Predigt anlässlich des Gottesdienstes
zum Neujahrsempfang des Diakonischen Werkes
und des Diakonievereins Freiburg
am Dienstag, den 16. Januar 2001 in der Lutherkirche

16.01.2001
Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
liebe Freundinnen und Freunde unserer Freiburger Diakonie!

Gerade einen halben Monat ist dieses neue Jahr erst alt. Und schon gehört der Zauber des Anfangs wieder der Vergangenheit an. Ohne die Chance ihn zurückzuholen. Aus und vorbei.

Der Einstieg in das neue Jahr ist gemacht. Die Arbeit hat uns alle wieder eingeholt. Und selbst wenn es neue Aufgaben sind, die auf uns warten. Die Probleme sind im wesentlichen dieselben wie die, mit denen wir uns im letzten Jahr befasst haben. Neu ist die Jahreszahl. Aber der Austausch der Kalender allein hat keine Veränderung hervorgebracht.

Dennoch gibt es sie - diese Faszination des alljährlichen Neubeginns mit einem neuen Januar. Und ohne dass wir es merken, legt die Kette dieser Januar-Neu-Anfänge uns einen neuen Jahresring um. Bringt uns auf‚s neue dazu zu glauben, wir könnten es anders oder gar besser machen. Gut, dass dies so ist. Wenn wir diese Hoffnung aufgäben, legten wir eine wesentliche Triebfeder unseres Lebens lahm.

Lassen sie sich also auch auf‚s neue dazu verlocken, von diesem zurückliegenden Anfang den Beginn von etwas anderem, neuen zu erwarten.

Nehmen sie sich die Zeit. Und denken sie noch einmal darüber nach, was anders werden könnte oder müsste, wenn es in ihren Möglichkeiten läge. Wenn es in ihrer Macht stünde. Oder auch, was sie sich einfach vorgenommen haben. Für sich selber. Und im Blick auf andere. Vielleicht gelingt es ihnen auch, ihr persönliches Jahresmotto zu formulieren. Ein kurzer Satz, der wie ein persönliches Programm auf jeder Seite ihres Terminkalenders stehen könnte. Sie haben dafür jetzt einige Minuten Zeit.

- Musik

Spannend, könnte man zusammentragen, was jeder und jedem von ihnen in diesen paar Minuten durch den Kopf gegangen sein mag. Und sicherlich ein buntes Gemälde, wenn man es optisch sichtbar machen könnte.

Gesundheit wird als Wunsch sicherlich dabeigewesen sein. Berufliche Perspektiven werden bei manchen eine Rolle gespielt haben. Aber viel mehr noch Persönliches. Privates. Die Sorge um Beziehungen, die gefährdet scheinen. Durch nicht mehr gelingende Kommunikation. Durch Ereignisse, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Die Angst, Beziehungen könnten zerbrechen. Die Furcht auch vor der Macht des Todes, der einem Menschen wegnehmen könnte, die einem über alles lieb und wert sind. Ja auch die Furcht, er könnte Hand anlegen an uns selber.

Aber in unserem Gedanken-Mix wird auch das andere dabeigewesen sein: Die Aussicht des Neuanfangs und der neuen Herausforderung. Der neuen Lebensphase und der neuen Liebe.

Schwer genug, ein Jahresmotto zu finden. Ein Satz, ein in Worte geronnener Gedanke, der dies in Worte fasste: Vielleicht der, dass das Gute und Starke die Oberhand behalten, ja das Leben selber die sich durchsetzen könne. Vielleicht einfach nur die Erkenntnis, dass wir noch ganz anders leben könnten.

Jahres-Sätze kommen auch aus ganz anderen Quellen auf uns zu. In der evangelischen Kirche gibt es schon seit langer Zeit die gute Tradition der Jahreslosung. Ausgewählt mindestens drei Jahre zuvor. Und dann in Millionen-Auflage gedruckt. Unter große Bildposter geschrieben. In Büchern und Ansprachen gedreht und gewendet. Auf Weihnachts- und Neujahrskarten wiedergegeben wie auch in diesem Jahr wieder auf der des Diakonischen Werkes.

