Nähe ist Diakonie

Predigt im Gottesdienst
zur Eröffnung der Opferwoche der Diakonie 2003
am Sonntag, den 22. Juni 2003 (1. S.n.Tr.)
in der Christuskirche in Freiburg

22.06.2003
Was ist das Beste, was die Kirche den Menschen in unserer Zeit anzubieten hat? So wurde vor einiger Zeit ein prominenter Fernsehmoderator gefragt, liebe Gemeinde. Die Antwort kam schnell und ohne Zögern. Das beste Angebot der Kirche in diesen Tagen ist – ganz einfach – Nähe.

Um Nähe soll’s gehen in dieser Predigt. Denn: Nähe ist Diakonie! Das ist – sie haben’s schon mehrfach gehört in diesem Gottesdienst – das Motto der Opferwoche der Diakonie in diesem Jahr 2003, liebe Gemeinde. Nähe ist Diakonie. Ein ganz kleiner werbender Satz nur. Und zugleich ein immens große Thema. Nähe als diakonisches Programm. Damit zugleich Nähe als theologische Herausforderung. Und jetzt auch als Thema der Predigt in diesem Gottesdienst.

Es wäre viel zu schnell, viel zu unvermittelt, ja eigentlich auch zu überheblich, Nähe jetzt gleich als theologische Kategorie zu denken und die Gottesnähe zum Thema zu machen. Es gibt keine Gottesnähe abseits der Menschennähe. Und um diese Menschennähe geht es der Diakonie. Und um die soll’s auch gehen in diesem Gottesdienst.

Nähe ist es, die den Menschen zum Menschen macht. Und da Gott nichts anderes mit uns im Sinn hat, als uns Menschsein zu ermöglichen, Menschsein in allen Facetten des Lebens – darum gilt auch das Gegenteil dieses Satzes, dass es keine Gottesnähe gebe jenseits der Menschennähe.

Jede gelungene, jede uns beglückende Menschennähe ist zugleich auch in einer ganz intensiven, ja unüberbietbaren Weise Erfahrung der Gottesnähe. Darum lassen wir Gott nicht außen vor, wenn wir Nähe zuallererst als Menschennähe ins Spiel bringen. Es ist doch wahrhaftig nicht die abwegigste Annäherung an das Gottesthema, wenn wir unseren Ausgang beim Menschen nehmen.

Dass die Diakonie Nähe als ihr ureigenstes Thema benennt, erstaunt zunächst nicht. Die hilfreiche Zuwendung zum Menschen geschieht zuallererst als beispielhafte Verwirklichung solcher Nähe. Beim ABC oder auch bei den Schattenspringern. In Kindergärten und Sozialstationen. In den Fachberatungsstellen für Frauen und Männer ohne festen Wohnsitz. In der Begleitung von Menschen ohne Arbeit oder beim Versuch, als Asylbewerber anerkannt zu werden.

Nähe ist Diakonie. Ohne Zweifel. Aber zugleich doch noch vielmehr. Wie Wasser für den Körper, so ist Nähe für die Seele das Urelement, das Leben überhaupt erst ermöglicht. Man braucht gar nicht erst an Kaspar Hauser zu denken, dem die soziale Isolierung schließlich den Tod gebracht haben soll. Keine und keinen gibt es ohne diese Urerfahrung erlebter oder eben entbehrter Nähe.

Dabei steigt das Bedürfnis nach Nähe mit der Erfahrung der Globalisierung. Längst ist die Welt ein großes Dorf geworden. Ungleichzeitiges lässt sich heute einfach auswählen wie in einem globalen Supermarkt. Skifahren im Sommer. Tomaten im Winter. Die Begrenztheit auf den eigenen Lebensraum wird aufgehoben durch die Möglichkeiten des weltweiten Kommunikationsnetzes. Ich kann hier sein. Und mit Hilfe des Internet das pulsierende Leben in Tokyo auf mich einwirken lassen. Doch die komprimierte, die aufgehobene Distanz schafft noch keine Leben ermöglichende Nähe. Auch wenn wir der Nähe in Gestalt der Aufdringlichkeit gar nicht mehr entrinnen können.

Die Erfahrung dieser Art von Nähe – Nähe in Gestalt der dichten, uns einengende Oberflächlichkeit, ist längst zur Massenware verkommen. Wir nicht selten zu einer Nähe, die uns bedroht. Eine Nähe, die uns den Atem nimmt. Eine Nähe aber auch, die in ihrer Taktlosigkeit verhindert, dass wir uns wirklich nahe kommen können. Nähe, die nicht einmal wirklich Annäherung an das Wesentliche des Menschseins ermöglicht.

Nähe, die nur die statistische Häufigkeit von Kontakten meint; die auf uns einströmt als kurzfristiges Vergnügen; als Aneinandervorbeitreiben: Und am Ende bleibe ich wieder einsam zurück – solche Nähe ist Nähe ohne Perspektive. Ohne Leben ermöglichenden Nährwert. Ohne wirkliche Begegnung mit anderen. Solche Nähe ist keine, die uns Menschen dazu verhilft, Mensch zu werden.

Was macht uns Menschen denn eigentlich aus? Wie macht Nähe den Menschen zum Menschen? Dazu möchte ich zwei Wege der Antwortsuche mit ihnen gehen. Einen außerbiblischen und einen biblischen.

Die erste Antwort finden wir in einem in den letzten Monaten sehr erfolgreichen Lied. Dem Lied „Mensch“ von Herbert Grönemeyer.

eventuell Einspielung:
Und der Mensch heißt Mensch,
weil er vergisst,
weil er verdrängt,
und weil er schwärmt und stillt,
weil er wärmt, wenn er erzählt.
Und weil er lacht.
Und weil er lebt.


