Predigt über Hebräer 12,1-3
gehalten am 24. März 2002
im Gemeindezentrum der evang. Andreasgemeinde
in Falkau

24.03.2002
Glücklich sein - wie geht das, liebe Gemeinde? Wie gelingt es, so zu leben, dass wir das Gefühl haben, endlich am Ziel zu sein. So zu leben, dass wir aufhören können, ständig unseren unerfüllten Wünschen hinterherzulaufen. Dass wir zumindest für einen Augenblick durchströmt werden von dieser Gewissheit, dass wir uns keine Sorgen mehr machen müssen. Dass alles gut wird.

Das Magazin Focus widmete Anfang März dem Thema Glück seinen Hauptartikel. Als Weg zum Glück wurde keineswegs genannt, was man landläufig vielleicht vermuten könnte: Erfolg. Reichtum. Liebe. Gesundheit. Ekstatische Erfahrungen gleich welcher Art. Das Glück, so konnte man lesen, findet man in sich selbst. Und derjenige, dem man sich dabei anvertrauen soll und dessen Rezepte zum Glück über viele Seiten dargestellt werden, das ist der Dalai Lama. Das Christentum wird nur noch in wenigen Zeilen gestreift. Die christliche Position zum Thema Glück mit dem Satz wiedergegeben: „Nur wer Leid erträgt, wird Glück erfahren.“

Ist das wirklich alles, was wir zu diesem Thema beizutragen haben? Zu den Glücklichen scheinen wir Deutschen jedenfalls nicht zu gehören. 56 Prozent, so sagt Frau Noelle-Neumann, sehen im Genuss ihren Hauptlebenssinn. Aber seit 50 Jahren liegt die Zahl derer, die angeben, zumindest einigermaßen glücklich und zufrieden zu sein, immer unter 30 Prozent. Da der allgemeine Wohlstand in dieser Zeit um ein Vielfaches zugenommen hat, kann man daraus zumindest folgendes folgern: Geld und Wohlstand sind es auf alle Fälle nicht, die unser Glück garantieren. Sonst müsste mit der Wohlstandsrate auch die Glücksrate nach oben gehen.

Glück – was ist das überhaupt? Es gibt das Glück des Tüchtigen, das Glück, das jemand nach Meinung seiner Mitmenschen zurecht zukommt. Weil sich da einer engagiert. Weil sich da eine fast aufgeopfert hat. Wer so lebt, dem gönnt man sein Glück.

Es gibt aber auch das gänzlich unerwartete, das unverdient zufallende, das wahre Glück. Das Glück, mit dem niemand überhaupt rechnen konnte. Jene unerwartete Zuwendung von Gelingen und Zufriedenheit, deren Ursache Menschen schon vor Jahrtausenden den Göttern zugeschrieben haben.

Tatsächlich ist Glück ein zentraler Begriff aus dem Wörterbuch der Religionen. Jede Religion dient eigentlich dem Ziel, dass die Menschen mit dieser Religion glücklicher sind als ohne. Im Christentum ist zwar nicht so viel direkt vom Glück die Rede. Aber schon für Augustin war Glück einer zentraler Begriff seines theologischen Denkens. Und die biblischen Seligpreisungen sind eigentlich nichts anderes als Glückseligpreisungen. Als Wegweisungen ins Glück. Das deutsche „selig sind“ der Selipreisungen aus der Bergpredigt – es ist im Grunde eine unkorrekte Übersetzung dessen, was da wirklich steht. Richtiger müsste es heißen: Glücklich ist, wer sich einsetzt für Frieden. Glücklich ist, wer Hunger und Durst hat nach Gerechtigkeit. Glücklich aber auch die, denen Leid nicht erspart bleibt.

Behält aber am Ende also Focus doch recht? Ist das Erleben von Glück bei uns Christinnen und Christen tatsächlich an die Erfahrung des Leidens gebunden? Mit dem heutigen Sonntag beginnt die diesjährige Karwoche. Und im Mittelpunkt der Gottesdienste dieser Woche – heute am Palmsonntag, aber dann auch am Gründonnerstag und am Karfreitag – im Mittelpunkt stehen die Ereignisse des Passion Jesus. Und Passion heißt eben: Leiden. In der Karwoche bedenkt die Kirche seit fast zwei Jahrtausenden das Thema Leiden. Das Leiden Jesu von Nazareth.

In keiner Kirche fehlt die Darstellung des Kreuzes und damit der unübersehbare Hinweis auf eine lange und schmerzliche Leidensgeschichte. Nicht nur der eine am Karfreitag – nein! Unzählige sind über tausende von Jahren an Kreuzen und durch andere Folterinstrumente qualvoll gestorben. Und die Liste der Opfer von Unrecht und Gewalt in der ganzen Geschichte der Menschheit – sie ist unvorstellbar und mit dem Verstand nicht zu begreifen. Und mehr als einmal sind diese Erfahrungen in die Frage eingemündet: Wo warst du Gott? Wo bist du, Gott! Wie können wir deinen Gegenwart sicher sein und sicher werden?

