Predigt
über Matthäus 28, 16-20
gehalten am Sonntag, den 27. Juli 2003 (6. S.n.Tr.)
in der Pauluskirche in Freiburg

27.07.2003
Kanzelsegen
Gnade sei mit euch und Frieden von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

„Ich bin gerade noch rechtzeitig operiert worden“, sagte eine jüngere Frau bei meinem Besuch im Krankenhaus zu mir. „Es war schon Matthäi am Letzten.“ Wenn es Matthäi am Letzten steht, liebe Gemeinde, dann trennt uns nur noch ein kleiner Schritt vom Absturz ins Bodenlose. Steht es heute Matthäi am Letzten um die Paulusgemeinde oder gar um die evangelische Kirche in Freiburg?

Wie gut, dass wir im heutigen Predigttext eine klare und eindeutige Antwort auf diese Frage bekommen. Und eine negative dazu. Gott will, dass wir Hoffnung und Zukunft haben.

Matthäi am Letzten führt uns heute aber der Predigttext für den heutigen sechsten Sonntag nach dem Trinitatis-Fest. Und ich hätte keinen besseren Text für diesen besonderen Gottesdienst auswählen können wie eben den für heute vorgeschlagenen.

Matthäi am Letzten – so zitierte einst auch Martin Luther, wenn er von jenem biblischen Abschnitt sprach. Die heute gebräuchlichen Versangaben waren damals noch nicht üblich. Sie stammen erst aus einer Ausgabe des Neuen Testaments des Pariser Buchdrucker Robert Stephanus aus dem Jahre 1551. Hört jetzt, was wirklich Matthäi am Letzten steht: aus Matthäus 28, die Verse 16-20:

Predigttext
Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Kanzelgebet
Du legst uns deine Worte und dein e taten vor. Herr, öffne unsere Herzen und unser Ohr

Es steht Mathäi am Letzten in Freiburg - gegen Ende des Jahres 1348, liebe Gemeinde. Seit Wochen wütet die Pest. Und sie fordert eine große Zahl an Opfern. Ein Drittel der damals 6000 hier lebenden Menschen fällt dieser Geisel der Menschheit zum Opfer. 4000 bleiben übrig. Das gut einhundertjährige Münster wird in seinen beachtlichen Dimensionen gewiss nicht mehr benötigt. Und die Gemeinde reagiert.

Aber sie reagiert ganz anders wie wir das heute tun. Sie beschließt, mit dem Glauben an Gott künftig noch ernster zu machen. Wenige Jahre später im Jahre 1354 - beginnen die Freiburger Bürger das Gotteshaus zu vergrößern. Man baut den Chor mit seinen vielen Kapellen, um noch mehr öffentliche Orte des Gebets zu schaffen. Erst so wird der bis heute vielbeachtete Übereinstimmung der Länge des Münsters mit der Höhe des Turmes erreicht. Eine Investition aus Glauben in den Glauben war das. Wir können heute nur mit Staunen zur Kenntnis nehmen, welche Bedeutung für die Menschen damals ihr Gotteshaus einnahm.

Längst ist diese Stadt voller Kirchen. Kirchtürme prägen die Silhouette. Erst neuerdings machen weltliche Türme wie etwa der am Bahnhof den kirchlichen Konkurrenz. Auch das ein Symbol einer veränderten Wirklichkeit. Steht es Matthäi am Letzten um die Kirche in Freiburg?

Sie haben die Worte des Predigttextes gewiss noch im Ohr. Wir alle kennen diese Worte, liebe Gemeinde. Und kaum jemand hat die letzten Verse nicht schon im Konfirmandenunterricht auswendig gelernt. Mich selber begleitet der allerletzte Satz schon seit mehr als drei Jahrzehnten als mein Konfirmationsspruch. Als Missionsbefehl werden diese Verse bezeichnet.

Eigentlich ist der eine Wortteil so wenig unzutreffend wie der andere. Es geht nicht um einen Befehl. Es geht um Beauftragung. Und es geht nicht einfach um Mission. Zumindest nicht um Mission im landläufigen Sinn. Es geht um mehr. Worum also geht es dann wirklich? Es geht um die Grundaktivitäten der Kirche. Und um die Grundlagen der Kirche dazu. Es geht aber auch um die Zusage dessen, der alle Macht hat im Himmel und auf Erden.

