Stille Nacht, heilige Nacht

24.12.2004
Weihnachten ist ein Fest der leisen Töne. Zumindest seinem Wesen und seinem Anspruch nach. Nicht umsonst ist das Lied von der Stillen Nacht das meistgesungene und das erfolgreichste Weihnachtslied überhaupt. Aber mehr als Ausdruck unserer Sehnsucht. Und weniger als Beschreibung unserer weihnachtlichen Wirklichkeit. Da ist eher die schräge und schrille Weihnacht prägend. Und die laute obendrein.

Gut, dass die vorweihnachtlichen Verkaufssamstage vorbei sind. Dass auch in der Stadt allmählich wieder der gemächlichere Gang einstellt. Und man die Zeichen der Weihnacht, den vielfältigen Schmuck an den Häusern und in den Geschäften stressfreier wahrnehmen kann. Schön, wenn wir die vielen kleinen Lichter an den Bäumen etwas mehr genießen können. Manchmal wird es erst nach Weihnachten wirklich Weihnacht. Wenn sich der laute Heiligabend zur Stillen, heiligen Nacht verwandeln kann.

Das Lied, dem wir heute Nacht ein wenig nachspüren und das wir auch miteinander singen sollen – das Lied von der Stillen Nacht – hat es schwer. Als zu kitschig und schnulzig abgelehnt. Und heimlich dann doch gern gesungen. Dieses altvertraute und oft zu unrecht verdächtigte Lied von dieser Nacht möchte ich jetzt mit ihnen singen. Und dabei soll nicht weniger geschehen, als dass wir gemeinsam einen weihnachtlichen Schatz entdecken. Und außer Gold, Weihrauch und Myrrhe noch ein ganz anderes, ein überraschendes weihnachtliches Liedgeschenk auspacken.

Stille Nacht: Strophen 1+2 (noch mit Klavierbegleitung)

Meditation 1: “Wie im Stall von Bethlehem“

Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

Ein unwirtlicher Stall. Unerfreuliche Umstände. Und dann diese große Geschichte, die die Welt aus de Angeln hebt. Die uns zum Feiern bringt – bis auf den heutigen Tag. Die heutige Nacht.

Kein anderes Lied ist unter weihnachtlicheren Umständen entstanden als eben dieses. In einer von Kriegsfolgen gezeichneten Stadt im Jahre 1818. Nur wenige Jahre nach den durch Napoleon verursachten Kriegswirren. Durch eine willkürliche Grenzziehung plötzlich ins Abseits geraten. Die Kirche St. Nikolaus im salzburgischen Städtchen Oberndorf baufällig. Die Orgel unbespielbar. Einen Pfarrer gibt es nicht. Die Menschen, die da wie wir heute an Weihnachten zusammenkommen dennoch voller Erwartung.

Einfache Leute waren das. Wie die Hirten auf den Feldern vor Bethlehem. Flößer. Waldarbeiter. Tagelöhner. Schmuggler und Grenzer.

Wie den Hirten erscheinen auch ihnen weihnachtliche Engel. In Gestalt des Hilfspredigers Joseph Mohr. Und des Organisten Franz Gruber. Dieser bringt der schadhaften Orgel wegen einfach seine Gitarre mit. Und so erklingt zum ersten Mal zweistimmig gesetzt und mit Gitarrenbegleitung dieses Lied von der Stillen Nacht. Im Weihnachtsgottesdienst von Oberndorf begann dieser einzigartige Geschichte. Doch zunächst ließ der Erfolg auf sich warten. Er war dem Lied ja auch gar nicht in die Wiege gelegt. Er war das Ergebnis einer wundersamen Entwicklung. Und eines längeren Umweges.

Die defekte Orgel wird von einem Orgelbauer aus Tirol wieder bespielbar gemacht. Dieser Orgelbauer macht das Lied in seiner Tiroler Heimat bekannt. Von dort gelangt es etwa 10 Jahre später nach Leipzig. In den 40er Jahren des 19. Jahrhundert nimmt es der königliche Domchor in Berlin in sein Repertoire auf. Dann ist sein Siegeszug nicht mehr zu stoppen.

Der Dichter jener Strophen hat den Erfolg nicht mehr erlebt. Im Revolutionsjahr 1848 stirbt er an Tuberkulose. Er ist ein unbekannter und in seiner Zeit erfolgloser Weihnachtsbote gewesen. Zu einer eigenen Pfarrei hatte er es nie gebracht. Und dennoch sind seine Worte weiterverbreitet als jede Weihnachtspredigt. Dennoch werden seine Strophen auch heute wieder weltweit gesungen. Eine weihnachtliche Erfolgsgeschichte ohne Beispiel ist das. Ich lade sie ein, weiter daran teilzuhaben, indem wir jetzt die Strophen 3 und 4 miteinander singen – und jetzt „ganz original“ mit Gitarrenbegleitung.
Stille Nacht: Strophen 3 und 4 (mit Gitarrenbegleitung)

Meditation 2: „Bruder der Völker de Welt“

Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn nicht verschonte, sondern sich in ihm in die Welt eingemischt hat, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet würde.

