Wie viel Ethik braucht / verträgt Politik?
Evangelische Akademie Baden am 13. / 14. Juni 2001
Donnerstag, 14. Juni 2001 - 14.00 Uhr

14.06.2001
Thesen

1. Auch wenn man gestern in den Nachrichten anderes hören konnte, wenn im Blick auf den derzeitigen Kirchentag zu hören war, es ginge um Glauben, Geld und Gentechnik; auch wenn aus dem evangelischen Raum immer wieder auch dezidierte Stellungnahmen zu Fragen auch aus dem Bereich "Politik und Gesellschaft" zu hören sind: Die evangelische Vielstimmigkeit - soll ich besser sagen: Vielberedheit - ist kein Zeichen der für sich gerne in Anspruch genommenen hohen Kompetenz der evangelischen Kirche, ihrer Institutionen und Gemeinden. Im Gegenteil: die evangelische Stimme ist auch im politisch-ethischen Diskurs von fallendem Wert. Dies ist zugleich begründet im protestntisch-konzeptionell bewusst gewollten Verzicht auf ein Lehramt und daher nicht einfach nur zu beklagen.

Auf der anderen Seite: Das Ausbleiben pointiert evangelischer Stellungnahmen ließ sich etwa im Blick auf die für die gegenwärtige Situation exemplarische Parteienfinzierungskrise der CDU ebenso verifizieren wie etwa im Kosovo-Krieg der NATO. Das singulär erreichte Niveau etwa der friedensethischen Diskussion und die Stellungnahmen der Kirchen standen in einem diametralen Gegensatz. In Erinnerung rufen möchte ich eine - sicherlich in hohem Maße vereinfachende - Überschrift der Badischen Zeitung in den Anfangstagen des Kosovo-Krieges, die lapidar lautete: "Bischöfe sind für den Krieg" - welch ein Gegensatz zum Bekenntnis der Nachkriegs-Ökumene: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!"

2. Mit der zweiten These versuche ich zumindest im Ansatz eine Begründung der ersten. Sie lautet: Evangelische Tradition hat Politik in einem halben Jahrtausend vereinfacht in zwei Strängen in den Blick gerückt: entweder in gelinde gesagt unkritischer Anlehnung - als Folge der lutherischen Position zur Obrigkeit - oder in nicht selten überzogen Distanz, die an die Stelle von konstruktiver Kritik sogar Verweigerung gesetzt hat; hier ist eher an die täuferisch-reformierte Linie zu denken, in beinahe synthetischer Reinheit formuliert etwa im Schleitheimer Täuferbekenntnis von 1527, wo es heißt, dass es "Christen nicht ziemt", selber "Obrigkeit zu sein", was eben die Wurzeln dieser Verweigerung beschreibt. Nur da, wo der Rat einer Stadt selber diese Gesinnung teilte wie etwa kurzzeitig im Waldshut Hubmaier‚scher Prägung, war aktive Politik erlaubt.

Nebenbei bemerkt: Die religiöse oder pseudolreligiöse Verbrämung von Politik nordamerikanischer Prägung vom Schulalltag bis zum Parteikongress, von den Medien ganz zu schweigen - halte ich nicht für einen weiterführenden Beitrag zu Thema des Verhältnisses von Politik und Ethik.

3. Es gibt in der zunehmend komplizierter werdenden Welt unübersehbar einen Bedarf und auch eine Nachfrage nach Orientierung; neuerdings manifest in der sowohl Betroffene wie Beobachter vielfach überfordernden Diskussion von PID, aktive Sterbehilfe etc. Insofern bei diesen Fragen der Gesetzgeber gefordert ist, handelt es sich auch hierbei um politische Fragen. Fragen politischer Ethik sind davon aber noch einmal zu unterscheiden. Hierbei denke ich etwa an Mechanismen der Entscheidungsfindung und Kriterienbildung.

Hörbar sind Stellungnahmen von engagierten einzelnen; in zeitlicher Distanz, manchmal sogar prospektiv Denkschriften und Akademietagungen. Als evangelischer Beitrag zur Ausbildung oder Förderung einer politischen Ethik reicht das nicht mehr aus. Die Zeiten der politischen Sprengkraft etwa der Ostdenkschrift sind vorbei!

