Predigt zur Verabschiedung von Karl-Ludwig Möllinger
am Dienstag, den 25. Juli 2000
in der Ludwigskirche in Freiburg

25.07.2000

Liebe Gemeinde!
lieber Herr Möllinger,

"Die Wahrheit braucht keine Dome." Mit diesem Satz hat der verstorbene rheinische Präses Baier seine Zuhörer ordentlich erschreckt. "Die Wahrheit braucht keine Dome". Es war der erste Satz seiner unglaublich hörenswerten Predigt zur Wiedereröffnung des Berliner Doms vor wenigen Jahren. Nicht nur dem damaligen Bundeskanzler hatte die Predigt von Präses Baier damals die Sprache verschlagen und die Festtagsfreude ordentlich verdorben.

Stolz war man auf den Abschluss eines Bauprojektes, der bekanntlich sehr lange auf sich hatte warten lassen. Die Stadt, die sich anschickte wieder Hauptstadt und Metropole zu werden, die brauchte doch einen Dom. Und endlich hatte sie auch wieder ein würdiges Gotteshaus. Und dann der reformatorische besser der protestantische Paukenschlag: "Die Wahrheit braucht keine Dome!"

Auch wenn die Wahrheit keine Dome braucht - die Frage bleibt: Welchen Beitrag leisten Gebäude zur Verkündigung der Guten Nachricht Gottes für die Menschen?

Lieber Herr Möllinger, wir haben in Freiburg zumindest evangelischerseits keinen Dom, keinen Dombaumeister und keine Münsterbauhütte. Aber ganz ohne Gebäudebestand steht die Kirchengemeinde Freiburg auch nicht da. 26 Jahre lang haben Sie für die Planung, den Bau, aber auch vor für vielfältigen Umbau, Erweiterungs- und Sanierungsarbeiten Verantwortung getragen.

26 Jahre, das ist der weitaus größere Teil der Jahre ihrer Berufstätigkeit als Archtitekt. Jahre zugleich, in denen weit mehr an baulicher Aktivität möglich war, als es in den Jahren sein wird, die vor uns liegen.

Mit welchen Projekten sie im einzelnen befasst waren, dazu werden wir sicherlich nachher noch einiges hören. Wichtig ist: Es gibt immer weniger Menschen unter den aktiven Haupt- und Ehrenamtlichen hier in Freiburg, die sich an die Zeit vor ihnen überhaupt noch erinnern können. Unter Baugesichtspunkten darf man getrost von der Ära Möllinger sprechen.

Was immer im Bauwesen der Kirchengemeinde Freiburg in die Wege geleitet wurde in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten - an ihnen hat kein Weg vorbeigeführt. Die Kirchengemeinde und das Kirchengemeindeamt ohne sie - ohne "den Möllinger", wie man es salopp immer wieder hören konnte - daran werden wir uns alle gewöhnen müssen.

Natürlich konnten sie es nie allen recht machen. Zuallermeist deswegen, weil sie dafür eine Gelddruckmaschine gebraucht hätten. Die Begehrlichkeiten und Wünsche haben die Möglichkeiten schon immer überstiegen. Inzwischen übersteigt schon das Allernotwendigste die finanziellen Möglichkeiten der Kirchengemeinde.

Ihr Abschied, lieber Herr Möllinger, fällt in eine Zeit, in der wir auch in Freiburg die Frage, wieviele Dome - wieviele Kirchen - wir nun denn wirklich brauchen, von neuem diskutieren müssen. Anders gefragt: Wieviele kirchliche Gebäude sind nötig, um der Wahrheit in dieser Stadt Gehör zu verschaffen?

Alle, die von diesem Thema zumindest heute verschont bleiben wollen, kann ich beruhigen. Der Ausschuss, der Kriterien für den Umgang mit kirchlichen Gebäuden erarbeiten soll, tagt erst wieder am Donnerstag. Aber immer wieder völlig zurecht ist der Ruf nach der Stimme der Theologen in dieser Diskussion laut geworden. Da ist ein Gottesdienst wie der zur Verabschiedung des langjährigen Architekten der Kirchengemeinde Freiburg geradezu ein von Gott geschenkter Anlass.

Wieviele Dome braucht die Wahrheit? Sie, lieber Herr Möllinger, kennen die Kirchen der Kirchengemeinde wie kein zweiter. Dasselbe gilt für die Pfarrhäuser, ebenso für die Gemeindesääle und die Kindergärten. Sie kennen die Stärken und Schwächen der Heizungssysteme und der Pfarrhauswände, die Geheimnisvolles ausdünsten. Sie kennen aber auch die Eigenheiten der nicht immer pflegeleichten Bewohner und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kirchlicher Häuser. Wenn sie jetzt hofentlich mehr Zeit haben, können sie ihre Erfahrungen ja in einem Roman verarbeiten: Die Ähnlichkeiten ihrer Hauptpersonen mit der Wirklichkeit der Menschen hier in Freiburg ist dann hoffentlich rein zufällig.

