Predigt über Jesaja 42,1-4(5-9)
gehalten am Sonntag, den 13. Januar 2002
(1. Sonntag nach Epiphanias)
in der evangelischen Kirche in Bötzingen

13.01.2002
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Der Predigttext für den heutigen ersten Sonntag nach dem Epiphaniasfest steht beim Propheten Jesaja im 42. Kapitel. Wir wissen, dass ab dem 40. Kapitel des Jesajabuches nicht mehr der Prophet Jesaja spricht. Vielmehr finden wir ab Kapitel 40 Worte eines Propheten festgehalten, dessen Namen wir nicht kennen. Dieser Prophet wirkt in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts vor Christi Geburt. Die israelitische Oberschicht war damals nach Babylon verschleppt. Gegen Ende des babylonischen Exils hat dieser Prophet nun die großartige Aufgabe, seinem Volk die Heimkehr aus dem Exil und eine neue Zukunft in der Heimat anzukündigen.

Jesaja war ein Gerichtsprophet. Dieser Prophet, dem wir die Worte des heutigen Predigttextes verdanken, ist ein Heilsprophet. Mitten in die Heilszusage, mitten in die Ansage einer neuen Zukunft einsgepflanzt, finden wir vier Texte, in denen von Knecht Gottes die Rede ist. Das bekannteste dieser sogenannten Gottesknechtslieder, das vierte und letzte, steht in Jesaja 53; es jene Worte, die wir vor allem in der Passionszeit immer wieder hören und lesen: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Wir wissen alle: Die Kirche hat diese Gottesknechtslieder sehr schnell mit dem Wirken und dem Ergehen Jesu von Nazareth in Verbindung gebracht. Im weitere Verlauf der Predigt werden wir hören, wie es dazu kam.

Predigttext für den heutigen Sonntag ist das erste dieser Gottesknechtslieder. Wir finden es in Jesaja 42 in den Versen 1-4 und 6 und 7:

Siehe, das ist mein Knecht - ich halte ihn - und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.

So spricht Gott, der Herr: Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand und behüte dich und mache dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.



Liebe Gemeinde!

Die Sehnsucht nach Vorbildern und nach Menschen mit Führungskraft, nach Helden und Heiligen, ist in unseren Tagen nicht geringer als in früheren Zeiten. Man sucht nach Menschen, zu denen man aufblicken, an denen man sich orientieren und mit denen man sich identifizieren kann. Die Welt des Sports muss dazu ebenso herhalten wie die europäischen Königshöfe oder Prominente aus Politik oder dem Showgeschäft.

Gerade eine Woche ist es her, da haben die Medien etwa Sven Hannawald als den neuen König der Lüfte gefeiert. Er wurde bewundert, weil er das scheinbar Unmögliche möglich gemacht. Und das als einer, den man für die ganz große Leistung gar nicht wirklich auf der Rechnung hatte. Und dann steht er mit einem Mal ganz oben.

In den Medien waren wir in der vergangenen Woche täglich Zeuge, wie eine große politische Partei auf der Suche nach dem besseren Kandidaten oder der besseren Kandidatin für das Kanzleramt gewesen ist. Selbst in den christlichen Kirchen und Gemeinden sind wir vor dem Personenkult nicht gefeit. Gott sei dank wird er aber noch nicht – wie etwa in den Vereinigten Staaten – auch noch über die Bildschirme ausgetragen.

Worauf es jeweils ankommt ist klar. Was zählt, sind eine gute Redebegabung, Kompetenz, Durchsetzungsvermögen und – was anscheinend das Wichtigste ist – die Wirksamkeit in den Medien. Wer gewinnen will, muss die Säle füllen; muss die Einschalt-Quoten erhöhen. Er muss – wie es heißt - gut rüberkommen. So werden täglich auf’s neue Menschen mit dem Attribut großer Wichtigkeit versehen Doch längst nicht überall, wo „wichtig“ draufsteht, ist dann auch etwas Wichtiges drin.

Aber dieser Personenkult hat einen ernstzunehmenden Hintergrund. Gefragt und gesucht sind im letzten nämlich Menschen, an denen wir uns ausrichten können. Gesucht sind, vor allem in schwierigen Zeiten, sogenannte Hoffnungsträger. Menschen, die Zuversicht, Lebensfreude und Optimismus ausstrahlen: Menschen, die ein Konzept für die Zukunft haben. Solche Menschen kommen eben gut an.