Sie werden die beiden eben gesungenen Strophen kaum gekannt und auch kaum jemals jemals gesungen haben. Verlorengegangene Schätze sind das. Von kräftiger Sprache und theologisch aussagekräftiger als die anderen, die jeder und jede kennt. Der Verweis auf die Menschenwerdung. Und dann jene schöne vierte Strophe:

... wo sich heut alle Macht
väterlicher Liebe ergoss
und als Bruder huldvoll umschloss
Jesus die Völker der Welt!


Was für eine Entdeckung: Stille Nacht als hochpolitisches Lied. Als Protestlied gegen die Folgen der napoleonischen Kriegswirren. Und ein Aufruf an die Völker, sich brüderlich zu gebärden. Und zu verbinden! Es hätte so etwas wie die christliche Internationale des 19. Jahrhunderts werden können, dieses Lied. Ein Aufruf an die Völker jener Tage, die einander nicht freundlicher gesonnen waren als viele Staaten in unseren Tagen. Das Kind in der Krippe als Bruder der Völker der Welt.

Gottes Zuwendung macht nicht davor Halt, sich auf uns Menschen einzulassen. „Mach’s wie Gott: Werde Mensch!“ Diesem Satz kommt an Weihnachten seine besondere Bedeutung zu. Gott ist nicht wählerisch. Seine Zuwendung gilt vorbehaltlos allen Menschen. Nicht nur denen mit dem rechten Einkommen. Denen mit der rechten Gesinnung. Denen mit der rechten Hautfarbe. Denen mit den rechten Papieren. Das Kind in der Krippe als Bruder der Völker der Welt! Was für eine Perspektive in einer Welt, die geprägt ist von oben und unten. Von arm und reich. Von Wohlhabenden und Habenichtsen.

Gottes Großzügigkeit widerlegt den unsinnigen Satz, dass Geiz geil ist. Das Gegenteil ist richtig. Darin liegt der wahre Sinn und tiefere Grund des weihnachtlichen Schenkens. Nicht in der Vermehrung des Konsums. Schenken ist Verhalten in Entsprechung. Kein „Ich gebe, damit du gibst!“. Vielmehr: „Ich gebe, weil ich das Beste selber geschenkt bekommen habe!“ Gottes Nähe. Gottes Gegenwart. In einem Kind. Einem zerbrechlichen, wunderbaren Menschenleben. Mitten unter uns. Uns Bruder. Oder Schwester. Was für eine Perspektive der Geschwisterlichkeit. Und der Menschlichkeit!

Singen wir jetzt aber noch die beiden letzten Strophen des Liedes:

Stille Nacht: Strophen 5 und 6 (mit Gitarrenbegleitung)

Meditation 3: „aller Welt Schonung verhieß“



Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.


Die Menschen nach den Kriegen Napoleons haben die zerstörende Kraft der Waffen unserer Tage nicht einmal ahnen können. Und manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, je mehr wir glauben, die Zukunft in der Hand zu haben, mit desto größerer Sorge gehen wir auf sie zu.

Joseph Mohr, der Dichter, bindet Geschichte von der großen Flut mit den Ereignissen der Weihnacht zusammen. Der schützende Regenbogen des Noah – im Licht des Sterns von Bethlehem betrachtet, erstrahlt er in neuem Glanz. Gott gibt seinen Platz auf der Seite der Menschen nicht auf. Er setzt sich selber dem Spiel der Kräfte und den Handlangern todbringender Mächte aus. Und macht so für uns den Weg zum Leben frei.

„Als der Herr, vom Grimme befreit,
in der Väter urgrauer Zeit
aller Welt Schonung verhieß.“




Schonung – uns zugesagt - ist eine urweihnachtliche Perspektive. Schonung! Verzicht auf das letzte verletzende Wort. Schonung! Vertrauen in die Möglichkeiten des Gewaltverzichts. Gegenüber der Natur. Und gegenüber den Menschen, die mit uns leben auf diesem Planeten. Schnonung! Das heißt doch: Es lohnt sich, wenn wir uns für das Leben stark machen. Weil wir gestärkt vom Anblick des Kindes im Stall von Bethlehem unseren Weg in die Welt gehen.

Miteinander warten wir auf eine verheißungsvolle Zukunft und eine geschwisterliche Welt. Ohne Hass, Krieg und Gewalt. Und in Gerechtigkeit und Frieden. Für alle Menschen, denen Gottes Wohlgefallen gilt.

Schon lange ehe uns das letzte Stündlein geschlagen hat, schlägt uns alle längst schon die „rettende Stund“. Ein für alle Mal. In einem erbärmlichen Stall. Und

„durch der Engel Halleluja
tönt es laut von fern und nah:
Christ, der Retter, ist da!“


Auch wieder im Jahr 2004. Gesegnete Weihnachten! Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.