Predigt über Offenbarung 3,7-13
gehalten am Sonntag, den 9. Dezember 2001
in der Ludwigskirche in Freiburg
09.12.2001
Wenn wir die Welt nicht mehr verstehen, liebe Gemeinde, dann fragen wir nach Orientierung. Wenn die Zusammenhänge zu komplex werden, dann wächst unsere Anfälligkeit für die einfachen Alternativen. Wenn wir dann auch noch unter Druck geraten, geht die Geduld für langwierige Klärungsprozesse und zeitaufwendige Konfliktmoderationen verloren.
Der Advent ist die große Gelegenheit, der Eigendynamik des womöglich Unsinnigen Einhalt zu gebieten. Auf Nachdenklichkeit zu setzen anstatt es mit Befreiungsschlägen zu versuchen. Der Advent ist das Angebot einer Zeit der Be-Sinnung wahrhaftig nicht nur in persönlich-erbaulicher Absicht. Nein, sehr wohl auch im Bereich der politischen Verantwortung und des öffentlichen Handelns. Und mehr als wir es noch vor einem Jahr für möglich hielten, haben wir diese adventliche Nachdenklichkeit, dieses adventliche Moratorium im Moment besonders nötig.
Nichts sei mehr so wie es war, lautet die oberste Legitimation all dessen, was bis zu jenem schwarzen Septembertag noch undenkbar und doch in vielen Köpfen längst vorgedacht und in vielen Schubladen längst vorbereitet schien. Was da in kürzester Zeit auf beinahe allen Seiten an Mauern eingestürzt, an Tabus gefallen und an vorher undenkbaren Bündnissen plötzlich möglich geworden ist, kann - so scheint es - fast nur noch in apokalyptischer Sprache und eben solchen Bildern angemessen zum Ausdruck gebracht werden.
Manchmal verzerrt die Nähe zum Ereignis die Proportionen. Aber tatsächlich ordnet auch die biblische Apokalypse dem lokalen Ereignis sehr wohl globale, ja universale Bedeutung zu. Die Predigttexte der nächsten beiden Sonntag geben Gelegenheit zu adventlicher Orientierung im apokalyptischen Koordinatensystem. Nicht gleich im weiten Panorama und der übersetzungsbedürftigen Sprache der apokalyptischen Bilder. Nein, viel dezenter, aber kaum weniger klar und schon gar nicht unter Verzicht auf den universalen Anspruch.
Nähern wir uns hören dem Deutungsangebot der Apokalypse des Johannes an:
- Orgel -
Dies ist die Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen soll. Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.
Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse an der Bedrängnis und am Reich und an der Geduld in Jesus, war auf der Insel, die Patmos heißt, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus. Ich wurde vom Geist ergriffen am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune, - Orgel - die sprach: Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus und nach Smyrna und nach Pergamon und nach Thyatira und nach Sardes und nach Philadelphia und nach Laodizea.
Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete. Und als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter und mitten unter den Leuchtern einen, der war einem Menschensohn gleich. Und seine Stimme war wie großes Wasserrauschen; und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand. Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot; und er legte seine rechte Hand auf mich und sprach zu mir: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.
Schreibe, was du gesehen hast und was ist und was geschehen soll danach. Das Geheimnis der sieben Sterne, die du gesehen hast in meiner rechten Hand, und der sieben goldenen Leuchter ist dies: Die sieben Sterne sind Engel der sieben Gemeinden, und die sieben Leuchter sind sieben Gemeinden.
- Orgel klingt nach -
Die gewaltige Ouvertüre der Johannes-Apokalypse legt bereits wesentliche Teile ihrer Programmatik offen: In starker Bedrängnis - man könnet auch sagen unter starkem Außendruck - nicht nur den Silberstreif am Horizont - nein, auch die sieben goldenen Sterne Gottes entdecken. Und dies nicht irgendwie diffus verschwommen oder allzu abstrakt entschärft.
Nein, die sieben Leuchter repräsentieren zunächst sieben konkrete Gemeinden. Sieben Namen von Städten, die wir in Kleinasien als Ruine oder in Gestalt einer die alte Stadt überbauenden Neugründung bis heute lokalisieren können. Und jede Gemeinde wird mit einem eigenen Schreiben ausdrücklich und individuell angesprochen und derart gewürdigt. In Form einer schonungslosen Bestandaufnahme, im Stil eines urkirchlichen Führungszeugnisses haben wir hier so etwas wie einen Visitationsbescheid aus dem Entstehungsjahrhundert der Kirche vor uns.
Die sieben Städte stehen stellvertretend für die gesamte Christenheit. Und für diese sieben Städte steht jeweils ein Engel, dargestellt in den sieben Sternen. Dieser Engel symbolisiert gleichsam so etwas wie die kollektive, gemeinschaftliche Persönlichkeit dieser Gemeinden. Mit anderen Worten: Was dem Engel geschrieben wird, gilt der ganzen Gemeinde. Und was der Gemeinde geschrieben wird, gilt im Grunde der ganzen Christenheit.
