"WAHR MENSCH UND WAHRER GOTT“
PREDIGT ÜBER HEBRÄER 1,1-4
GEHALTEN AM 26. DEZEMBER 2003
IN DER LUDWIGSKIRCHE IN FREIBURG

26.12.2003
Gott wird Mensch, dir Mensch zugute.
Gottes Kind’, das verbind’
sich mit unserm Blute.


Unglaublich, was wir da vorhin im Eingangslied gesungen haben, liebe Gemeinde. Gott wird Mensch. Mit den Möglichkeiten unseres Denkens kaum nachzuvollziehen. Bestenfalls zu bekennen als Teil des Glaubens der Kirche, der unserem eigenen Glauben immer voraus ist. Nachzusingen wie in diesem und in anderen weihnachtlichen Liedern. Gott wird Mensch. Knapper kann man das Geheimnis der Weihnacht nicht in Worte fassen. An Weihnachten feiern wir, dass zusammenkommt, was eigentlich schon von vornherein gar nicht zusammen geht: unglaublich!

Aber Weihnachten ist ohnedies das unglaublichste aller Feste. Was sich da abspielt vor unseren Augen ist allemal paradox. Bisweilen nahezu absurd. Fast die Hälfte aller Deutschen weiß nicht mehr, was an Weihnachten gefeiert wird, wenn man einer Umfrage trauen kann. Und doch besuchen mehr als ein Drittel über Weihnachten einen Gottesdienst. Nur weil Weihnachten ist. Einfach unglaublich.

Menschen lassen sich auf Begegnungen ein, vor denen sie sich ein Jahr lang gescheut haben. Besuchen endlich wieder einmal die hochbetagte Tante. Schreiben dem schon lange aus der Kontaktliste gestrichenen Freund. Wagen sich an den Rand des verdrängten Konfliktherdes oder mitten hinein. Die eingeübten Vermeidungsrituale versagen, nur weil Weihnachten ist. Einfach unglaublich.

Die Geschäftswelt stand über Wochen Kopf. Was am Jahresumsatz noch fehlte, sollte in den Wochen vor Weihnachten erwirtschaftet werden. Koste es, was es wolle. Für die Geschäftsleute, die in Lichterketten und weihnachtliche Dekoration investieren. Für die Kunden, die nicht selten über ihre Verhältnisse leben. Und mitten im aufwendig erzeugten Kaufrausch blühte auch noch die ernstgemeinte Absicht, einem Mitmenschen mit einem Geschenk eine Freude zu machen. Nur weil Weihachten ist. Einfach unglaublich.

Wie kein anderes Fest unterbricht Weihnachten die Abfolge unseres täglichen Allerlei und Einerlei. Grundsätzlich und elementar. Auch wenn vieles an den Tagen danach wieder an die Oberfläche dringt. Weihnachten markiert eine Zäsur. Bringt eine Erwartung zum Höhepunkt, die sich immer mehr aufbaut in den Tagen zuvor. Die unsere Sehnsucht bedient, die Verhältnisse mögen, wenn sie ich schon nicht ändern, ihre düsteren Seiten doch für kurze Zeit verdecken und uns eine Atempause gönnen. Weil eben Weihnachten ist. Einfach unglaublich.

An Weihnachten haben die Gefühle ihr Recht. Da lassen wir uns anrühren. Da schämen wir uns nicht einmal unserer Tränen, wenn uns die Stimmung zu Herzen geht. Wenn ungeübte Stimmen sich zaghaft wieder an ein Lied heranwagen und aus der Erinnerung Versatzstücke längst verschollen geglaubter Text ans Licht drängen. Wenn wir den Kinderaugen das Stauen abschauen und dem Geheimnis wieder alle Vernunft Raum lassen. Es muss ja nicht jede Decke gehoben und jede Botschaft auf ihren vermeintlichen Kern reduziert – es muss nicht gleich alles relativiert werden. Dass wir uns – zum größeren Teil – guten Gewissens auf Weihachten einlassen – gestern, heute und uns womöglich noch über den nächsten Sonntag weihnachtlich hinwegretten. Auch dies ist einfach unglaublich.