Kein Zweifel: Es ist ein vollmundiger Text. Hier geht es um alles oder nichts. Denn gleich viermal kommt das Wort alle oder alles vor:

Mir ist gegeben alle Gewalt.
Machet zu Jüngern alle Völker.
Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.
Und dann eben: Ich bin bei euch alle Tage.

Offensichtlich geht es hier schon um’s Ganze. Offensichtlich will Matthäus sein Evangelium mit einem fulminanten Finale schließen, das keine Fragen mehr offen lässt. Und das im allerletzten Satz – dieser großartigen Zusage - sein Thema noch einmal zusammenfasst.

Der Text führt uns zurück in das Ostergeschehen. Für die Jünger ist seit Karfreitag Matthäi am Letzten. Der, auf den sie ihre ganze Hoffnung gesetzt hatten ist tot. Liegt im Grab des Josef von Arimathäa.

Da reißen sie einige Frauen aus ihren Reihen aus ihrer Lethargie heraus. Sagen sie hätten ihren Herrn gesehen. Und der habe ihnen den Auftrag erteilt, zurückzugehen nach Galiläa. Galiläa – das lag als Ziel nahe. Dort hatte Schließlich alles seinen Ausgang genommen.

Doch nicht die Fischernetze von früher warten dort auf sie. Sondern der, um desset willen sie die Fischernetze einst aus den Händen gelegt hatten. Jesus erscheint ihnen auf dem Berg. Der Berg ist der besondere Ort Gottes im Matthäus-Evangelium. Auf dem Berg hält Jesus nach Matthäus 5 seine Bergpredigt. Auf den Berg zieht sich Jesus zurück, bevor er seinen Jüngern über’s Wasser entgegen kommt. Auf den Berg erscheinen Jesus und den drei Jüngern Mose und Elia. Der Berg – das ist der Ort Gottes schon seit allem Anfang. Auf dem Berg begegnet Mose seinem Gott. Vom Berg herunter bringt er die Gabe des Zehnworts.

Die Ortsangabe „auf dem Berg“ kündigt auch hier ein besonderes, ein entscheidendes Geschehen an. Auf dem Berg ist der mit einem Mal wieder präsent, mit dem ihre Hoffnungen ins Grab gesunken waren. „Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder. Einige aber zweifelten.“ Hier liegt die Brücke des Verstehens zwischen dem Predigttext und uns.

Nicht einmal die Erscheinung des Auferstandenen kann die letzten Zweifel ausräumen. Unser Gottesglaube ist allemal ein Wagnis. Und nichts, was sich darin erschöpft, das rechte Wissen zu haben. Zu wissen. Und zu rechnen. Zu hören und zu sehen. Das ist Voraussetzung. Ist Grundbedingung. Aber es braucht eben das dritte Auge. Das Auge, das die Dinge wahrnimmt, die sich dem bloßen Hinschauen entziehen. Es braucht den Mut, sich noch einmal irgendwo ganz anders zu gründen. Und den scheinbar festen Boden unter den Füßen dran zu geben. Und dann gleichsam ins Leben und in den Osterglauben hinein zu springen.

Wie wir das können? Weil der, der den Jüngern auf den Berg begegnen will, sich selber zum Ursprung und zur Begründung unseres Glaubens erklärt: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Ungeheuer entlastend ist das eigentlich für uns Menschen. Weil wir frei sein können, uns selber alle Macht und Gewalt dieser Erde aufzubürden. Welche fatalen Folgen menschliche Allmachtsansprüche hervorrufen können, können wir immer wieder beobachten. Im Großen wie im Kleinen. Und man muss nicht einmal ins letzte Jahrhundert zurück. Gott sei’s geklagt.

Ein anderer will uns genau dazu verlocken, der Versuchung der Allmacht zu erliegen. Schon im vierten Kapitel des Matthäus-Evangeliums befindet sich Jesus auf einem Berg. Der Satan, so wird berichtet, habe ihn dahin gelockt. Und er zeigt ihm alle Reiche und alle Herrlichkeit dieser Welt: „Dies alles will ich dir geben“, fährt der Satan fort, „wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Damals weist Jesus dieses Ansinnen weit von sich. „Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen.“

Es war der große und der zugleich infame Irrtum des Satans, dem alle Macht anzubieten, der hier ohnedies von sich sagen kann: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Dieser Vollmachtsanspruch Jesu erweist den Berg im heutigen Predigttext einmal mehr als Ort der Gottesbegegnung. Und er legt offen, wo über Ostern hinaus solche Orte der Gottesbegegnung zu finden sind.