Ich würde schon gerne einmal wissen, wieviele Millionen in diesen Jahre durch ihre Hände gegangen sind bzw. welche Summe all die Bauvorhaben ergeben, für die sie verantwortlich waren. Alles Gelder, eingesetzt, um der Wahrheit hier zum Durchbruch zu verhelfen und Raum zu verschaffen. Gelder im übrigen auch, die mitgeholfen haben, Menschen Arbeit und Brot zu geben. Auch darauf darf heute durchaus hingewiesen werden. Die Kosten der von ihnen begleiteten Baupojekte macht eine durchaus bemerkenswerte Aussage darüber, wieviel uns diese Wahrheit Gottes zumindest baulicherseits wert war - und wert bleibt.

Wieviele Dome, braucht denn nun die Wahrheit? Die Lesung, die wir vorhin gehört haben, gibt darauf eine durchaus überraschende Auskunft. Da liegen die Menschen in Samaria und in Judäa miteinander im - aus heutiger Sicht gesprochen - konfessionellen Streit. Die einen beten Gott auf dem Garizim an. Die anderen im Tempel in Jerusalem. Und beide sind sich sicher, dass nur ein Ort der richtige sein kann. Jesus relativiert derartige religiöse Positionen und legt sie als das bloß, was sie sind, nämlich der Versuch, die Wahrheit um der eigenen Macht willen für sich allein in Anspruch zu nehmen. Das ist der tiefere Sinn der Aussage, dass die wahren Beter Gott im Geist anbeten.

Anderes kann man hier erläuternd hinzuziehen. Etwa die Feststellung des Apostels Paulus, dass unser Leib der Tempel Gottes ist. Oder - Paulus hier weit überbietend - das Bekenntnis des Beters aus Psalm 24: "Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen."

Für die Tradition der Reformatoren hat diese Sicht durchaus Konsequenzen gehabt. Sie wies den Kirchen und den kirchlichen Gebäuden ihre durchaus begrenzte Bedeutung zu. Natürlich hat auch Luther Kirchen in Dienst gestellt und sie - wie er sagte - mit dem "Weihrauch des Wortes Gottes" geweiht.

Aber im Grundsatz ist der Kirchenraum nicht heiliger und sind wir Gott nicht näher in jedem Winkel auf dieser Erde. Hier liegt der eigentliche Grund dafür, dass evangelische Kirchen über Jahrhunderte unter der Woche für die Menschen verschlossen geblieben sind. Erst mühsam sind wir in den letzten Jahren dabei zu lernen, die Radikalität der reformatorischen Erkenntnis in einer vernünftigen und erträglichen Weise in kirchliche Praxis umzusetzen.

"Die Wahrheit braucht keine Dome." Das ist unumstrittene reformatorische Erkennntis. Aber wir Menschen brauchen Orte, an denen es uns leichter fällt, uns der Gegenwart Gottes zu öffnen. Kirchen sollen solche Orte sein. Und in zunehmendem Maße werden sie es auch wieder.

Kirchen müssten, um ein Wort von Herrn Paetzholdt aus der Mai-Sitzung des Kirchengemeinderates aufzunehmen - Kirchen sollen die Menschenfreundlichkeit Gottes widerspiegeln. Ohne solche Orte fällt uns unser Glauben schwerer. Ein Raum, der uns das Herz aufgehen lässt, eine Meditationsecke, in der wir zur Ruhe kommen können, Kunstwerke, die beredter sind als manche Predigt, Musik, die eine Ahnung himmlischer Sphären vermittelt. Kirchenräume sind hierbei unverzichtbar. Und das Geld, das wir in sie investieren, muss sich in allererster Linie an diesem Anspruch der Widerspiegelung der Menschenfreundlichkeit Gottes messen lassen.

Kirchengebäude als Zeuge der Baukunst früherer Jahrhunderte; als Garant einer großen Tradition, können wir uns mit den eigenen Mitteln kaum mehr leisten. Kirchengebäude als einladende Orte der Gottesbegegnung, als Orte, wo Himmel und Erde sich berühren, sind uns als bleibende Aufgabe ans Herz gelegt. Insofern wird auch ihr Nachfolger, lieber Herr Möllinger, immer noch genug an Arbeit haben.

Gegenüber dieser Aufgabe kommt anderem deutlich weniger Gewicht zu. Dennoch ist es gut und wichtig, wenn wir uns daran erinnern lassen, dass wir beispielsweise auch Gemeindesäle haben. Sie sind gewissermaßen die gute Stube, in die wir einladen - wie jetzt gleich im Anschluss an diesen Gottesdienst. Räumlichkeiten, die wir anderen auf Wunsch auch zur Verfügung stellen können.

Kindergärten - auch daran sei erinnert - sind Schutzorte. Orte, an denen Kinder durch Begleitung anderer etwas von der Wahrheit des Lebens und der Liebe erfahren können. Wenn es nur um die vorübergehende Aufbewahrung von Kindern ginge, wären wir als Kirche hier nicht gefordert.