Diese für den heutigen Sonntag ausgewählten Verse stammen aus dem sechsten der insgesamt sieben sogenannten Sendschreiben. Zunächst natürlich gelten diese Worte einer verfolgten christlichen Minderheit in der Mitte der 90er Jahre des ersten Jahrhunderts. In fast allen dieser Sendschreiben wird vor allem die Laschheit und Wankelmütigkeit der Menschen getadelt. Sie kennen manche der Formulierungen: „Ich werfe dir vor, dass du die erste Liebe verlassen hast!“ Oder an anderer Stelle: „Ich weiß, dass du weder kalt bist noch warm. Ach wenn du doch nicht so lau wärst.“
Das sechste Schreiben bildet die große Ausnahme. Diese Empfängergemeinde wird keinerlei Vorwürfen ausgesetzt. Sie wird allenfalls in die Pflicht genommen. Der Name Philadelphia war durch die Jahrhunderte der Kirche hindurch das Synonym einer Vorführgemeinde. So hat etwa auch William Penn die Hauptstadt seiner Kolonie der Quäker in Pennsylvania Philadelphia, genannt. Philadelphia, auf deutsch Bruder-, besser vielleicht noch Geschwisterliebe. Auch dieser Name ist Programm.
Hören wir, was der auferstandene Christus über den Seher Johannes dieser Urmutter aller christlichen Gemeinden mitzuteilen hat:
- Orgel setzt ein -
Thema: offene Tür
Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, der zuschließt, und niemand tut auf: Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.
Thema: Die Rehabilitierung der Opfer
Siehe, ich werde schicken einige aus der Synagoge des Satans, die sagen, sie seien Juden, und sind‚s nicht, sondern lügen; siehe, ich will sie dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen.
Thema: Die neue Welt Gottes
Siehe, ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme! Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des neuen Jerusalem, der Stadt meines Gottes, die vom Himmel hernieder kommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Eindrücklich in diesem Sendschreiben, das der Seher Johannes zu übermitteln hat, das schon gleich zu Beginn gewählte Bild von der Tür, die der Gemeinde von Philadelphia geöffnet worden ist. Aufgeschlossen mit dem Schlüssel Davids und keinen gibt es, der diese Tür wieder zuschließen könnte.
Kein Zweifel: Wer die Schlüssel hat, hat die Macht. Und die Schlüssel Davids stellen diese Macht in den Interpretationszusammenhang des tragenden religiösen Grundes der Empfängergemeinde. Hinter den Türen, die hier geöffnet werden, liegt mehr verborgen als der Wohn- und Lebensraum des alltäglichen Lebens. Hier geht es um die Schlüssel, die gelingendes Leben, Leben, das diesen Namen wirklich verdient, ermöglichen. Wer diese Schlüssel hat, entscheidet am Ende über Leben und Tod.
Der Brief nach Philadelphia lässt keinen Zweifel. Christus selber hat die Schlüssel! Das entlastet. Nicht nur die Menschen in Philadelphia damals vor 2000 Jahren. Das entlastet auch uns. Diese Schlüssel dienen gerade nicht dazu, sich einzubunkern und in Sicherheit zu bringen. Der schlüsselgewaltige Christus eröffnet den Adressaten seines Briefes ein weites Betätigungsfeld. Und er nimmt sie zugleich in Verantwortung: „Ich habe vor dir eine Tür aufgetan. Und niemand kann sie zuschließen. Du hast nur eine kleine Kraft, aber du hast mein Wort bewahrt und meinen Namen nicht verleugnet.“
Die Rede von der kleinen Kraft wird hier zum Maßstab dessen, was den Menschen auferlegt ist, die Beauftragung nämlich, das zu tun, wofür unsere Kräfte reichen. Und sich überraschen zu lassen, welche Kräfte wir freisetzen können, wenn’s drauf ankommt. Den Menschen in Philadelphia muss viel zugemutet worden sein. Anders machte der böse Satz keinen Sinn, die Mitglieder der Synagoge des Teufels müssten am Ende vor den Christen von Philadelphia auf die Knie fallen.
Dennoch ist es nicht der Mutterboden des christlichen Antisemitismus, der hier offengelegt wird. Nach allem, was wir wohl zurecht vermuten, hat der Schreiber der Apokalypse seine Wurzeln selber im Judentum. Er kennt die Traditionen und die Bildersprache seiner Bibel offensichtlich bis ins Detail. Reflektiert wird letztlich auch nicht die grundsätzliche Beziehung zwischen Christen und Juden. Tatsächlich geht es um das Verhältnis von Macht und Ohnmacht. Um die Beziehung der Angehörigen der noch kleinen und verbotenen christlichen Religion und dem im römischen Reich zum damaligen Zeitpunkt durchaus wertgeschätzten Judentums. Mit der Synagoge des Teufels sind diejenigen gemeint, die sich aus einer Position der Stärke heraus darauf einlassen, mit den Mächtigen zu paktieren. Und das auf Kosten der konkurrierenden und verfolgten Minderheit.