Auch der heutige Predigttext spricht im Grunde von einem Hoffnungsträger. Aber von einem Hoffnungsträger ganz anderer Art. An sieben Beispielen wird aufgelistet, was er nicht kann. Und nur in einem Fall wird eine positive Fähigkeit dagegengesetzt. Damit liegt dieser Gottesknecht ganz gewiss nicht im Trend. Er gewinnt seine Bedeutung gerade dadurch, dass er ganz anders ist als die anderen.

Mit seiner Stimmer setzt er sich gerade nicht marktschreierisch in der Öffentlichkeit in Szene. „Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen.“ Das Motto, wer am lautesten schreit, setzt sich am Ende durch. Für diesen Knecht Gottes hat dies keine Bedeutung. Noch schöner klingt es, wenn weiter beschrieben wird, auf welche Weise dieser Knecht Gottes noch von sich reden macht. „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Kein Wunder, dass die Stärke dieses Gottesknechtes gerade in dem liegt, was er nicht tut. In dem, worauf er verzichtet.

Diese Zusage wird für uns bis heute geradezu zur Überlebensgarantie. Unsere Welt ist voll von geknickten Menschen. Voll von ausgebrannten Seelen, die nicht mehr viel an ihrem Leben finden. Partner weg. Arbeitsstelle weg. Der Traum von einer besseren Zukunft weg. Der Sinn weg. Karrieren führen nicht nur nach oben. Viel häufiger führen sie nach unten. Bringen sie unsere auffliegenden Hoffnungen und unsere kühnen Träume zum Absturz.

Voll von Krisen ist unsere Welt: Umweltkrise, Energiekrise, Wirtschaftskrise, soziale Krise, Krisen an den Börsen und im Gesundheitssystem Krisen im persönlichen Bereich kommen dazu: die Krise der Familie und der Kinder, die Krise in der Lebensmitte. Die Reihe ließen sich fortsetzen. Vieles, was angebrochen und angeknackst ist. Vieles, was nur noch ein Strohfeuer ist oder gar ein Herd verglühender Asche. Doch „das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“

Wie Sauerstoff, der in ein Feuer geblasen wird, muss diese Zusage wirken. Den Menschen wird nicht der Garaus gemacht. Die Schöpfung hat eine Zukunft. Das Leben bleibt heilig und wird nicht der Vernichtung preisgegeben. Nicht durch Programme wird dies erreicht. Und nicht durch veränderte Strukturen. Sondern durch einen Menschen. Den Knecht Gottes. Durch den, an dem Gott Wohlgefallen hat. Durch den, auf den Gott seinen Geist gelegt hat.

Gott wirkt in dieser Welt durch Menschen. Auch durch uns. Das ist das eigentliche Wunder. Und er wirkt auch nicht nur an einem Kreis auserwählter Heiliger. Nein, das Wirken des Gottesknechtes gilt den Heiden. Heiden sind aus damaliger Sicht diejenigen, die den Glauben an den Gott Israels nicht teilen. Gemeint sind die Völker, mit denen zusammen die Israeliten in ihrer Region der Welt leben. Die Nachbarn genauso wie die „auf den Inseln“ wie es heißt. Das ist unerhört – noch nie gehört – für die Menschen damals. Ihr Gott ist eben nicht nur ihr Gott. Sondern auch der der anderen. Er hat nicht nur sein Volk, sondern den ganzen Erdkreis im Blick. Mit diesem Gottesknecht beginnt in heutiger Sprache die Ökumene. Und sie beginnt mit dem Wirken eines aus der übrigen Menge Herausgehobenen, den Gott durch seinen Geist dazu berufen hat.

Es ist bemerkenswert, mit welchen Worten der Auftrag des Gottesknechtes für die Völker beschrieben wird. Recht wird der Gottesknecht ihnen bringen. Und Weisung. Recht und Weisung. Das meint keinen Katalog voll von Verboten und Vorschriften. Recht und Weisung, das meint Worte, die zum Leben verhelfen. Das umschreibt einen Freiraum, innerhalb dessen wir unser Leben nach Gottes Willen ausrichten und gestalten können.