Nicht hinter sicheren Mauern. „Die Wahrheit braucht keine Dome!“ Dies hat der frühere rheinische Präses Peter Bayer sehr schön vor einem Jahrzehnt bei der Wiedereröffnung des Berliner Domes gepredigt. Ein Zelt ist Gott genug. Und Gott bindet sich nicht an einen festen Ort. Denn er ruft die Jünger zum Aufbruch: „Gehet hin!“ – das ist die Platzangabe der Kirche – und zugleich der Ort jeglicher Gottesbegegnung. Die Geh-Struktur und nicht die Komm-Struktur gehört unverzichtbar zu den äußeren Kennzeichen der Kirche.

Auf diese Weise finden Menschen den Weg zu ihrer Kirche. Auf diese Weise findet Gottes Zuwendung zu uns und zu seiner Schöpfung Raum. Wo Kirche sich auf den Weg macht, findet sie Menschen. „Macht zu Jüngern alle Völker!“ ruft der Auferstandene hier den Menschen zu. Um dann das Gewinnen von Jüngern und doch auch von Jüngerinnen zu konkretisieren.

Gleichsam zwei Grund-Aktivitäten werden uns hier aufgetragen: Tauft und lehrt. Taufen – damit wird das Panorama der göttlichen Lebens-Zeichen für uns eröffnet. Lehren – damit wird darauf hingewiesen, dass wir auch in Sachen des Glaubens nicht ohne Wissen gehalten werden und dass wir schon gar nicht gegen die Gottesgabe unseres Verstandes anglauben müssen, auch wenn Gott die uns auferlegten Grenzen allemal sprengt. Tauft und lehrt! Feiert Gottesdienst und legt klar, worauf es Gott in eurem Leben ankommt. Oder in die Sprache des Augsburger Bekenntnisses aus dem Jahre 1530 gefasst: „Kirche ist da, wo das Evangelium rein gelehrt und die Sakramente recht verwaltet werden.“

Tauft und lehrt! Sagt den Menschen, was Gott von ihnen haben will und welche großartigen Lebensmöglichkeiten er uns eröffnet. Und lasst sie zugleich schmecken und sehen, wie gut es Gott mit ihnen – und mit uns allen – meint.

Wo dies geschieht, da ist Kirche. Das ist das Wichtigste. Um dies sicher zu stellen, sind die Menschen schon viele Wege gegangen. Und sicher auch manchen Irrweg. Auch dieses Gotteshaus unterliegt in der Verbindung von Saal und Kirche diesem Grundauftrag des Auferstandenen – hier in ein architektonisches Konzept gewendet. Tauft und lehrt. Oben Gottesdienst und Gesang. Predigt und Gebet. Unten Kultur und Konzert, Vortrag und Erbauung.

Dies wird nicht aufhören in diesen Räumen. Wird womöglich bald zu neuer Blüte kommen. Gehet hin und macht zu Jüngern und zu Jüngerinnen – das ist das Bleibende. Wie das konkret geschieht. Unter welchen Formen und Strukturen. Mit welchem Konzept und mit welcher Zielgruppe – das wird jede Generation immer wieder neu und unter neuen Voraussetzungen für sich entscheiden müssen.

Abschied und Anfang. Das war nicht nur die Erfahrung der Jünger zwischen Karfreitag und Ostern. Das wird in gewandelter Form auch uns immer wieder neu zugemutet. Das mutet der uns zu, von dem wir bekennen, dass er alle Macht im Himmel und auf Erden in seinen Händen hält.

Dies scheucht die Trauer nicht einfach weg. Und macht Verletzungen nicht ungeschehen. Aber es weist ihnen den rechten Ort zu, der allemal im Bereich des Vorläufigen liegt. Auch für die kirchlichen Strukturen gilt, dass der Wandel das einzig Beständige ist. So kann unser Vertrauen in die Zukunft gestärkt und unser Gottvertrauen genährt werden.

Unser Raten und Beraten, unser Suchen und Entscheiden, womöglich auch unser Irren und unsere Umkehr, nicht einmal die Erfahrung, dass es Matthäi am Letzten um uns stehen könnte – all dies vermag nicht außer Kraft setzen, was nicht nur für Matthäus die Summe des Evangeliums ist, die Zusage des Auferstandenen ist es, die Bestand hat: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Und er Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.