Predigt über Johannes 4,5-14
gehalten am 20. Januar 2001 im Wohnstift Augustinum
und am 21. Januar 2001 (3.S.n.Epiphanias)
in der Lukaskirche in FR-St.Georgen

21.01.2001

Es ist ein Wunder, dass wir leben, liebe Gemeinde. Nicht irgendwie. Sondern so, dass wir uns jeden Tag neu zum Leben verführen lassen. Auch schwere Tage können unserer Lust zu leben nicht wirklich etwas anhaben. Nicht die Erwartung eines mit Aufgaben und Terminen über Gebühr strapazierten Tagesablaufes. Nicht die durchwachte Nacht. Nicht einmal das Gefühl, der neue Tag reihe sich ohne Aussicht auf etwas, was ihn heraushebt in die endlos lange Kette durchlebter Tage ein. Das Geheimnis des Lebens selber ist es, das uns am Leben hält.

Aus welchen Wurzeln nehmen wir die Kraft her um zu leben selbst ohne die Perspektive des neuen Anfangs? Wo liegen die Quellen, aus denen uns unser Lebensmut selbst im Angesicht des nur schwer zu Überwindenden zufließt? Woher rührt unsere manchmal dich auch fast grundlose Zuversicht?

Gleich dreifach lässt sich unser Lebensstrom - man könnte auch sagen unsere Suche nach Lebenssinn speisen und anreichern. Da ist zum einen die Tradition. Nicht falsch verstanden als Rückgriff auf das ewig Gestrige. Oder als die Verweigerung der Offenheit gegenüber dem Neuen. Nein, Tradition meint das, was uns die, die vor uns gelebt haben, als bewährte Grundlage ihres Lebens überliefert und mitgegeben haben. Wir fangen niemals ganz von vorne an. Immer schon heißt Leben, anderes Leben schon vorfinden. Immer schon sind wir eingebettet in eine Gemeinschaft gemeinsam tragender Überzeugungen. Einen Schatz gemeinsamer Werte. Gemeinsamer Rituale. Gemeinsamer Überzeugungen. Auch darüber, was die Welt "im Innersten zusammenhält".

Es ist ein Kennzeichen unserer Zeit, dass wir Bewährtes oft vorschnell und ohne Grund über Bord werfen. Dass das Neue schon seiner Neuheit wegen den Vorzug bekommt. Und andere reagieren darauf eben mit einer Haltung, dass sie sich aus Angst vor der Überforderung durch neue Entwicklungen starr am Überkommenen festhalten. Doch Tradition als Wurzel unseres Lebens heißt nichts anderes als das Überlieferte in der Gegenwart auf seine Tauglichkeit zu prüfen und für die Zukunft nützlich machen.

Unsere zweite Lebensquelle ist die Kommunikation. Die lebendige Begegnung. Die gelebte Beziehung in Lebensgemeinschaften und in Liebesgemeinschaften. In einem großen staatlich geordneten Gemeinswesen. In der Kirche. Am Arbeitsplatz oder im Verein. In einer Familie. Einer Partnerschaft. Wem - aus welchen Gründen auch immer - die Welt der Mitmenschen entzogen wird - das Gemeinsame Leben - das Feiern - die Erfahrung der Kraft der Liebe und der Enttäuschung - der oder die wird krank. Verkümmert. Verliert die Lust am Leben.

Die dritte Quelle - das ist die Religion. Das ist Spiritualität. Das ist die Einsicht und der Glaube, dass es noch eine Wirklichkeit gibt jenseits unserer Vorfindlichkeit. Jenseits unserer Welt, in der wir essen und trinken. Arbeiten und ruhen. Lieben und hassen. Diese dritte Quelle - sie sprudelt aus der Überzeugung, dass wir uns mit Haut und Haaren einer Kraft verdanken, die unsere Möglichkeiten übersteigt und dennoch will, dass unser Leben gelingt. Die dritte Quelle ist die Öffnung unseres Lebenshorizontes hin auf Gott.