Damit sind als Folge veränderte strukturelle Bedingungen die Kirchen mit ihrem im Grundsatz durchaus plausiblen Vorbehalt, sich aus dem aktuellen politischen Tagesgeschäft herauszuhalten, als Mahner nicht mehr präsent. Die Rat der EKD hat etwa in seiner ersten Erklärung zur Parteienfinanzierungskrise vom Januar 2000 ("Gerechtigkeit erhöht ein Volk") überwiegend zur Fairness im Umgang mit Betroffenen und Aufklärenden aufgerufen und von "Verfehlungen" von Menschen in politischen Ämtern gesprochen. Damit reiht er sich im Grund ein in die Reihe derer, die das Problem - im Vertrauen auf die kontrollierenden Mechanismen der demokratischen Institutionen - individualisieren.

Ich bin allerdings durchaus der Auffassung, dass der gegenwärtige grundsätzliche Relevanzverlust des politischen Systems sehr wohl strukturelle Ursachen hat, die auch für die Kirchen von Relevanz sind - insbesondere die teilweise schon spürbaren gesellschaftlichen Folgen.

4. Die vierte These richtet ihren Focus deswegen auf den Bereich der im engeren Sinn politisch Tätigen. Dabei stelle ich fest: Politikerinnen und Politiker sind - auch - Produkt unserer Erwartungen der Omnipräsenz und Omnikompetenz. Als Ergebnis der bisherigen Entwicklung unseres politischen Systems und infolge der zeitlichen Erfordernisse als Folge der Übernahme eines politischen Amtes hat sich zumindest auf der Ebene der Landes- und Bundespolitik die Gruppe der Berufspolitiker/innen herausgebildet. Spitzenämter werden - unbeschadet erworbener und vorhandener Kompetenzen - nicht zuletzt aufgrund von parteistrategischen Überlegungen vergeben. In der Regen wählt man heute spätestens am Ende der Ausbildung Politik als Beruf, zumal es viele Jahre dauern kann, ehe man sich durch die "Ochsentour" für ein verantwortliches Amt qualifiziert hat. Dass die Möglichkeit, Macht auszuüben, in besonderer Weise auch eine Faszination auf "Machtmenschen" ausübt, wird im übrigen niemand bestreiten wollen. Welch belebende Bereicherung "Quereinsteiger" - übrigens auch Aussteiger! - für die politische Kaste haben können, war nach dem Vereinigung der beiden deutschen Staaten offenkundig. Mittlerweile sind allerdings die meisten Personen aus diesem Kreis - leider! - assimiliert.

5. Dies bleibt nicht ohne Folgen: Wenn man ein Verstänndis von Demokratie im Sinne einer transparenten und möglichst weitgehenden Teilhabe möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung ihrer Lebenswelt voraussetzt, wird man folgendes Problem nicht übersehen können: Macht wird letztendlich nicht mehr an die Parlamente, sondern an Parteigremien delegiert. Machterhalt hat gegenüber der Verpflichtung hinsichtlich des Gemeinwohls nicht selten Priorität.

Dies liegt nicht am grundsätzlich schlechteren Charakter derer, die sich auf das "schmutzige Feld" der Politik begeben. Vielmehr stellt sich die Frage nach der Fähigkeit, Macht auch wieder abzugeben samt der Konsequenz der weiteren beruflichen Orientierung. Hier liegt der plausible Kern der Forderung nach einer Amtszeitbegrenzung und der Unvereinbarkeit von politischen Ämtern und Leitungsämtern in Parteien. Was sich in der Praxis unter den gegenwärtigen Bedingungen als nicht realisierbar erwiesen hat (selbst die bei den Grünen ist diese Position aus praktischen Gründen längst aufgeweicht), ist im Nachhinein als - unerfüllbare? Forderung rehabilitiert.

Wenn die persönliche Identifizierung mit einem politischen Amt keiner kontrollierenden Steuerung mehr unterliegt, hat dies eine nicht unproblematische Überbewertung der Rolle der Parteien in der politischen Entscheidungsfindung zur Folge. Die Parteiendominanz ist von der grundgesetzlich vorgesehenen Mitwirkung der Parteien an der politischen Meinungsbildung m.E. nicht mehr gedeckt.

6. Das System des zuschussgespeisten Finanzierungsmixes - nicht nur im Blick auf die Parteien, ebenso in der Wirtschaft, mit weniger Anteilen auch im privaten - hat, ähnlich wie beim Umgang mit Steuergesetzvorgaben - zu einem Umgehungswettberwerb geführt. Sieger ist, wer - in der Regel - unter Einhaltung der Spielregeln am meisten für sich an Land zieht. Gegebenenfalls werden die Spielregeln den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Erfordernissen der eigenen Partei oder Firma angepasst oder beabsichtigte Veränderungen im Vorgriff gewissermaßen gleich vorweggenommen. Die Quellen an den Rändern - oder auch hier: Grauzonen - sind nicht selten trüb oder führen zu unlauteren "Beschaffungspraktiken". Zunehmende Selbstverständlichkeit führt dabei zu einem Verlust des Unrechtsbewusstseins. Gerade die Bestätigung dieser These war in jüngster Vergangenheit beim Umgang mit dem Parteienfinanzierungskrise in aller Öffentlichkeit nachvollziehbar.