Was gäbe es denn da noch zu glauben an diesem Fest der Weihnacht? Was gäbe es da noch zu bestaunen, außer dass uns die Geburt eines Kindes, irgend eines Kindes, anrührt weil sie und das Geheimnis des Lebens vor Augen führt. Was gäbe es da noch zu feiern, außer dass uns Lichter eben gut tun in den dunkelsten Nächten des Jahres.

Was gäbe es da noch an wirklich Neuem zu hören , als die Feststellung, dass sich kein Mensch dem Zauber entziehen kann, der auf all den Geschichten liegt, die mit einem Mal die Kleinen ins Licht rücken. An Weihnachten eben Maria und die Hirten. Den Holzhandwerker Josef, dem Gott ein ums andere Mal in Träumen erscheint. Das kleine Städtchen Bethlehem in der hintersten Provinz des römischen Reiches, dem seine weihnachtliche Prominenz immerhin Aufmerksamkeit sichert, wenn dort wieder Gewalt und Gegengewalt aufeinanderstoßen.

Doch die weither angereisten Männer kommen dieses Mal nicht als Kommissäre der Großmächte, die ihre Einfluss sichern und die Zonen der Machtausübung sondieren wollen. An Weihnachten kommen sie als sternenkundige Magier, die dann schon einmal gerne in den Adelsstand erhoben und gar zu Königen ernannt werden. Die Großen dieser Welt haben für die Kleinen endlich einmal einen Blick und sogar Geschenke übrig. Sie machen dem kleinen unbedarften Kind ihre Aufmachung. Zu wenig, als dass es nur unglaublich ist. Zeit vielmehr der Frage nachzugehen: Was gibt es da denn wirklich zu feiern, an Weihnachten?

Antwortenmöglichkeiten gibt es genug. Wir könnten uns ein weiteres Mal die Berichte der Evangelisten vor Augen und Ohren führen, die uns alle Jahre wieder mit ihrer schlichten Schönheit und ihrem anmutigen Charme verzaubern. Wir könnten aber auch auf die Worte hören, die heute als Predigtext vorgeschlagen sind. Weihnachtlich nicht aus sich selber heraus, sondern dadurch, dass wir sie im Licht der Weihnacht lesen und hören – und dass wir sie heute in eben diesem Licht zu verstehen versuchen. Ein einziger Satz im griechischen Original. Um der Verständlichkeit willen in der Übersetzung in zwei deutschen Sätzen widergegeben. Da heißt es am Beginn des Hebräerbriefes:

1 Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, 2 hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat. 3 Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe 4 und ist so viel höher geworden als die Engel, wie der Name, den er ererbt hat, höher ist als ihr Name.

Es hat wohl erst unseres postmodernen Zeitalters bedurft, die Botschaft dieses Textes zu widerlegen, liebe Gemeinde. Höher als die Engel. Vielleicht. Aber nur noch auf Platz zwei hinter des seligen Mutter Theresa. Dies hat zumindest eine Umfrage in England ergeben, von der die Times berichtete. Gefragt wurde nach dem mitfühlendsten Menschen aller Zeiten. Der, dessen Geburt wir wieder feiern in diesen Tagen, liegt immer noch auf Platz 2 – vor Lady Di und Florence Nightingale. Vor Nelson Mandela und Mahatma Gandhi.

Auf aussichtsreicher Position eingereiht zwischen anderen Personen der Zeitgeschichte. Doch höher als die Engel, wie der Predigttext sagt? Wir sollten schon den zweiten, genaueren Blick auf diesen Anfang des Hebräerbriefes werfen. Unter weihnachtlicher Perspektive. Unter weihnachtlichem Licht. Bei der Lektüre eben war der Text mit einem weihnachtlich-musikalischen Fundament unterlegt und kontrastiert. Dies war ein erster Versuch, ihn im Blick auf den heutigen Tag zum Sprechen zu bringen.