Der Predigttext für den heutigen Palmsonntag kann uns hier weiterhelfen Er steht im 12. Kapitel des Hebräerbriefes in den Versen 1-3. Dort heißt es:

Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der soviel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.

Kann man glücklich werden mit einer Religion, die sich auf solche Texte gründet? Das Leben als Kampf gegen die Sünde, die uns ständig umstrickt. Laufen in dem Kampf, der uns bestimmt ist. Der Verzicht auf Freude zugunsten des Kreuzes. Das Christentum – eben doch die große Leidensreligion? Und deshalb für viele unserer Zeitgenossen nicht mehr attraktiv!

Wahr ist: Wir kommen nicht darum herum festzuhalten: Glaube im biblischen Sinn ist eng und untrennbar verbunden mit Jesus von Nazareth. Mit seinem Lebensweg. Seinem Eintreten für die Menschen an den Rändern. Mit seiner Leidensgeschiche. Aber auch mit der großen Erfahrung der Überlegenheit des Lebens am Ostermorgen.

Das Neue Testament kennt eine Reihe ganz verschiedener Modelle, um die Bedeutung des Lebens und Sterbens Jesu verständlich zu machen. Einige will ich nennen.

Das ist das Modell des leidenden Gottesknechtes. Ich will es das Stellvertretungs-Modell nennen. Die meisten von ihnen kennen insbesondere den Text aus Jesaja 53: „Fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten. Und durch seine Wunden sind wir geheilt“. Hier wird eine Sehnsucht ausgedrückt. Einen sollte es doch geben, der für uns eintritt. Einen, der das mit uns und für uns trägt, was uns selber einfach zu schwer wird. Einen, der dafür sorgt, dass wir endlich glücklich leben können. Der unbekannte Prophet aus dem sechsten Jahrhundert, von dem dieses Lied vom leidenden Gottesknecht stammt, nennt keinen Namen. Er lässt offen, wer diese Rolle übernehmen könnte.

Die Kirche hat diesen Text schon sehr früh auf Jesus bezogen. Sein Eintreten für die Menschen an den Rändern, sein Tod – so bekannte man – hat die Lasten getauscht. Ein anderer trägt nun, was uns klein machen und klein halten will. Stellvertretend. Und uns zugut.
Noch bekannter als dieses Modell der Stellvertretung ist das des Opfers. Dieses Modell schimmert etwa durch die Passionsberichte der Evangelisten durch. Es ist geprägt von der Opferpraxis der Religionen der damaligen Zeit. Im Sinne der Religionsgeschichte ist ein Opfer eine Handlung, mit der man sich die Götter gnädig stimmen will. Auf den christlichen Glauben gewendet, heißt das. Gott braucht ein Opfer, um uns gegenüber wieder wohlgesonnen, wieder gnädig gestimmt zu werden. Und da der Mensch gar nicht in der Lage ist, Gott ein würdiges Opfer darzubringen, opfert Gott sich gewissermaßen selber. Als Menschgewordener.

Grausam, sich so etwas vorzustellen. Schwer nachvollziehbar, und mit dem Gott der Liebe und dem Schöpfer dieser Welt doch kaum zu vereinbaren. Zu viele Opfer haben wir in dieser Welt zu beklagen: Kriegsopfer. Folteropfer Verkehrsopfer. Opfer der Verhältnisse.

Gott will diese Opfer nicht. Und sie helfen mitnichten, ihn gnädig zu stimmen. Solche Opfer machen Gott bestenfalls zornig. Dargebracht werden sie dem Gott Macht. Dem Gott Erfolg. Dem Gott Kommerz. Und wir müssen alles daran geben, damit die Opfer dieser unglückseligen Machart immer weniger werden.

Die Rede vom Opfer macht für mich Sinn nur in einem anderen Verständnis. Dann nämlich, wenn ich die befeiende und entlastende Erfahrung mache: Jemand tritt für mich ein, weil meine Kräfte nicht ausreichen. Oder weil er oder sie bereit ist, mehr einzubringen als andere. Oder mehr als ich es könnte. Und weil ich dafür keinen Preis zahlen muss. Solche Opfer sind Geschenk!

Er hat sich geopfert. Das sagen wir manchmal über einen Menschen. Und wir meinen damit: Er oder auch sie hat sich über alle Möglichkeiten hinaus eingesetzt. Hat die Sache anderer zur eigenen gemacht. Und damit sind wir im Grund erneut beim Stellvertretungsmodell. Da ist einer, der hat unsere Zerrissenheit, die Bruchstückhaftigkeit, die Unvollkommenheit unseres Lebens zu seiner Sache gemacht. Und hat uns dadurch neue Lebensmöglichkeiten eröffnet.

