Predigt über Jesaja 49,13-16
Gehalten im Rundfunk-Gottesdienst (DLF/DW)
am ersten Sonntag nach Weihnachten (30. Dezember 2001)
in der Evang. Kirche in Hinterzarten

30.12.2001
Thema: Leben Zwischen Weihnachten und Neujahr heisst „leben zwischen den Jahren“ – heisst aus dem Licht der Zukunft Gottes schon in der Gegenwart anders und mit neuen Aussichten leben können.

Gruß

Freude sei mit euch und Freundlichkeit und die Gewissheit der Nähe Gottes in diesem neugeborenen Kind im Stall von Bethlehem. Amen.

__________

Liebe Gemeinde,

liebe Hörerinnen und Hörer des Deutschlandfunks und der Deutschen Welle!

Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr gehören zu den schönsten des Jahres. Irgendwie scheinen da die Uhren langsamer zu gehen. Beziehungen – auch lange nicht mehr gepflegte – kommen wieder zu ihrem Recht. Für lange Aufgeschobenes ist endlich einmal Zeit.

Von der „Zeit zwischen den Jahren“ sprechen wir im Blick auf diesen eine Woche manchmal auch. Eine Erinnerung an unterschiedlich beginnende Jahreszyklen früherer Jahrhunderte.

Im Blick zurück: Weihnachten. In der dunkelsten Zeit des Jahres das Fest des überschäumenden Lichterjubels. In den Schaufenstern. Als Straßenbeleuchtung. In den Wohnungen mit dem Christbaum und überall aufgestellten Kerzen. Geblieben sind Stapel zusammengelegter Geschenkpapiere. Briefschulden als Antwort auf manch erwarteten oder überraschenden Advents- oder Weihnachtsgruß. Geblieben ist manchmal auch die Ernüchterung des Tages danach, wenn Weihnachen den Riss, der durch Familien oder Beziehungen geht, nicht mehr zu kitten vermochte.

Geblieben ist unsere Sehnsucht nach Frieden auf Erden. Frieden - nicht nur in Bethlehem zwischen Israel und Palästinensern. Frieden in Afghanistan. Frieden an der Grenze zwischen Indien und Pakistan. Und an vielen Orten, von denen die Nachrichten nichts berichten.

Anderes mischt sich zunehmend stärker hinein in diese nachweihnachtliche Stimmung. Eine Nacht nur noch trennt uns von Sylvester mit vielen Festen. Mit Fondue und Feuerwerkskörpern. Mit guten Vorsätzen und auffliegenden Hoffnungen. Vieles geht zu Ende mit diesem alt gewordenen Jahr. Und längst nicht nur die D-Mark. Es ist das Ende jenes Jahres, dem die Ereignisse des 11. September so unerwartet und zugleich so beängstigend seinen Stempel aufgedrückt bekam.

Zwischen den Jahren – da muss sich auch beim persönlichen Bilanzieren erweisen, was Weihnachten wert ist. Ob es mehr war, als die alljährliche Auszeit zwischen beruflichem Stress und vielfältigen persönlichen Belastungen.

Ein Spiegelbild dieser Gestimmtheit zwischen den Jahren wird sichtbar in der alle Jahre wieder millionenfach getroffenen Entscheidung, diese Tage nicht zu Hause, sondern irgendwo an einem Urlaubsort zu verbringen. Und einige tausend zieht es dabei immer auch hierher nach Hinterzarten. Gute Luft in mehrheitlich sonnigen Tagen – und fast immer bei schön-frostigen Temperaturen.

In einer Zeit zwischen den Jahren – zwischen Rückblick auf eine dunkle Zeitspanne und der Aussicht auf eine Zukunft voll von neuen Möglichkeiten - ist auch der Predigttext für den heutigen ersten Sonntag nach Weihnachten entstanden. Wir verdanken in einem Propheten, dessen Namen wir nicht kennen, von dem wir aber wissen, dass er in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts vor Christi Geburt gewirkt hat.

Dieser unbekannte Prophet blickt zurück auf ein halbes Jahrhundert Leben in der Verbannung. Die Aussicht auf eine neue Zukunft taucht die bösen Jahre des zu Ende gehenden Exils in Babylon schon in ein erträglicheres Licht. Ihn beflügelt die Aussicht, dass Gott seinem Volk neue Lebensmöglichkeiten zugesagt. „Tröstet, tröstet mein Volk, und redet freundlich mit Jerusalem!“ Das ist die gern gehörte Grundmelodie, die sich durch alle Texte dieses Propheten zieht. Der Jubel der Rückkehrer, der gespeist wird vom ständig wiederholten Kehrvers der Zusage Gottes: Ich habe euch nicht vergessen! Hören wir aus Jesaja 49 auf die Verse 13-16:

Predigtext - Reihe VI – 1. Sonntag nach dem Christfest

Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden. Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.