Machen solche Sätze einen Sinn? Kann es gelingen, die Brücke zu schlagen zwischen dem persönlichen Jahresthema und dieser offiziellen Jahreslosung? Ich will den Versuch wagen. Dazu muss ich uns allen das biblisches Jahreswort erst einmal in Erinnerung rufen. Es lautet.
In Christus liegen verborgen
alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.

Auf den ersten Blick ein richtiger Satz für kirchliche Insider. Sein Inhalt verborgen. Nicht für jedermann und jedefrau zugänglich. Und dies alles unter dem gewichtigen theologischen Vorzeichen: in Christus.

Um die Brücke zu schlagen, muss ich den Satz erst einmal von möglichen Vorbehalten befreien. Gleichsam seine Farbschichten freilegen wie der Restaurator eines alten Gemäldes, um dann womöglich noch ein neues Bild entstehen zu lassen.

Ich will den Satz von hinten verständlich machen, indem ich einsetze bei den beiden Begriffen Weisheit und Erkenntnis. Gleich zwei Begriffe aus der damaligen Weltanschauungsdiskussion greift der Schreiber dieses Satzes auf. Auf griechisch: Sophia und Gnosis. Diese beiden Begriffe standen für zwei Weltanschauungsprogramme, die damals auf dem Markt der Sinndeutung in höchstem Ansehen standen. So wie wenn wir heute Materialismus und Idealismus miteinander in Konkurrenz sähen. Oder Wissenschaft und Esoterik. Oder eine wie auch immer geartete Religiosität.

Weisheit und Erkenntnis - diese beiden Begriffe beschreiben heute nicht weniger als damals die zwei grundlegenden Lebenskonzepte auch unserer Gegenwart

Erkenntnis, das ist das Wissen darum, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das ist Einsicht in die Zusammenhänge unserer Lebenswelten im großen wie im kleinen. Erkenntnis, das sind genauso die Ergebnisse unserer wissenschaftlichen Bemühungen wie die private Deutung unserer Lebenszusammenhänge. Erkenntnis ist der Inhalt unserer Bildungsprogramme. Die Grundlage unserer Ausbildungsgänge. Erkenntnis, das ist das, was wir unseren vielen -und täglich vermehrten Handlungskonzepten zugrunde legen. Ohne Erkenntnis bleiben - so glauben wir - der Fortschritt und die erfolgreiche Vergrößerung unseres Einflusses und unserer Handlungsfelder auf der Strecke.

Mit der Weisheit ist es noch einmal etwas anderes. Weisheit kann man nicht einfach erwerben wie einen Bildungsabschluss. Sie fällt einem zu, und mit dem Lauf der Jahre hoffentlich immer mehr. Weisheit kann bedeuten, sich auch einmal scheinbar unvernünftig für das Wesentliche zu entscheiden. Und gegen das, was sich nur rechnet.

Die Weisheit wächst von innen heraus. Sie ist nicht methodisierbar und umsetzbar in Lehrpläne. Wer ein Weiser ist oder eine Weise - und der Bedarf ist immens - der oder die wird gehört - ohne mit Marketingkonzepten dafür erst werben zu müssen. Die Weisheit wirbt aus sich selbst.

Beides wird heute nachgefragt. Ja, manchmal gehen beide Programme durch uns hindurch wie ein Riss. Wir vermehren unsere Kompetenz. Gewinnen neue Einsichten. Treten mit guten Argumenten und nachprüfbaren Zahlen für unsere Absichten und Pläne ein. Und spüren die Unzufriedenheit darüber, spüren die Tragweite unseres eigenen Mangels selber womöglich am stärksten.

Mit Wissen die Welt uns unser Leben in den Griff bekommen wollen, das ist wie der Versuch, die Liebe nur noch durch Abläufe in unserer rechten Gehirnhälfte erklären zu wollen. Oder durch frühkindlich erworbene seelische Fixierungen. Deshalb bleiben wir immer auf Weisheit angewiesen. Auf die Bereitschaft, gar nicht alles erklären zu wollen, sondern das mesite im Leben einfach nur staunend wahrzunehmen.