Pfarrhäuser sind gebaut worden, um Menschen einen Wohnort zu geben, die sich in den Beruf der Verbreitung der Wahrheit haben verlocken lassen. Über Jahrhunderte war das evangelische Pfarrhaus eine Agentur der Werte- und Kulturvermittlung. Wieviele solche Häuser wir uns künftig noch werden leisten können, auch darüber wird in Zeiten geringerer Geldmittel zu reden sein.

Dass wir alle diese Häuser haben, ist ein Zeichen des Reichtums, nicht nur des materiellen - ja man könnte mit Fug und Recht auch sagen der Gnade Gottes. Welche Gebäude wir nun im einzelnen haben, das ist Ergebnis einer gewachsenen Entwicklung, pragmatischer Vereinbarung und zielgerichteter Planung. Die Wahrheit braucht hat all dies nicht. Sie hat Dome nicht nötig. Wir Menschen allerdings schon!

Sie, lieber Herr Möllinger, waren ein liebevoller Pfleger dieser Einrichtungen der Verbreitung der Wahrheit. Ihre "immobilen Pflegschaften" sind ihnen ans Herz gewachsen. Und sie werden sie - da bin ich mir ganz sicher - auch vermissen.

Ihr Nachfolger wir vor ganz anderen Aufgaben stehen. Wenn alles so kommt, wie es hoffentlich kommen soll, wird er noch einen Kirchbau wachsen sehen - das ökumenische Kirchenzentrum im Rieselfeld. Ansonsten wird er sich getreu dem Schöpfungsauftrag in der "Kunst des Bewahrens" üben müssen.

Aber dies alles wie schon bei ihnen unter dem Vorzeichen dessen, was wir im 28. Psalm lesen: "Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt."

Es ist ein Geschenk, nicht nur Last, sondern hoffentlich auch Lust, wenn einem über mehr als zweieinhalb Jahrzehnte die Verantwortung für diese Orte anvertraut ist. Und es ist ebenso ein Geschenk, wenn einem diese Verantwortung dann irgendwann auch wieder von den Schultern genommen wird.

Nein, die Wahrheit braucht keine Dome. Aber sie braucht Menschen, die da, wo sie ihre Gaben entfalten, für die Wahrheit einstehen. Und sei‚s bei der Fürsorge und Pflege, dessen, was Gott uns Menschen an besonderen Orten der Begegnung überlässt und schenkt. Gott baut jeden Tag Häuser seiner Menschenfreundlichkeit in dieser Welt. Zusammen mit anderen haben sie lange mitbauen dürfen.

Andere werden weiterbauen. Und die Wahrheit Gottes wird nisten und einwurzeln, wo immer wir ihr Raum geben. Amen.

EG 136,1+3+4: O komm, du Geist der Wahrheit

VerabschiedungLieber Herr Möllinger,
26 Jahre lang haben sie in der Evangelischen Kirchengemeinde Freiburg als Architekt gearbeitet. 26 Jahre, für die wir ihnen von Herzen dankbar sind. 26 Jahre aber auch, auf die sie hoffentlich ebenfalls dankbar, mit Freude und auch mit Stolz zurückschauen.

Mit dem Ablauf dieses Monats, am 31. Juli 2000, geht ihre Dienstzeit offiziell zu Ende. Für sie beginnt dann ein neuer Lebensabschmitt. Der Ruhestand ist kein Abstellgleis. Er ist eine Zeit, eine Lebensphase mit eigenen Chancen. Mit eigenen Möglichkeiten. Mit größere Freiheit in der Bestimmung dessen, was sie sich vornehmen. Ich wünsche ihnen - und in bin sicher viele andere auch, die ihretwegen hierhergekommen sind - dass sie sich mit Freude, mit Offenheit und mit Neugier auf diesen neuen Lebensabschnitt einlassen können.

Wir wollen beten:
Gott, Freund des Lebens und Hüterin unserer Zeit Gott, dankbar schauen wir heute zurück auf eine lange Strecke in der noch immer jungen Geschichte der Kirchengemeinde Freiburg. Mehr als ein halbes Berufsleben hat Karl-Ludwig Möllinger in dieser Gemeinde verantwortungsvoll und verantwortungsbewusst gearbeitet. Nun stellst du seine Füße auf den weiten Raum der Jahre ohne berufliche Last. Lass ihn entdecken, wofür ihm bisher keine Zeit blieb. Lass ihn Neues wagen und zugleich mit guten Gedanken zurückblicken auf das, was war. Gott, Uns nah auf allen unseren Wegen, begleite Herrn Möllinger mit den seinen auf allen Wegen, auf denen du ihn noch führen willst. Amen.

Segen
Gott, der Freund der Menschen, hat dich bisher gesegnet. Er halte deine Augen offen und behüte dich, er bleibe dir auf deinen Wegen und lasse sich täglich neu gesegnet sei. So segne und behüte dich Gott, der gnädige und der barmherzige, uns nah in Christus und voller Ermutigung in seinem heiligen Geist. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.