ANSPRACHE
IN DER ANDACHT AM BEGINN DER AMTLICHEN PFARRKONFERENZ
AM MITTWOCH, DEN 29. OKTOBER 2003
IM GEMEINDESAAL DER KREUZKIRCHE FREIBURG

29.10.2003
Liebe Schwestern und Brüder,

es mag zufällig und nicht geplant gewesen sein – aber es trifft sich gut, dass wir uns zu unserer heutigen Pfarrkonferenz zwei Tage vor dem 31. Oktober treffen. Der 31. Oktober ist ja bekanntlich immer noch der Gedenktag der Reformation. Und es ist mehr als eine traditionelle Pflichtübung, dass wir uns dies immer wieder in Erinnerung rufen. Längst hat dieser Tag Konkurrenz bekommen. Der größte Konkurrent ist womöglich ganz einfach das Vergessen. Und meist das Vergessen auch eigener Sicherheit. Aus dem uns ständig abverlangten Übergang zur Tagesordnung der Welt, die mit diesem Tag ganz anderes verbindet.

Weil dieser 31. Oktober in früheren Zeiten regelmäßig – und nicht nur im Ausnahmefall wie in diesem Jahr - schulfrei war, hatten sich längst die Banken und Sparkassen dieses Tages angenommen und ihn zum Weltspartag erklärt – womöglich als säkularen Reflex auf das alte Ablassthema. Seit einigen Jahren nun hat sich die geschäftewitternde Industrie dieses Tages angenommen und versucht, Halloween bei uns von neuem heimisch zu machen. Der Vorabend des Allerheiligenfestes war einmal von Irland aus in die USA eingewandert. Von dort kommt er jetzt wie vieles wieder über den Atlantik zu uns zurück - säkularisiert und kommerzialisiert und neu ideologisiert.

Und Reformation? Ich habe fast den Eindruck, es könnte mit dem Reformationsthema gehen wie mit dem Buß- und Bettag. Der Verlust des Vertrauten und Überkommenen haucht ihm wieder neues Leben ein. Die Selbstvergewisserung und der Rückbezug auf die Wurzeln, die Suche nach der eigenen protestantischen Identität auf den multikulturellen und multireligiösen Marktplätzen der Welt lässt auch uns wieder nach der Reformation fragen. Nicht selbstherrlich oder gar überheblich, keineswegs nur im Sinne der Traditionspflege oder auch nur irgendwie antiökumenisch. Sondern im Sinne der eigenen Standortbestimmung und der Sehnsucht nach nährenden Wurzelgrund, der uns Halt geben kann, wo so vieles in Fluss geraten ist.

Zunächst einmal steht Reformation zumindest dem Begriff nach auf allen gegenwärtigen Tagesordnungen. Zumindest in der leicht variierten Spielart der Reform. Reform ist das Zauberwort unserer Tage. Gesundheitsreform. Rentenreform. Reform der Sozialsysteme. Reformparolen allerorten. Meist im Sinne von Abbau mit dem Ziel der Kostenminimierung gebraucht. Eher selten im Sinne des Wortes und in der Absicht, nicht einfach nur ab-, sondern auch umzubauen. Mit der Absicht, zu den Formen zurückzufinden, die Bestand haben und die Zukunft sichern helfen.

Dabei haben die Reformation und die Reformprojekte unserer Tage durchaus einiges miteinander zu tun. Und zunächst gar nicht nur im Blick auf die Kernfragen des reformatorischen Geschehens. Im Blick auf Luthers Frage nach dem gnädigen Gott. Drei kleine Beispiele. Die Reformation war unter soziologischen Gesichtspunkten ein Projekt des Bildungsbürgertums. Und sie hat Bildung auf ihre Fahnen geheftet. Der Name Philipp Melanchthon ist dabei nur der prominenteste Protagonist. Nut der gebildete – und das hieß damals des Lesens und eben auch des Bibellesens Kundige war in der Lage, von der Freiheit eines Christenmenschen gewinnbringend Gebrauch zu machen. Eine zukunftsfähige Gesellschaft muss auch heute nicht einfach nur auf kurzfristiges numerisch messbares Wachstum, sondern unter dem großen Einsatz eigener Ressourcen auf Bildung setzen. Diese Investitionen zahlen sich langfristig mit Sicherheit aus.

Als zweites reformatorisches Thema möchte ich die Gerechtigkeit nennen. Nicht nur die, die aus Glauben kommt. Sondern die, zu der dieser Glaube fähig macht. Die Gerechtigkeitsbalance ist heute ins Wanken geraten. Nicht nur horizontal, sondern auch vertilal. Das meint: Die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Den Witwen und Waisen Recht zu verschaffen und Fremde zu beherbergen – das ist das alte und ewig junge Programm der christlich-jüdischen Ethik. Daran müssen sich unsere Regierenden welcher Farbschattierung auch immer messen lassen. Manches, was wir heute als Reform angeboten bekommen, fällt da sehr schnell durch alle Gerechtigkeitsmaschen.

Und dann – nach Bildung und Gerechtigkeit – das dritte reformatorische Thema: das Gewissen. „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Wohin sind wir eigentlich gekommen, wenn Menschen in der Wahrnehmung ihres Amtes als Abgeordnete, die nach den Vorgaben der Verfassung nur ihrem Gewissen verpflichtet sind und dabei von ihrer Gewissensfreiheit Gebrauch machen, ein ums andere Mal als Abweichler disqualifiziert werden? Was wäre gewonnen, wenn wir uns alle immer wieder auf’s Neue die Gewissenfrage stellten und nicht nur nach Nützlichkeitserwägungen und nach den Gesetzen der Bequemlichkeit oder gar der Ignoranz entschieden?! Die eigene, gut durchdachte und begründete und dann aber auch gegen den Strom der Mehrheit durchgehaltene Gewissensentscheidung ist womöglich der höchsten personale Zugewinne aus dem reformatorischen Zeitalter.