In der Beziehung zwischen Christen und Juden sind die Verhältnisse nicht lange so gewesen, wie sie der Brief nach Philadelphia in den Blick rückt. Und der Schreiber hätte kaum gezögert, sein vernichtendes Urteil an die schon bald zuungunsten der jüdischen Gemeinden gewendeten Verhältnisse anzupassen. Womöglich hätte er sich nicht einmal gescheut, im Blick auf den gewandelten Täterkreis sogar von einer Kirche des Teufels zu sprechen.
Die Apokalypse des Johannes - auch der Brief nach Philadelphias - ist Tendenzliteratur zugunsten derer, die den Mächtigen gleich welcher Coleur in die Hände fallen. „Sie sollen erkennen, dass ich dich geliebt habe.“ Es sind die Opfer, die hier ins Recht gesetzt werden. Und es ist Gott selber, der sich hier mit seiner parteilichen Sicht der Welt nicht zurückhält.
Zeichen dieser gegenüber so ganz anderen Sicht Gottes ist das Szenario der Wiederherstellung, der von Neuem-ins-Recht-Setzung der Opfer, ist die ihnen zugesagte Ehrung und Würdigung. „Tempel meines Gottes“ nennt der Briefschreiber diejenigen, die durchhalten. Und er gibt ihnen neuen Namen als Zeichen ihrer neu und endgültig zugesprochenen Würde. Und das längst vertraute Bild vom neuen Jerusalem wird zum Sinnbild der neuen Welt Gottes, die uns zugesagt, aber noch nicht Wirklichkeit ist.
Das also ist der Kern des Geheimnisses der Apokalypse: Wenn schon die Täter am Ende womöglich eine Zukunft haben, wie viel mehr dann die Opfer. Wenn Gott schon diejenigen nicht ins Nichts fallen lässt, die nicht durchgehalten haben, wie viel mehr ist denen zugesagt, die sich nicht abbringen lassen. Denen, die selbst den Tod nicht mehr als den Ort ansehen, an dem wir am Ende dann doch noch der Gottlosigkeit und dem Nichts anheim fallen.
Nein, weder die Offenbarung des Johannes im ganzen noch dieser Brief nach Philadelphia können letztgültige Antworten geben. Aber diese Texte - und der Glaube derer, denen wir sie verdanken - sie können uns davor bewahren, die Entscheidung über Gut und Böse, über Freund und Feind, auch über Tod und Leben vorschnell in die eigenen Hände nehmen zu wollen.
Andere Türen als die der Gemeinde in Philadelphia stehen uns heute offen. Wir müssen die Türen unserer Tag als Gelegenheit erkennen, den Durchbruch ins Leben zu wagen, der möglich wird vor unseren Augen. Es sind die Türen zu den Menschen auf Sinnsuche. Zu den unersättlich Erlebnishungrigen. Zu den Fragenden ohne Antwort. Zu denen, denen der Grund unter den Füßen wegzubrechen droht. Zu denen an den vielfältigen Rändern unserer Gesellschaft. Zu denen, die keiner sonst wahrnimmt. Zu denen, die ohne eigenes Zutun unter die Räder unserer Befreiungsschläge geraten.
Wir haben keine wirkliche Alternative zum Gang durch diese Tür, die offen ist. Und die niemand mehr zuschließt. Und dies alles deswegen, weil Gott selber den Weg durch diese Tür gegangen ist. Als Gottes Menschenfreundlichkeit erst einer jungen unverheirateten Frau aufleuchtete. Dann den rauen Hirtengesellen, die sich aufgemacht haben zu jener Absteige, wo sie die Wiege des Menschlichen entdeckten. Und jenen drei Reichen und Mächtigen aus dem Osten, die uns den Seitenwechsel zum Leben vorgemacht haben. Advent ist Zeit, sich darauf vorzubereiten, es ihnen gleich zu tun.
Leben - das ist das Ziel unserer vielen Spielarten adventlicher Suche. Doch die Schlüssel zum Leben, die hat ein anderer. Der, auf den wir warten im Advent. Er lässt uns Wege finden, der Welt einen Sinn abzugewinnen. Wege auch, ihre unentschlüsselbaren Rätsel wenn schon nicht zu lösen, dann doch zu ertragen.
Bis wir hinter der Tür ihm selber begegnen. Und der Advent - die große Erwartung unseres Lebens - ans Ziel gekommen ist. Und wirklich nichts mehr ist, wie es war. Amen.