7. Das System der kleinen Unwahrheiten ist keines nur der großen Politik. Die gegenüber der Politik teilweise stark rigiden Äußerungen als Reaktion auf die Nachrichten aus dem politischen Raum - man könnte auch sagen das bisweilen fast masochistische Züge tragende Ergötzen an Skandalen aller Art - sie können durchaus auch daher rühren, dass uns die Krise der Parteien vielfach einen stark vergrößernden Spiegel von Verhaltensweisen mit durchaus größerem Verbreitungsgrad vor Augen hält. Wir erkennen, dass wir nicht nur Beobachter sind, sondern nicht selten dasselbe Spiel spielen oder zumindest mitspielen.

8. In der gegenwärtigen Krise geht es längst nicht mehr nur um Stilfragen oder um Fragen der konkreten Ausgestaltung des gegenwärtigen Systems unter sich verändernden Bedingungen. Vielmehr sind Orientierung und Profilierung ethischer Maßstäbe gefragt. Da die Politik sich diese richtungsweisende Orientierung nicht selber geben kann ("Das Wort, das dir hilft, kannst du dir nicht selber sagen!"), stehen wir hier als Kirche sehr wohl in der Verantwortung. Diese Verantwortung ist nicht in eigennutzorientierter Besserwisserei, sondern - als konkrete Form der Wahrnehmung des prophetischen Amtes - auch durch die Förderung der Bereitschaft zur Übernahme politischer Verantwortung wahrzunehmen. Dabei mag es durchaus der Überlegung wert sein, inwiefern wir in politisch schwierigen Zeiten - gleichsam als stellvertretenden diakonischen Dienst an der Gesellschaft - auch erfahrene Mandatsträger/innen in kirchlichen Ämtern - und davon haben wir wahrhaftig eine große Zahl - zur Übernahme eines politischen Amtes motivieren.

9. Zugleich muss dafür Sorge getragen werden, dass (a) die Mechanismen der Machtkontrolle wirksam blieben können und (b) die Parteiendemokratie flankierende Formen bürgerschaftlichen Engagements in ihrer Wichtigkeit wahrgenommen und bewusst gefördert werden. Im Jahr der Ehrenamtlichen darf gerade dieser Satz keine Platitüde sein.

Davon zu unterscheiden ist allerdings die gegenwärtig zu beobachtende Tendenz, politische Entscheidungen an das Verfassungsgericht bzw. an die Parteimitglieder in Form von Befragungen bzw. Abstimmungen gleichsam abzutreten. Hier liegt eher ein Signal der Entscheidungsunfähigkeit aus Angst vor den Mitliedern bzw. den Wählerinnen und Wählern vor.

10. Als Großorganisationen sind wir in der Kirche vor Entwicklungen, die denen im politischen Bereich ähneln können, nicht grundsätzlich gefeit (und man muss dabei den Blick nicht nur nach München richten). Im Blick auf unseren Umgang mit Leitungsverantwortung und mit Finanzen ist von uns höchste Sensibilität gefordert, wollen wir die uns immer noch mit hoher Akzeptanz zugeschriebene Fähigkeit zum - mindestens - mahnenden und orientierenden Zwischenruf nicht auf‚s Spiel setzen. Auch in unserer Arbeit gibt es eine Fülle von Grauzonen, die - überzogen - nicht nur Regelverstöße und Streit um Stilfragen, sondern auch Ungerechtigkeit und Unrecht produzieren können. Erinnert sei in diesem Zusammenhag an das mahnende Wort jesu aus der Bergpredigt: "Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Pharisäer . (.." Mt 5,20).


Schlussbemerkung

Krisen sind nicht einfach Folgen des "Niedergangs", sondern Zeiten des besonderen Chance für den Wandel. An die Kirchen möchte ich gerade in diesem Zusammenhang appellieren, nicht nur die Integrität der einzelnen politisch handelnden Persönlichkeiten einzufordern, sondern sehr wohl auch Fürsorge für das System selber zeigen. Es tut niemandem gut - und die Folgen könnten langfristig verheerend sein - wenn wir uns zu schnell an die "Überdehnung" der Grauzonen bis hin zum Bruch geltenden Rechts als politische Normalität gewöhnen. Schweigen aus scheinbarer politischer Neutralität kann am Ende eine politisch fahrlässige Handlung sein.


Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.