Nicht zu übergehen natürlich das andere, wesentliche: Die Frage nach dem gnädigen - oder mit Tilman Moser formuliert nach dem erträglichen – Gott. Das im Schwange-Halten der Gottesfrage; die Übertragung der Frage Luthers in unser Denken und in unsere so hochkompliziert gewordene Welt. Und dann natürlich auch das unablässige Bemühen um angemessene und glaubwürdige, vor allem dann aber auch verständliche Antworten.

Martin Luther hat aus der Intensität seines Fragens den Schluss gezogen, sich nicht länger dem Studium der Rechte, sondern dem der Theologie zu widmen. Dies war seine individuelle Entscheidung. Es müssen nicht alles Juristen zu Theologen werden, um die Welt in der Balance zu halten. Und der Gemeinschaft der Juristen wäre ein durchaus bemerkenswerter Vertreter wie der Referent des heutigen Morgens verloren gegangen, hätte auch er diesen Schluss für sich gezogen.

Aber es bleibt unverzichtbar, seine Lebensfrage zu finden und sie mit der Gottesfrage in Korrelation zu bringen. Martin Luther hatte seine Lebensfrage. Und nur so konnte er auch seine Lebensantwort finden. Luther findet – das wissen wir alle - seine Lebensantwort bei Paulus. Seine befreiende Entdeckung war: „Ich muss mich vor Gott nicht selber ins Recht setzen. Ich bin Gott längst recht.“ Man könnte es noch einfacher formulieren. Das Entscheidende im Leben widerfährt uns nicht als Ergebnis eigener Leistung, sondern als Geschenk. Und die Befreiung vom Zwang, uns über das zu definieren, was wir selbst erschaffen und geschafft haben, macht uns frei, uns mit allen Kräften in die Gestaltung dieser Welt einzubringen. Gerade wir Theologinnen und Theologen sind selber sind hier vor entsprechenden Anfälligkeiten keineswegs gefeit. Kein Wunder, das Luther im Rückblick über die gefundene Antwort auf seine Lebensfrage die bekannten Worte schreibt: „Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Türen trat ich in das Paradies selbst ein.“

Wo Gott selber nicht mehr Gegenstand unseres Fragens bleibt, findet die Frage nach dem gnädigen Gott, schon gar keinen Wurzelgrund mehr. Falsche Annahmen haben sich hier als obsolet erwiesen. Denn die Gottesfrage an sich hat sich in unserer säkular gewordenen Gesellschaft genausowenig erledigt wie die Frage nach dem gnädigen Gott. Und das eine hängt mit dem anderen überdies ganz eng zusammen.

Die Frage nach Gott hat dabei ihre Gestalt durchaus immer wieder verändert. Vielfach ist sie der Kirche ganz einfach aus den Händen geglitten oder aus den Händen genommen worden. In anderen Fällen hat sie sich in die Randzonen der Rechtgläubigkeit niedergelassen oder ist gar ganz aus dem Bereich kirchlichen Mitspracherechtes ausgewandert.

Diese Beobachtung muss uns nicht von vornherein beunruhigen. Wo ein Monopol gefallen ist, hat dies der Verbreitung einer Ware längst nicht immer geschadet. Anders ausgedrückt: Die Frage nach Gott hat sich verselbständigt. Sie stellt sich in einer Zeit eines nahezu grenzenlosen Individualismus gewissermaßen für jeden und jede anders und neu.

Wenn ich bei die Frage nach Gott aber plötzlich auf mich alleine gestellt bin, dann ist die Gefahr groß, mich dabei aber auch zu übernehmen. Auszuhalten ist die Frage nach Gott darum nur als Frage nach dem gnädigen Gott. Ja, gut reformatorisch müsste man eigentlich sagen: Nur wo nach dem gnädigen Gott gefragt wird, wird überhaupt nach Gott und nicht nach einem Zerrbild Gottes gefragt.

Oft ist es tatsächlich erst die erlittene Gottesverhüllung, die Erfahrung der auf uns lastenden und uns belastenden Schatten Gottes, die überhaupt wieder neu nach Gott fragen lässt. Aber es muss nicht so sein. Nur – anders als in unseren Erfahrungen haben wir keinen Zugang zu Gott. Gott ist immer „Gott für“. Und darin von uns abhängig. Und erst die Erfahrung des gnädigen Gottes macht Gott dann für uns erträglich. Doch erst der von der Abhängigkeit von unserer subjektiven Erfahrung losgelöste Gott kann auch zum befreienden Gott werden.

Luthers reformatorische Erkenntnis weist uns einen Weg zu dieser Befreiung. Gott wird zum Gott für uns nicht allein in der missverständlichen und allemal interpretationsoffenen Erfahrung, sondern zuallererst und zutiefst in dem, was wir meinen, wenn wir von Glauben sprechen. Glauben, so verstanden, heißt, sich vor aller Erfahrung in Gott aufgehoben und Gott selber in unserer Mitte zu wissen. Gott ist nicht mehr der unerreichbare Gipfel menschlichen Bemühens um Erfahrung. Gott ist dann vor allem der Grund, der uns trägt, und die Quelle, aus der wir unsere Sehnsucht nach Glück und nach Gelingen nähren - auf den Höhen und in den Tiefen unseres Lebens.

In diesem Sinne gönne ich uns allen eine immerwährende Neuentdeckung dessen, was das Anliegen der Reformation war. Und wer weiß, vielleicht machen wir gerade auch heute morgen solch horizonteröffnende Erfahrungen. Amen.



Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.