Brief zur Erfurter Katastrophe

25.04.2002
Wieder einmal hat uns Gewalt sprachlos gemacht! Dieses Mal nicht in irgendwo in einem anderen Land oder auf einem anderen Kontinent, sondern mitten in einer deutschen Großstadt. In einer Schule, dort, wo wir einen Ort der Ausbildung und Be-gleitung für die nachfolgende Generation vermuten. Lehrerinnen und Lehrer haben sich wie jeden Morgen auf den Weg zur Arbeit gemacht, Kinder und Jugendliche sind in großer Zahl wie immer in die Schule gegangen. Dieser Freitag- Vormittag in Erfurt endete für sie in einer großen Katastrophe. Über die Familien der Opfer hat sich eine Decke der Trauer gelegt. Diejenigen, die die grausame Tat mit ansehen mussten, werden diese Bilder ein Leben lang nicht mehr los werden. Entsetzen und Nichtver-stehen haben sich aber weit über den Ort des Schreckens hinaus verbreitet. Die Bilder gingen um die Welt und ließen überall Menschen den Atem anhalten. Lähmendes Entsetzen, Trauer, Hilflosigkeit, aber auch Wut und der Wunsch, sich in Sicherheit bringen zu können, begleiteten unsere ersten Reaktionen.

Die alten Fragen brechen von Neuem auf. Warum konnte so etwas passieren. Ist es gerecht, wenn es unschuldige Menschen trifft - mitten im Leben? Auch die Frage nach Gott haben sich viele in neuer Intensität gestellt: Wo war Gott an diesem Frei-tagmorgen? Wie können wir ungebrochen von seiner Weltzugewandtheit und seiner Liebe reden, wo Gewalt gestern bei den einen und heute bei und die prägenden Bilder in die Welt setzt. Wie kann man am Sonntag Kantate die Schönheit der Musik preisen, wo die leisen Töne der Trauer angebracht wären?

Jede und jeder hüte sich vor vorschnellen Antworten. Das Unerklärliche, das nur schwer Auszuhaltende, das unseren Glauben immer wieder in seinen Grundfesten Erschütternde ist beileibe nicht nur ein Rest. Viel zu oft ist es die bestimmende Er-fahrung. Und dennoch: Der Wochenspruch für diese Woche nach Kantate hat sich keineswegs erübrigt. Er ist die uns von neuem auferlegte Alternative: "Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder." (Psalm 98,1). Nur diese neuen, in Gott gegründeten Lieder können den Gesängen des Bösen etwas Wirksames entgegenset-zen. Trauer und Mitgefühl dürfen nicht in Lähmung enden, sondern im neuen Ver-trauen darauf, dass nicht die Ansicht der Gegenwart, sondern die Aussicht der Hoff-nung unser Leben bestimmen. Nicht vollmundig ist dies in der Welt zur Sprache zu bringen, sondern in der Sensibilität der gelebten Mitmenschlichkeit. Im ausgehalte-nen Schweigen. In den mitgeweinten Tränen. In der Infizierung durch die durchge-haltene Gewissheit, dass sich der Einsatz für das Leben lohnt.

Auch neue Waffengesetze und zu Festungen umgebaute Schulen bieten keine abso-lute Sicherheit. Die "gerechten Gerichte Gottes", von denen im Predigttext zu Kantate zu hören ist, meinen nicht die Wege der Rache und der Vergeltung, die in solchen Stunden nach dem Erleben von Gewalt oft vorschnell gefordert werden.. Die Verletzlichkeit bleibt Bestandteil unseres Lebens. Gottes Gericht will nicht vergelten, son- dern diese aus den Fugen geratene Welt zurecht bringen in Frieden und Gerechtigkeit.

Darum lassen Sie nicht ab von ihrer Predigt zu Kantate. Aber lassen sie Raum für das Gedenken an die Opfer und die Trauenden von Erfurt. Aber auch all diejenigen, die sich in großer Solidarität mitbetroffen fühlen. Durch eine Zeit des Schweigens im Buß- oder im Fürbittengebet. Durch Kerzen des Gedenkens. Durch Möglichkeiten des Einbringens von Bitten und Fürbitten, dort wo der Gottesdienst dies möglich macht. Aber vor allem auch durch das mutigen Singen der Hoffnungslieder. Die Erinnerung daran, wie oft diese Hoffnung Menschen schon getragen hat, wird uns dennoch singen lassen, zumal man Gott sehr wohl auch in Moll loben kann - aber auch im aus- gehaltenen Schweigen.

Ich wünsche Ihnen allen einen guten Samstag und einen gesegneten Sonntag.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.