Der Hebräerbiref bietet ein drittes Modell der Deutung des Todes Jesu an. Zunächst ein sehr befremdliches. Aber am Ende eines, das unserem modernen Denken sehr nahe, sehr entgegen kommt. Der Hebräerbrief ist vermutlich in Rom geschrieben. Irgendwann in den 80er oder 90er Jahren des ersten Jahrhunderts.

Auch der Hebräerbrief setzt ein beim Opfermodell. Konkret beim Jüdischen Hohepriester. Dieser bringt einmal im Jahr beim großen Versöhnungsfest im Allerheiligsten des Tempels ein Opfer dar. Es soll die Sünden des ganzen Volkes sühnen. An dieses Modell lehnt sich der Schreiber des Hebräerbriefes an. Jesus hat sich ein für allemal geopfert, sagt er. Und macht damit alle weiteren Opfer unnötig und überflüssig. Mag das erstere, das Opfer, für uns heute schwer verständlich bleiben. Das letztere ist tröstlich. Ein für allemal. Weitere Opfer sind nicht nötig. Und auch hier schimmert wieder das Modell der Stellvertretung durch.

Und hier müssen wir auch weiterfragen. Wie funktioniert diese Stellvertretung? Wie wird das Opfer des einen in Kraft gesetzt für uns alle? Der Weg, den der Hebräerbrief hier vorschlägt, leuchtet ein. Es ist der Weg des Vorbildes. Des Vorbildes derer zunächst, die vor uns nach Gott gefragt haben. Die vor uns ihren Glauben gelebt haben. Man könnte auch sagen, die vor uns ihr Lebensglück in der Ausrichtung an Gott gefunden haben.

Das ganze 11 Kapitel des Hebräerbriefes und damit der Text, der dem Predigttext vorausgeht, beschäftigt sich mit diesen Vorbildern im Glauben. Eine Wolke von Zeugen nennt der Autor diesen Menschen. Und er spielt damit auf jene Wolke an, die den Israeliten nach der Flucht aus Ägypten den Weg durch die Wüste gewiesen hat. Im Eingangslied haben wir von dieser Wolke gesungen.

Wie diese Wolke, so können uns diese Vorbilder im Glauben den Weg weisen, meint der Schreiber des Hebräerbriefes. Durch ihr Vorbild. Durch die Art und Weise, wie sie ihren Weg gegangen sind. Wie sie die Konflikte und Krisen ihres Lebens gemeistert haben.

Derjenige, der alle dieses Zeuginnen und Zeugen noch übertrifft, das ist Jesus – so haben wir es im Predigttext gehört. Er ist der Anfänger und Vollender des Glaubens. Das heißt: Er ist uns voraus. Und ist uns zugleich auch hinterher. Wenn wir uns an ihm ausrichten, dann finden wir wahre Orientierung im Leben. Die Anforderungen, die uns gestellt sind, können die seinen nicht übersteigen. Nicht einmal dann, wenn es um’s Leben und ans Sterben geht.

Nein, dies ist kein Plädoyer für das Leiden als christlichen Heilsweg. Als christlicher Weg zur Glückseligkeit. Es geht nicht um Leiden um des Leidens willen. Es geht um Glauben, der selbst im Leid noch trägt. Der nicht nur die schönen Tage genießen, sondern die schweren aushalten hilft.

Vielleicht haben wir oft das zu wenig in den Blick gerückt. Und Jesus zu sehr als Abziehbild und zu wenig als Vorbild begriffen. Es stimmt, der Weg des Scheiterns und des Leides, er ist keineswegs ausgeschlossen. Das wissen wir alle. Aber verheißen, zugesagt, ist uns etwas anderes. Jesus hat die Menschen selig und glücklich gepriesen. Und der hat uns vorgelebt, dass der Tod nicht das letzte Wort hat.

Am Ende ist uns Glück verheißen. Glück schon mitten im Leben. Sogar mitten in seinen Widerwärtigkeiten. Glücklich sind, die auf-sehen auf Jesus. Auf den, der uns die Möglichkeiten des Glaubens in ihrer Fülle vorgelebt hat. Glücklich sind, die Heimat finden in einer Kirche, die Aufsehen erregend Kirche ist. Die Menschen anstiftet, aufzusehen zu dem, der mit seinem Leben an unsere Stelle getreten ist, um uns den Weg ins Leben freizuhalten.

Glücklich ist, dessen Glauben wurzelt in der Zusage dessen, was wir auf der letzten Seite der Bibel lesen:

    Gott wohnt bei uns.
    Und wir sind sein Volk.
    Und Gott wird abwischen alle Tränen von unseren Augen.
    Und der Tod wird nicht mehr sein.
    Noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.
    Denn Gott wird uns geben von der Quelle des Lebens.
    Umsonst.

Wenn das kein Glück ist, liebe Gemeinde!
Wenn uns das die Karwoche nicht aushalten lässt,
ehe uns in einer Woche das Licht des Ostermorgens aufleuchtet.
Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.