohne immer wieder mit nie wirklich gestillter Sehnsucht nach Hause zu kommen. "Ja, ich will dazugehören", sagt er. "Habt ihr kein Zeichen dafür?" Und sein Mitreisender auf Zeit erzählt ihm von der Kraft des Zeichens des Wassers. Abtauchen und Auftauchen. Tot sein und lebendig werden. Das Alte Ablegen und Neu anfangen zu können.

"Wie unsere Vorfahren im Glauben lebendig aufgetaucht sind aus dem Wasser des Roten Meeres - genau so tauchen auch wir auf mit neuem Leben beschenkt. Durchs Wasser gezogen feiern wir das Leben."

"Hier ist Wasser", sagt der Reisende, der jetzt den Blick zum Fluss wendet. "Ich will durchs Wasser und dazugehören. Ich will auftauchen in eurer Mitte. Was sollte dagegen sprechen?"

Wer wollte dagegen sprechen, wo ein Mensch angezogen ist vom Zeichen der Taufe? Fröhlich entsteigt der Nubier dem Wasser. Und die umwerfende Erfahrung des vierzehnten Tages lässt die Reise nun endgültig lohnend werden. Nicht das heilige Souvenir; nicht der Kontakt mit den Einheimischen; nicht die erhebenden Tempelrituale haben der Reise ihren tieferen Sinn gegeben.

Es ist die Erfahrung dazuzugehören. Zu denen zu gehören, die verbündet sind durch das Zeichen des Wassers. Gezeichnet sein vom Wasser des Lebens. Diese Erfahrung lässt ihn seinen Weg fröhlich ziehen. Der Mitreisende ist längst davon. Der Finanzgewaltige der Kandake geht seinen Weg in eigener Verantwortung. Erfüllt mit neuen Hoffnungen. Beflügelt von der Zugehörigkeit zum großen Volk Gottes.

"Ich gehöre nirgends dazu", sagte vor einigen Jahren die alte holländische Dame zu mir. "Mein Mann ist tot. Kinder haben wir keine. Ich will zu ihnen dazugehören, wie zu einer großen Familie." Und die Fröhlichkeit dieser 87jährigen nach ihrer Taufe wurde für mich noch von keinem anderen Täufling übertroffen.

Dass wir getauft werden, daran wird heute kaum eine oder einer gehindert. Aber dass wir ernst machen mit unserer Taufe: dass wir mutiger bekennen, dass wir fröhlicher glauben und brennender lieben, daran hindern wir uns zuallererst und zuallermeist selber am stärksten.

Wir werden nie alle Straßen unseres Lebens fröhlich ziehen können. Aber was hindert uns, in der Erinnerung an das Zeichen unseres Taufwassers immer wieder neu Nachfolge zu wagen? Aufrecht zu gehen. Dem Unrecht zu widersprechen und zu widerstehen. Freiheit zu ermöglichen. Und sie zugleich auch ertragen.

Es bräuchte dazu nicht mehr als die Bereitschaft, uns an unsere Taufe erinnern zu lassen. Uns Glauben schenken zu lassen so groß wie ein Senfkorn. Es bräuchte dazu nicht mehr als einen kleinen Zipfel Gottvertrauen.

An seinem Segen für alle Reisen unseres Lebens wird Gott es schon nicht fehlen lassen. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.