Wirklich Worte wie geschaffen für diese Tage zwischen den Jahren. Worte, die zu Herzen gehen. Worte, die Hoffnung wecken und den Silberstreif an Horizont entdecken lassen. Und die uns eine unverzichtbare und zugleich immer wieder übersehene Seite Gottes nachdrücklich und mir schönen Worten vor Augen führen. Da feiern wir die Geburt eines kleinen Kindes. Bewundern den Mut einer jungen Frau, der ohne eigenes Zutun, ja fast wider eigenen Willen eine große Aufgabe zugemutet wird. Erzählen wir, wie viele Hoffnungsgeschichten sich an diese Geburt knüpfen

Und irgendwann kommen wir um die Entdeckung nicht herum: Die meisten Rollen im weihnachtlichen Geschehen sind zwar mit Männern besetzt. Aber das, was Weihnachten am Ende wirklich ausmacht, liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten. Für Josef, doch immerhin Marias Mann, bleibt in der Weihnachtsgeschichte nur eine Statistenrolle. Er muss froh sein, wenn er auf den zahlreichen Weihnachtsdarstellungen der bildenden Kunst nicht völlig übergangen und vergessen wird. Die Hirten auf dem Feld oder die mächtigen reichen Männer aus dem Osten – sie nehmen allenfalls staunend zur Kenntnis, was sich da abspielt vor ihren Augen. Die wirklich tragenden Rollen bleiben Maria und den Engeln vorbehalten. Das Entscheidende in der Weihnachtsgeschichte trägt Gott am Ende selber bei.

Schon seit Weihnachten vor 2000 Jahren könnten wir es also wissen. Die Tradition der Bibel und der Schatz menschlicher Erfahrungen mit Gott sind vielgestaltiger und reicher, als sie sich über lange Jahrhunderte in einer oft einseitig von Männern geprägten Kirche durchgesetzt haben.

Es sind insbesondere Gottes mütterliche Züge, die der unbekannte Prophet in seiner Aufforderung zum Jubel besingt. Bei den nach Babylon Verschleppten hatte sich Resignation breit gemacht. „Der Herr hat mich vergessen!“ Bis heute werfen wir Gott unsere Unzufriedenheit mit ganz ähnlichen Formulierungen vor die Füße.

Schön, wie Gott in den Worten des unbekannten Propheten antwortet: nicht mit Macht, sondern in fürsorglicher, fast weihnachtlicher Anteilnahme: „Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen?“ Unmöglich! Aber eben doch nicht gänzlich aus der Welt. Nicht völlig außerhalb des breiten Spektrums menschlicher Möglichkeiten. Darum fügt Gott noch einen Gedanken hinzu: „Und wenn sich’s auch unter euch Menschen so verhält - meine Möglichkeiten übersteigen die euren an einem entscheidenden Punkt. Meine Liebe zu euch ist weder an Bedingungen geknüpft noch von Widersprüchlichkeit geprägt. Ich habe euch in meine Hände gezeichnet. Ich habe euch alle Zeit vor Augen.“

Schöner als im Bild der mütterlichen Fürsorge Gottes kann man von Gott kaum sprechen. Schon gar nicht an Weihnachten. Gott – liebevoll den Menschen und der Welt zugewandt. Gott, wie eine Mutter liebevoll besorgt um Wohl und Wehe ihres eigenen Kindes. Das ist der Stoff, aus dem sich Hoffnungslieder schreiben lassen! Und die vielen wunderbaren Geschichten neuer Lebensmöglichkeiten aus der Erfahrung der beglückenden Nähe Gottes. Das ist die große Erleuchtung, dass unser Leben nicht von den Ansichten der Gegenwart, sondern von den Aussichten der Zukunft bestimmt ist. Das ist Weihnachten – das ist Gottes Ankunft mitten in unserem Leben - schon lange vor Weihnachten.