In diesem Lied verarbeitet Herbert Grönemeyer - wie in einigen anderen auch - den Tod seiner Frau. Mehrfach waren Zeilen aus diesem Lied auch schon in Todesanzeigen in der Badischen Zeitung zu lesen. Aber die Wirkung dieser Zeilen geht weiter.

So schleudert etwa in der letzten Ausgabe von Brigitte im Jahr 2002 eine Journalistin der Kirche heftige Anklagen entgegen. Die Kirche, so schreibt sie, bliebe ihr die Antwort auf die wichtigen Fragen des Lebens schuldig. Sie schreibt: „Wie kann der liebe Gott den Mord an dem kleinen Jakob zulassen? Wo war Gott am 11. September? Warum tut er nichts, wenn Menschen Bomben werfen?“ Und sie schließt mit dem Satz: „Eine Antwort kommt vorerst nur von Herbert Grönemeyer: Der Mensch heißt Mensch, weil er mitfühlt und vergibt.“ Und im weiteren Verlauf ihres Artikels heißt es dann: „Von meiner Kirche will ich zumindest den Versuch einer Antwort auf die großen Sinnfragen.“

Man kann über das Lied „Mensch“ denken, was man will. Aber viele Menschen haben sich durch die Aussagen zum Menschsein ansprechen lassen. Die mehr als eine Million Menschen, die diese CD gekauft haben, haben es kaum allein der Musik wegen getan. Für viele scheinen hier zumindest Ansätze einer Antwort auf die Frage nach dem Menschen – die Frage nach Nähe - aufzublitzen.

Im Refrain des Liedes versucht Grönemeyer zu beschreiben, was den Menschen ausmacht. Und er tut dies durchaus nicht beschönigend.

Und der Mensch heißt Mensch,
weil er vergisst, weil er verdängt.
weil er hofft und liebt,
weil er mitfühlt und vergibt.
Weil er erinnert, weil er kämpft.
Weil er schwärmt und glaubt.
Sich anlehnt und vertraut.


Und immer schließt der Refrain mit den Sätzen:

Der Mensch heißt Mensch,
weil er lacht.
Und weil er lebt.
Du fehlst.


Auf’s erste gesehen: Keine weltbewegenden Antworten. Und schon gar keine wirklich neuen. Was macht aber dann denn Reiz dieser Aussagen aus? Wieso kommen sie so gut an? Vermutlich doch deshalb, weil sie konkret vom Menschen sprechen. Und nicht abstrakt über ihn. Weil sie sagen, wie Nähe erlebt wird. Oder eben vermisst. Weil es Worte der Nähe sind. Worte ohne überflüssige Zutat. Ehrlich. Und ungeschminkt. Der Mensch heißt Mensch, weil er lacht und weil er lebt. Und weil er uns fehlt, wenn uns seine wohltuende Nähe verloren geht.

Eine allemal bewerkenswerte Antwort, meine ich. Schlicht und ehrlich. Und gerade darin wahr und schön. Einfach so Mensch zu sein. Als Programm für Kirche und Diakonie manchen vielleicht nicht fromm genug. Aber viel mehr, als viele Menschen heute in ihrem Leben erfahren. Nähe, die den Menschen zum Menschen macht.

Dies war also die eine Antwort. Die zweite, die biblische, schlägt den Bogen zu den Schöpfungsberichten. Nicht im Gegensatz zum Lied von Herbert Grönemeyer. Sondern in wunderschöner Zuspitzung und Ergänzung.

Den einen der beiden biblischen Schöpfungsberichte haben wir vorhin ja ausführlich dargestellt bekommen. Aber nicht bei diesem Bericht von der Erschaffung der Welt in sechs Tagen will ich einsetzten, sondern zunächst bei dem anderen, dem älteren. Da wird berichtet, wie Gott die Bedürftigkeit des Menschen nach Nähe erkennt.

„Und Gott, der Herr, sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Er entbehrt auf diese Weise der Nähe. Ich will ihm die Fülle meiner Schöpfung an seine Seite geben, um sein Alleinsein zu beenden.“

Nein, nicht gleich der andere Mensch als Gegenüber wird dem Menschen hier an die Seite gestellt, sondern die Vielfalt der Schöpfung. Nähe ist mehr als nur die Bezogenheit auf einen Menschen. Nähe ist die Erfahrung des Eingebundenseins in die Schöpfung als ganze. Dann erst – nach diesem Erkenntnisgewinn - geht der Bericht weiter. Wird Nähe in Fülle möglich:

„Und Gott, der Herr, erschuf die Frau als Gegenüber und stellte sie dem Mann an die Seite. Und der sprach: Das ist doch Leben aus der Fülle meines Lebens. Da komme ich im Gegenüber mir selber nah.“

Nähe, erfüllt in der gegenseitigen Ergänzung. Im Bezogensein aufeinander. Nähe, die den Menschen zum Menschen macht. Und gerade darin zugleich seine Bezogenheit auf Gott anschaulich macht.

„Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Seine Gottesebenbildlichkeit ließ er aufleuchten. Und schuf ihn darum in der Bezogenheit aufeinander als Mann und Frau.“

Wo solche Nähe wahr wird und gelingt, da ist nicht nur Diakonie am Ziel. Da erweist sich unsere Bedürftigkeit als die große Chance des Aufeinander Angewiesenseins. Da kann ich darauf verzichten, meine Würde in meiner Vollkommenheit zu begründen.

Nähe ist Diakonie. Doch mehr noch. Nähe ist Leben aus der Gewissheit, dass ich Gott recht bin. Weil Gottes Liebe mich Mensch sein lässt. Mich schön macht. Und mich aufblühen lässt in der Erfahrung seiner Nähe. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.