Normalerweise ist der Hebräerbrief für diese Kirchenjahreszeit gänzlich unverdächtig. Ein Dokument einer frühchristliche Gemeinde, geschrieben zwei, drei Generationen nach den Ereignissen, die wir feiern in diesen Tagen. Im Mittelpunkt dieses Briefdokumentes steht der hohepriesterliche Dienst Christi – das Amt der Versöhnung durch den, der uns, wie wir im vierten Kapitel lesen, in allem gleich wurde – nur ohne Sünde.

Überraschend – und womöglich doch weihnachtlich überraschend die so ganz anders geartete Ouvertüre dieses Briefes. Sprachlich kunstvoll gestaltet. Den Blick auf den erhöhten, ja fast entrückten, kaum noch wirklich menschlichen Sohn gerichtet. Und zugleich verbunden mit einer ganz klaren Botschaft: Gott spricht. Gott hat schon immer gesprochen. Er spricht aber gleichsam unüberbietbar in diesen Tagen durch den Sohn. Dies ist also gleichsam in die Sprache des Hebräerbriefes übersetzt, was sich an Weihnachten ereignet: Gott wird Mensch!

Und doch macht es erhebliche Mühe, den Menschgewordenen überhaupt zu entdecken. Das Bild einer Ikone wird uns vor Augen gemalt. „Abglanz der Herrlichkeit“ wird der Menschgewordene genannt. Und „Ebenbild des göttlichen Wesens“. Vor allem Anfang war er, seit den Tagen der Schöpfung. Und nach allem Ende wird er sein: Als Erbe dessen, der diese Welt ins Dasein gerufen hat.

Doch wie kann der, der zur Rechten der himmlischen Macht sitzt, in eins Kommen mit dem bedürftigen Bündel Mensch im Unterschlupf von Bethlehem? Wie kann der, dessen göttliches Wesen uns hier nahezu unüberbietbar vor Augen gestellt wird, zugleich der Platzhalter Gottes unter uns Menschen sein. Gott und Mensch – wie kommen sie zusammen? Wie kann wahr werden, was wir an Weihnachten feiern – und singen:

Gott wird ein Kind,
träget und hebet die Sünd:
alles anbetet und schweiget.


Wie kann das sein? Diese weihnachtliche Frage ist nicht nur die unsrige. Sie ist Teil der Geschichte des Bekenntnisses der Kirche. Gegen Arius und alle Widerstände hatte das Konzil im vierten Jahrhundert die Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater entschieden. Und die Kirche damit zugleich vor die nächste Anfrage gestellt. Wie geht das zusammen? Wie verhalten sich Göttliches und Menschliches in diesem einen?

Das fünfte Jahrhundert – genauer gesagt das Konzil von Chalcedon aus dem Jahr 451 fügt einen neuen und zusätzlich tragen Balken in das Bekenntnisgerüst der aufblühenden Kirche ein. „Vere Deus“ und vere homo“ sei dieser Christus. „Wahrer Gott“ und „wahrer Mensch“. „Unvermischt“ und „ungetrennt“ blieben die beiden Naturen in Christus bestehen – nicht zu vermengen und nicht zu verwandeln. Und Maria erhält dann endgültig den Würdetitel einer „Gottesgebärerin“ zugesprochen – eine Würdigung, um deren Rechtmäßigkeit man nicht nur Disputationen, sondern – Gott sei’s geklagt – auch heftigste Kämpfe um Leben und Tod geführt hat.

Ein genialer und folgenreicher Formelkompromiss war die Entscheidung von Chalcedon – die theologische Legitimierung dafür, dass wir überhaupt Weihnachten feiern können. Schließlich ist die Christnacht, dieses Lieblingsfest der Mehrheit der Menschen in unseren Breiten, nur die wesentlich jüngere Schwester der Osternacht. Leichter schien es wohl, an die Auferstehung zu glauben, als an die Menschwerdung des alles Menschliche übersteigenden Gottes. Dabei ist das weihnachtliche Wunder kein anderes als das der Ostern – nur zurück projiziert in den Anfang. Neues Leben inmitten des an seine Grenzen gestoßenen alten – eben das feiern und singen wir doch auch schon an Weihnachten.