Weisheit und Erkenntnis kommen am stärksten zur Wirkung, wenn die Balance zwischen beiden gelingt. Wohin Erkenntnis ohne Weisheit führen kann, bekommen wir tagtäglich vor Augen geführt. Dazu nur ein einziges, aber prominentes Beispiel aus den tagtäglichen Nachrichten.
Im Verlauf vieler Jahre sind wissenschaftliche Erkenntnisse auch in die Ställe der Bauernhöfe eingedrungen. Man lernte, die Erträge zu steigern. Durch entsprechende Zuchtverfahren. Durch angereicherte Nahrung. Durch zielgerichtete Haltungskonzepte. Wer nicht mitmachte, wurde verlacht. Und vom Markt verdrängt. Und jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Selbst die Wissenschaft weiß im Moment keinen Rat mehr. Unsere Nahrungskette ist bedroht. 400.000 Rinder sollen geschlachtet werden. Unglaublich, was bloße Erkenntis von Richtigkeiten am Ende hervorruft, wenn wir am Anfang auf Weisheit verzichten.

Aber auch Erkenntnis ohne Weisheit in ihrem Arbeitsbereich - im Bereich der Diakonie - manchmal können Sie vermutlich spüren, wohin das führen würde. Was helfen die besten Strukturen? Was helfen alle fachlichen Kompetenzgewinne und noch so zukuftsträchtige Bilanzen, wenn der Mensch auf der Streck bliebe. Was bleibe einem Menschen, der ohne persönliche Zuwendung allein Maschinen anvertraut wäre? Was bliebe einem Arbeitslosen jenseits korrekter staatlicher Zuwendungen ohne erlebte Gerechtigkeit. Was hülfe ein Neubau nach allen modernsten Erkenntnissen, wenn keiner meZr zeit hätte für die Menschen, denen er doch zugute kommen soll? Diakonie ohne Weisheit - das wäre bestenfalls Sozialkosmetik. Aber keine unverzichtbare oder gar glaubwürdige Wesensäußerung der Kirche.

Wie aber von der Balance der Weisheit und der Erkenntnis hinüberfinden zur Aussage der Jahreslosung aus dem Kolosserbrief? Zum Bekenntnis, alle Schätze, ja die Fülle von Weisheit und Erkenntis lägen in Christus verborgen. Die Denkweise der Menschen damals war zweigeteilt. Hinter der sichtbaren Welt - so stellte man sich das vor - gibt es - genauso real! - eine unsichtbare. Ein Welt voller Kräfte und Mächte, in der Gut und Böse miteinander im Streit liegen. Kräfte und Mächte zugleich, die unser Leben mitbestimmen. Eine Welt - vielleicht ein wenig vergleichbar der, die in den Büchern über Harry Potter so glänzend beschrieben wird. Um mit dieser Welt zurechtzukommen, muss man sie kennen und verstehen, so glaubte man. Nur so ließe sie sich aushebeln.

Der Autor unserer Jahreslosung bietet eine. wie er meinte einfachere Alternative. Es reicht, so will er sich verstanden wissen - es reicht, in den Undurchsichtigkeiten der Welt die Spur des Lebens nicht zu verlieren. Darauf zu vertrauen, dass Gott alle Spiele dieser Welt kennt - auch ihre Ränkespiel und ihre faulen Spiele. Es genügt, darauf zu vertrauen, dass Gott selbst am Ende das Spiel dieser Kräfte steuert. Dass Gott sie zu einem guten Ende bringen will. Garant dieser Einsicht ist für ihn, dass Gott sich in Jesus in diese Welt und ihre Spiele eingemischt hat. Unter diesem Vorzeichen werden beide - Weisheit und Wissen - gleichsam in den Horizont Gottes gestellt.

Weisheit und Erkenntnis - am Ende verdanken wir beides der Gewissheit, dass uns das Entscheidende im Leben als Geschenk zufällt. Dass wir es nicht machen müssen.

Dies könnte unser persönliches Jahresmotto für 2001 werden: Dem Spiel des Lebens vertrauen - und der Liebe selber - uns zum Greifen nah in Jesus, dem lebendigen Zeichen der Menschenfreundlichkeit Gottes in dieser Welt.

Dem Spiel des Lebens vertrauen und der Liebe selber! Erkenntnis gewinnen, wo Menschen unter der Ungerechtigkeit der Menschen und der Strukturen dieser Welt leiden. Weise werden in der Wahrung meiner Möglichkeiten, damit ich das Glück nicht vergeblich zu zwingen suche. Und doch im Angesicht Gottes darauf setzen, dass meine Zukunft meine Gegenwart allemal übertreffen wird.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.