Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr
9. November 2003; Lukas 17,20-24 (25-30)

09.11.2003
„Wann kommt das Reich Gottes?“ Die auf theologischen wie lebenspraktischen Erkenntnisgewinn ausgerichtete Frage der Pharisäer hat an Aktualität nichts verloren, seit Utopien und auf politische Veränderung ausgerichtete Zukunftsszenarien durch den neuen Glauben an die biologische Determinierung unserer Möglichkeiten wieder einmal ins Hintertreffen geraten sind. „Jesus verkündigte das Reich Gottes. Doch gekommen ist die Kirche.“ (Alfred Loisy) Dieser Satz ist - wenn man ihm überhaupt Glauben schenken will - allemal höchstens die halbe Wahrheit auf die Leitfrage des Predigttextes. Das Reich Gottes, so lesen wir, ist schon jetzt in unserer Mitte! Von vornherein evident und plausibel ist das nicht. Schon vor Jesu Botschaft vom Reich Gottes – und nach ihr mit potenzierter Wirkkraft kamen Ungerechtigkeit, Krieg, Krankheit und Tod. Und vor den Augen der Kirche und nicht selten mit ihrer Billigung oder gar Unterstützung kamen die Herrschaft von Menschen über Menschen. Kamen Kolonialismus und Diktatur. Und wenn es stimmt, dass seit dem 11. September 2001 nichts mehr so sei wie es war, kam mit dem internationalen Terrorismus und den globalen Bekämpfungsstrategien eine neue Spielart der Spirale der Gewalt hinzu. In diesem Kontext hat es die Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes schwer. Aber genau hier hat sie auch ihren Ort. Schließlich führt sie uns mitten hinein in den Kern der Botschaft Jesu und der Jesus-Bewegung. Und ebenso in die Entscheidung über deren andauernde Relevanz am Beginn des 3. Jahrtausends (nach der Geburt des Urhebers derselben gerechnet).

Die möglichen Missverständnisse dieses Textes sind im Wesentlichen ausgeräumt, seit sich die ExegetInnen darauf geeinigt haben, entos nicht mehr im Sinne „in euch drin“ bzw. „inwendig in euch“ zu verstehen, sondern viel konkreter durch das Verständnis „in eurer Mitte“ – räumlich zeitlich und personal. Die der Perikope vorausgehende Heilung der zehn Aussätzigen spiegelt daher die ambivalente und doch zugleich reale Wirklichkeit des Reiches Gottes zutreffender im Sinne des Jesus-Logions wieder (die Diskussion, ob es sich um ein echtes Logion oder um Gemeindebildung handelt, trägt zum Verständnis nichts aus) als die in Klammern angegebenen weiteren Verse des Predigttextes, die das „entos“ wieder auf die Zukunft, konkret auf die bevorstehenden „Scheidungen“ am Tag des Menschensohnes hin deuten und damit die Wucht der Aussage abschwächen und umlenken. Hinsichtlich des Verständnisses des Reiches Gottes in unserer Mitte ist aber weniger an ein Quantifizieren des „schon jetzt“ bzw. des „noch nicht“ zu denken als an das Wagnis eines Perspektivenwechsels, der das ganze Leben in seiner Vorläufigkeit und Doppelbödigkeit unter ein neues Vorzeichen setzt und Zukunft ermöglicht. Das Reich Gottes kann eben nicht einmal hier und einmal da beobachtet werden wie ein kurz aufzuckender Blitz. Vielmehr ist unsere kleine Lebenswelt wie die große Schöpfung als „Reich Gottes im Prozess“ zu verstehen, das keine Reservate von diesem Anspruch ausklammert. Wo uns dieser Not-wendende Perspektivenwechsel nicht gelingt, erscheint die Zukunft bedrohlich und von (auch göttlichen) Willkürentscheidungen gekennzeichnet. Die Welt als Reich Gottes im Prozess oder im Werden zu verstehen, befreit von lähmender Resignation („Ich kann ja doch nichts ändern.“) und vordergründigen Missverständnissen ethischer („in euch“ ), politischer („Wir müssen es selbst erkämpfen“) oder fundamentalistischer („Gott allein wird es richten“) Spielart. Dass der Reich-Gottes-Prozess noch lange nicht am Ende ist, darf uns nicht dazu führen, die Gegenwart zu disqualifizieren. Der Predigt (und dem Gottesdienst) kann es um nichts anderes gehen, als in den Blick zu rücken, was sich längst schon an Unglaublichem, Hoffnungsvollem und Mutmachendem vor unseren Augen ereignet. Oder kurz zusammengefasst: Das Reich Gottes ist keineswegs am Ende, aber am Ende ist das Reich Gottes.

Liedvorschläge

EG 182,2: Suchet zuerst Gottes Reich in dieser Welt

EG 665 (Baden): Wir haben Gottes Spuren festgestellt

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.