„Wahr Mensch und wahrer Gott,
hilft uns aus allem Leiden,
rettet von Sünd’ und Tod.“


Die Konsequenzen der Weihnacht sind für uns der Schlüssel, um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Schließlich sind wir seit der Entscheidung des fünften Jahrhunderts frei davon, das Wunder der Weihnacht erklären zu müssen. Wir brauchen nicht dem Zwang erliegen, auch noch den letzten Winkel des bislang Unerklärlichen ans Licht zerren wollen. Zumindest am Fest der Weihnacht mühen wir uns mit diesem Ziel vergeblich ab. Nicht wir sind es, die Licht ins Dunkel der Weihnacht bringen. Vielmehr bringt das Fest der Weihnacht Licht in die Dunkelzonen unseres Lebens. Die Weihnacht befreit uns davon, das Geheimnis des Lebens nur in der Abfolge der genetischen Informationen zu sehen. Genauso wie sie uns befreit, den Glauben an die Wirklichkeit Gottes nur durch die Abspaltung eines Teils unseres Bewusstseins als Denkmöglichkeit zu erhalten.

„Wahr Mensch und wahrer Gott“ – das geht. Doch nicht so, dass irgend eine göttliche Kraft irgend einen Menschen zu den Himmlischen entrückt. Die Menschwerdung Gottes will zuallererst unsere eigene Menschwerdung ermöglichen. Und das scheinbar leichtfertig dahingeworfene Sprichwort trifft die Wahrheit geradezu auf den Kopf: „Mach’s wie Gott, werde Mensch!“ Auch wenn wir’s - gottseidank – nicht machen müssen. Trotzdem: Menschwerdung ist uns seit der ersten Christnacht als Programm aufgetragen.

Menschwerdung – das meint, so zu leben, wie Gott uns gemeint hat. Dem Leben auf der Spur – und nicht der Absicherung der eigenen Pfründe. Der Gerechtigkeit verpflichtet – und nicht der Abgrenzung von Interessenssphären. Dem Menschen zugewandt – und nicht daran interessiert, andere von sich abhängig zu machen.

Die Liste der mitfühlenden Menschen, von der ich vorhin gesprochen habe, mag uns in ihrer Oberflächlichkeit fragwürdig bleiben. Aber sie ist allemal ein Beleg dafür, dass Menschen sich einlassen auf diesen Weg der eigenen Menschwerdung. So wie jene jungen Leute, die sich nicht scheuen, sich als menschliche Schutzschilde zwischen militärischen Konfliktparteien niederzulassen. So wie jene Angehörigen israelischer Eliteeinheiten, die den Mut haben, sich weiteren Einsätzen gegen diejenigen zu verweigern die wie sie ein menschliches Antlitz tragen. So wie jene Menschen mit Zivilcourage, die den Mund aufmachen, wenn vor unser aller Augen Menschen verunglimpft oder sogar geschlagen werden. So wie jenen Menschen hier in Freiburg, die Heiligabend mit denen verbringen, die auch an Weihnachten keinen Raum in der Herberge finden.

Das Kind in der Krippe ist diesen Weg der Menschwerdung konsequent gegangen. Je tiefer es sich einließ auf diesen Weg des Menschlichen, desto mehr kam der Abglanz der Herrlichkeit und Ebenbild des göttlichen Wesens zum Leuchten. Denn gerade dadurch bleibt Gott bei seinem Eigenen, dass er sich einlässt auf die Wirklichkeit des so ganz anderen: auf diese Welt und die, die auf ihr leben und sie gestalten. Das ist es, was wir gerade an Weihnachten feiern und bekennen. Das, was wir auch immer wieder singen:

Er äußert sich all seiner G’walt,
wird niedrig und gering
und nimmt an eines Knechts Gestalt,
der Schöpfer aller Ding.


An Weihnachten feiern wir eben, dass zusammenkommt, was eigentlich schon von vornherein gar nicht zusammen geht: Gott und Mensch. Unglaublich! Aber Grund genug zum Feiern. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.