Tradition, Kommunikation und Religion. Alle drei Themen fließen zusammen im Predigttext für diesen / den morgigen 3. Sonntag nach dem Trinitatisfest. Im Mittelpunkt steht eine Frau, deren Tradition sie und die ihren ausschließt aus der größeren Gemeinschaft, in der sie lebt. Ein Frau, die auf eine Kette zerbrochener Lebensbeziehungen zurückblickt. Die nach außen und nach innen leidet an den Folgen einer zunehmenden Isolation. Eine Frau zugleich, die sich mühsam birgt in der überlieferten Religion ihrer kleinen Welt. Und die in Unruhe gehalten wird von ihrer Sehnsucht nach der großen Erfahrung gelingenden, erfüllten Lebens.

Und wie es fast anders sein kann bei einer Geschichte, in der gefragt wird nach den Quellen unseres Lebens. Sie spielt an einem Brunnen und wir uns im vierten Kapitel des Johannes-Evangeliums überliefert. Wir hören die Verse 5 bis 14:

Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich am Brunnen nieder; es war um die sechste Stunde. Da kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Essen zu kaufen. Da spricht die samaritische Frau zu ihm: Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritische Frau? Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und der gäbe dir lebendiges Wasser. Spricht zu ihm die Frau: Herr, hast du doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du dann lebendiges Wasser? Bist du mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh. Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.

Nicht nur hören, sondern spielen müsste man diese Geschichte. Vor dem Horizont einer orientalischen Oase, in deren Nähe eine kleine Stadt gegründet wurde. Es ist Mittagszeit. Gluthitze. Die Sonne brennt mit ihrer höchsten Kraft. Gut, wer den Schatten einiger Bäume oder Sträucher genießen kann. Am Brunnen zwei Menschen in einem hochintensiven Gespräch. Eine Begegnung an einem Ort, wo das Wasser das Leben erträglich macht.

Doch die Idylle trügt. Und das gleich aus mehreren Gründen. Ort der Handlung ist Sychar. (Damals) in Samaria gelegen. (Heute im Westjordanland.) Samaria - das war aus der Perspektive derer, die die Macht in Händen hatten, unwillkommenes Land. Ein Landstrich im Abseits. Bei Reisen möglichst gemieden, selbst wenn man einen Umweg in Kauf zu nehmen hatte. Religiös disqualifiziert. Weil man die Rechtmäßigkeit des Heiligtums bestritt und die in wenigem abweichenden religiösen Praxis verurteilte. Dabei war das Heiligtum auf dem Garizim längst dem Erdboden gleichgemacht. Und die Samaritaner eine verschwindende Minderheit. Landsmannschaftlich verachtet. Schließlich waren deren Vorfahren teilweise zwangsangesiedelt worden. Teilweise hatten sie gegenüber den babylonischen Eroberern keine strikte Abtrennung gewahrt. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter spiegelt sich etwas von der Unberührbarkeit der Samaritaner wider.

An dieser Bürde trägt auch die Gesprächspartnerin Jesu schwer. Lebensnotwendige Kontakte waren ihr wie ihren Landsleuten versagt. Dazu war sie eine Frau. Sie hatte ohnedies keine Stimme, um ihre Unzufriedenheit öffentlich und dazu noch gegenüber einem Fremden zu artikulieren. Persönlich - das erfahren wir im weiteren Verlauf des Kapitels - schaut sie auf eine Kette zerbrochener Beziehungen zurück. Und die jetzige dient vor allem der sozialen Absicherung. Als Single im modernen Sinn hätte sie damals gar keine Lebensperspektive mehr gehabt. Die Sehnsucht, den Durst nach Leben werden wir uns nicht stark genug vorstellen können.

Was für eine scheinbare Ironie des Schicksals: Jesus wendet sich gerade an diese Frau mit der Bitte: Gib mir zu trinken! Die Frau erkennt die Ungeheuerlichkeit der Situation. Und sie weist ihren Gespärchspartner auf den Regelverstoß hin. "Von mir", so sagt sie, "kannst du nichts bekommen. Der Graben zwischen der Frau aus Samaria und dem Mann auf dem Weg zwischen Judäa und Galiläa ist zu breit. Und er wird noch breiter durch die Weise, in der Jesus das Gespräch fortsetzt. "Wenn du wüsstest, wer ich bin, du würdest mich bitten, dir zu trinken zu geben."

Typisch Mann, wir die Frau wohl gedacht haben. Nicht einmal ein Schöpfgefäß hat er dabei. Ist auf mich angewiesen. Aber die Rolle als Macher gibt er trotzdem nicht auf. Die Erinnerung an Jakob sollte ihn bescheidener machen. Ihm hatten sie diesen Brunnen zu verdanken. Sein Brunnengeschenk an Josef ist ein beständiger Lebensspender geblieben.