    Johann Hermann Schein „Allemande“


Wann, wenn nicht zwischen den Jahren haben wir die einmalige Gelegenheit, offen zu werden für diese so ganz andere Seite Gottes? Leben zwischen den Jahren - das ist der Raum für die Entdeckung der Möglichkeit, alles noch einmal ganz anders, ganz neu zu sehen. Raum – uns auf Gottes verwandelnde, alles in ein neues Licht tauchende Gegenwart zuzulassen.

Keine der vertrauten Akteurinnen und Akteure des weihnachtlichen Geschehens, die diese Erfahrung nicht macht! Da ist Maria, eine junge Frau, die in ihrem Leben mit einem Mal jene große Aufgabe entdeckt, die ihr Wertschätzung zukommen lässt – bis heute. Da sind die Hirten, rauhe Gesellen am Rand der Gesellschaft, aber kaum wegzudenken sind aus den vielen Weihnachtsspielen und den weihnachtlichen Gottesdiensten bis heute.

Da sind die Magier aus dem Osten, wie die Bibel sie nennt, himmelskundige Deuter des Weltgeschehens. Und als demütige Könige, die ihre Möglichkeiten in den Dienst des neugeborenen Kindes stellen und ihren Reichtum dran geben gedenken wir ihrer schon in wenigen Tagen wieder auf’s neue.

Und da ist dieses Kind selber – ein winziges Bündel Mensch – millionenfach geboren an jedem Tag auf diesem Planeten. Und doch beginnt gerade mit diesem Kind eine Leuchtspur ungeahnter Möglichkeiten, eine neue Perspektive zu gewinnen. Leben – jeden Tag leben wie zwischen den Jahren – noch in der alten und zugleich schon neuen Zeit - das wär’s!

Der weihnachtliche Predigttext aus vorweihnachtlicher Zeit gibt klare Orientierungshilfen für diesen Weg in das unbekannte Land einer besseren Zukunft. „Ich habe dich immerzu vor Augen. Denn in meine Hände habe ich dich gezeichnet.“ Wenn wir zu dieser frohmachenden Einsicht durchdringen - wenn wir uns zumindest ein kleines Stück aus der Perspektive Gottes sehen lernen, dann haben wir die entscheidende weihnachtlichen Perspektive gewonnen und in unser Leben gezogen.

„Ich habe dich immerzu vor Augen. Denn in meine Hände habe ich dich gezeichnet.“ Diese beiden Sätze eignen sich dazu, das Geheimnis der Menschwerdung Gottes zu umschreiben. Wir Menschen – ein Tatoo Gottes. Unauslöschlich eingraviert und eingebrannt in Gottes Sein. Wir Menschen – untrennbar mit Gott verbunden in diesem Kind in der Krippe. Wir Menschen – unwiderruflich hineinverwoben in Gottes Hoffnungsgeschichte mit dieser Welt und mit der ganzen Schöpfung. Das ist es, was wir an Weihnachten gefeiert haben. Am Kind in der Krippe können wir unsere Hoffnungen festmachen, dass Gott unsere Wege nicht in Sinnlosigkeit enden und uns Menschen nicht dem Vergessen anheim fallen lässt. „Ich habe dich immerzu vor Augen. Denn in meine Hände habe ich dich gezeichnet.“

Im Rückblick auf Weihnachten und im Ausblick auf das neue Jahr können wir mit dieser Botschaft, die so viel älter ist als Weihnachten, lernen, Weihnachten neu zu feiern. Können wir von Maria lernen, die Botschaften der Engel unseres Lebens ernst zu nehmen. Können wir von den Hirten lernen, dass auch unser grauer Alltag mit einem Mal in einem neuen Licht erscheinen kann. Können wir von den Weisen aus dem Osten lernen, ungewohnte Wege zu gehen und unseren Reichtum und unsere Begabung in den Dienst neuer Ziele einzubinden.

Die Zeit zwischen den Jahren, das ist die Gelegenheit, die menschliche, auch die mütterliche Seite Gottes ganz neu zu entdecken und zu feiern. Unter diesen Vorzeichen bedeutet Weihnachten dann: Im Gesang der Engel und im Singen der vertrauten Lieder sich von Gottes verwandelnder Kraft anrühren zu lassen. Mitten im alten schon die Zukunftsmusik Gottes zu hören und sich von ihr beflügeln zu lassen. Und dann auch mit dem Propheten in das Lob derer einzustimmen, denen Gott durch alle Zeiten hindurch von neuem Zukunft ansagen will. Darum:

    „Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde.
    Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen!
    Denn der Herr hat sein Volk getröstet
    und erbarmt sich seiner Elenden.“


Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.