Kein Gesetzbuch, das weitergegeben wird. Keine Paragraphen und Satzungen. Sondern das Zeugnis des Gottesknechtes als Hilfe zum Leben. Der Prophet hat dem Gottesknecht keinen Namen gegeben. Er hat gewissermaßen ein Modell geschaffen. Ein Maßstab, an dem sich die Menschen ausrichten lassen müssen, wenn ihr Handeln dem Willen Gottes entsprechen soll. „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. Auf Erden wird er das Recht aufrichten und die Inseln warten auf seine Weisung.“

Einen gibt es, von dem wir glauben, dass er diesen Maßstäben genügt hat. Dass er die Müden aufgerichtet und den gebeutelten Seelen neuen Lebensmut zugesprochen hat. Die Augen der Blinden hat er geöffnet und die Gefangenen hat er in die Freiheit geführt. Dies lässt er dem Täufer Johannes mitteilen, als dieser in seiner Gefangenschaft an ihm irre zu werden droht.

Der Evangelist Matthäus setzt schon in seinem Bericht von der Taufe, den wir als Evangelium gehört haben, Jesus mit diesem geheimnisvollen Gottesknecht in Beziehung. Wie auf den Gottesknecht, so legt Gott seinen Geist auf ihn. Wie am Gottesknecht, so hat er an ihm Gefallen. Und wie der Gottesknecht gilt ihm der Auftrag, dem Recht Gottes zum Durchbruch zu verhelfen. Und mitten in einer Schilderung des heilenden Handelns Jesu zitiert Matthäus im 12. Kapitel den ganzen Predigttext aus Jesaja 42. Und er will sagen, was Jesus selber sagt, als er in Kapernaum zum ersten Mal predigt: „Heute ist dieses Wort erfüllt vor euren Augen!“

Wie auf keinen anderen trifft die Beschreibung des Gottesknechtes auf Jesus zu. In ihm ist Gott in einer Weise gegenwärtig, dass wir ihn als Gottes Sohn bekennen. In ihm hat die Erfahrung der Bewahrung des schon geknickten Rohres und des Neuaufflammens des fast verloschenen Feuers Hand und Fuß bekommen. An seinem Leben und Sterben, an der Überwindung des in seiner Person wird offenbar, in welcher Weise dieser Jesus mit seinem Gott eins ist. In der Nachfolge dieses Jesus aus Nazareth hat eine weltweite Bewegung des Gottesglaubens begonnen. Bis an die Grenzen der Erde und unter die fernen Inseln findet die Botschaft Verbreitung, dass „Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“

Und wir? Wie finden wir die Brücke zwischen der Fülle der Wirklichkeit des Modells des Gottesknechtes in Jesus von Nazareth und unseren kleinen begrenzten Möglichkeiten? Der Wochenspruch aus Römer 8 kann uns hier weiterhelfen und Klarheit verschaffen: „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ Gottes Geist macht auch heute Menschen Beine. Gottes Geist verhilft auch heute zum Leben. Durch Menschen, auf die Gott seinen Geist legt.

Nachher werden die neuen Kirchengemeinderäte in ihr Amt eingeführt. Sie übernehmen Verantwortung in schwieriger Zeit. Die Frage der Pfarrstellenbesetzung muss geklärt werden. Weitreichende Entscheidungen über die Zukunft der Gemeinde sind zu treffen. Kirche hat es ohnedies nicht leicht in diesen Tagen, wo so viele andere die Menschen für sich zu gewinnen suchen. Und dabei in Kauf nehmen, dass geknickte Rohre zerbrochen und glimmende Dochte zum Erlöschen gebracht werden. Erfolg und Wachstum heißen die Zauberworte der Gegenwart. Für die Schwachen und die an den Rändern bleibt da kein Raum.

Gut, dass es Menschen gibt, die offen sind für Gottes guten Geist. Die sich rufen lassen, ihre Kräfte in den Dienst der Nachfolge in ihrer Gemeinde zu stellen. Für sie, die neuen Kirchenältesten gilt das. Für die Wahl eines neuen Pfarrers. Und es gilt für uns alle.

Gott ruft uns alle in seinen Dienst. Mit den Gaben, die wir ihm verdanken. Mit unserem Loben und mit unserem Schweigen. Mit kleinen Zeichen der Nächstenliebe, die so unendlich viel bewirken. Und die diese Welt verändern können. Und die seinem Recht zum Durchbruch verhelfen. Durch das Gebet. Und durch das Tun des Gerechten. Tief verankert in unserem Inneren. Und deutlich sichtbar mitten in der Welt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, seinem Sohn, und uns allen. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.