Doch der fremde Gesprächspartner gibt nicht nach. So als wäre ihm klar, was sie gerade gedacht hat. "Immer Wenn du aus diesem Brunnen unseres Stammvaters trinkst, ist dein Durst zwar gelöscht. Aber nur für kurze Zeit. Nicht für immer. Du bleibst ein Lebensdurstige. Daran kann dieser Brunnen nichts ändern."

Hatte dieser Jesus nicht recht? War nicht gerade das ihr Problem? Die Erfüllung ihrer Sehnsüchte auf Dauer. Der Durst nach einem Leben in Würde und Zufriedenheit. Keine Zeit den Gedanken nachzuhängen. Denn der andere sprach schon weiter.

"Das gibt es wirklich. Wasser des Lebens! Gelingen und Anerkennung mitten im Scheitern. Eine Zukunft mit Perspektive gegen den Augenschein. Das Anerkenntnis der eigenen Größe - ohne zu den Großen dieser Welt zu gehören. Ich kann dir den Weg dahin zeigen. Ich kann dir helfen, die befreiende Wahrheit über dich zu erkennen . Wirklich, ich kann dir Wasser des Lebens zu trinken geben. Ja, Wasser, das dich nie mehr durstig sein lässt - solches Wasser bin ich - für dich!"

Der so redet, das ist der Jesus des Johannes-Evangeliums. Der Jesus, der sich immer wieder zum Stein des Anstoßes macht. Zur Lebens-Alternative. Der Jesus, der den Blickwinkel ändert. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Der Gute Hirte. Der Weinstock. Das Brot des Lebens und das Licht der Welt. Die Auferstehung. Und eben auch der, der selber das lebendige Wasser ist und Quellen des Lebens in uns zum Sprudeln bringt!

Ohne dass sie es wusste, hat die Frau, bereits von diesem Wasser gekostet. Und das auch gleich in der Fülle seiner Bestandteile. Sie erkennt die Tragfähigkeit des Glaubens an den Gott Sarahs und Abrahams; Jakobs und Rahels - aber nicht mehr in der Beschränkung auf den Blickwinkel ihrer kleinen Welt in Samaria. "Wahre Anbetung ist nicht abhängig vom ihrem Ort. Auch nicht von der Rechtmäßigkeit eines Heiligtums." Das ist das eine, womit Jesus ihren Horizont erweitert. Wahre Anbetung ist aber auch nicht nur eine Domäne von Männern. Dies hat sie im Gespräch mit dem fremden Mann Jesus bereits erlebt. Das ist das zweite.

Das dritte ist die gelungene Gottesbegegnung selber. Das Wasser des Lebens kann sie im Brunnen Jakobs nicht finden. Obwohl sie ohne das Wasser dieses Brunnens nicht leben kann. Aber im Gespräch mit diesem Fremden hat sie den Himmel offen stehen sehen. Hat sie die Menschenfreundlichkeit Gottes am eigenen Leib erlebt. Wird ihre kleine Welt für sie wieder lebbar. Weil sie sich aufgehoben weiß in Gottes großer Welt.

Lernt sie, in Jesus den zu sehen, der sie in unüberbietbarer Weise die Gegenwart Gottes schmecken und sehen, erkennen und feiern lässt. Die unbekannte Frau aus Samaria wird so für uns zur Brücke. Zur Brücke zwischen unterschiedlichen Traditionen. Sogar zwischen unterschiedlichen Religionen. Aufgepfropfte Zweige auf dem alten Ölbaum Gottes wird der Rabbi Paulus aus Tarsus bald darauf die Angehörigen der Bewegung des Jesus aus Nazareth nennen. Ganz ähnlich wie auch die Gottesanbeter auf dem Garizim in Samaria ein Zweig dieses Baumes der Gotteserkenntnis waren. Oder auf andere Weise manche Zweige, die heute neu treiben und die wir oft misstrauisch beäugen. Deren Saft aber aus der selben Wurzel gezogen wird.

Ein Wunder, dass wir leben, liebe Gemeinde. Eigentlich kein Wunder, weil Gott es ist, der in uns Quellen des Lebens zum Sprudeln bringt. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.