UNSER EUROPA – FREI, GLEICH, GERECHT
PREDIGT IM ÖKUMENISCHEN GOTTESDIENST
IN DER HERZ-JESU-KIRCHE AM 1. MAI 2004
01.05.2004
Liebe Freundinnen und Freunde,
Der 1. Mai ist immer für ein Wunder gut. Und sei es nur für das Wunder der Entdeckung und der Feier der Gemeinsamkeiten zwischen Kirche und Arbeiterbewegung. Und da gibt es mehr zu feiern, als bisweilen den Anschein hat. Nein, der 1. Mai ist noch lange kein Auslaufmodell. Im Gegenteil. Jeder Blick in die Zeitung, jede Nachrichtensendung müsste uns dazu bringen, diesen Tag einzuführen, wenn es ihn nicht längst schon gäbe.
Die Themenflut könnte einem fast erschlagen: alg II und Hartz 4. Konstant hohe Arbeitslosenzahlen. Agenda 20 10. Stolpes Niedriglohn-Zonen im Osten. Die Übernahme von Aventis durch Sanofi Synthelabo. Die Pläne zur Verlagerung von Jobs ins Ausland bei Siemens und vielen anderen. Die Marktstrategien der großen Energiekonzerne. Dazu die alltägliche Verschiebung von Kapital rund um den Globus. Die Fortsetzung dieser Liste kennen sie alle noch besser als ich.
Gut also, dass es den 1. Mai noch gibt. Es ist ein Feiertag, der kein allgemeiner Arbeitstag ist – aber dennoch die Arbeit zum Thema hat. Es ist ein Tag, der es allein zwar nicht richten kann. Zugleich aber auch einer, an dem zeichenhaft all dies benannt und öffentlich gemacht wird, was auch morgen wieder im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung steht. Es geht nicht um den einen Tag. Aber es geht einen Tag lang ganz besonders um die Forderung nach mehr Gerechtigkeit für die Menschen.
Alles neu macht der Mai heißt es in einem alten Volkslied. Es wird zunächst auf die Natur gemünzt sein. Aber womöglich nicht nur. Obwohl es gegenwärtig eher wenig hoffnungsvoll stimmendes Neues unter der Sonne gibt. Dabei ist viel von Neuem die Rede. Von Neuem auch, das mit der wenig verheißungsvollen Vorsilbe Neo beginnt. Der Liberalismus feiert als Neoliberalismus fröhliche Urständ. Neu ist daran eigentlich gar nichts – außer dass er uns die alten Probleme als neue soziale Frage vor Augen führt und neue Armut verursacht. Ein Qualitätsmerkmal ist dieses Neo nicht. Eher ein Belege, dass wir so viel auch noch nicht dazu gelernt haben. Dass wir uns gefährlich nah an alten Abgründen bewegen.
Was die Europastrategen dazu gebracht hat, gerade den 1. Mai zum Termin des Beitritts der zehn neuen Länder in die Europäischen Union zu machen, weiß ich nicht. Aber dieser Termin ist eine willkommene Gelegenheit, den Finger gleich in bestehende oder befürchtete Wunden zu legen. Europa darf nicht in ein Europa der Armen und der Reichen zerfallen. Und der verschwundene eiserne Vorhang nicht durch Grenze zwischen verschieden leistungsfähigen Volkswirtschaften ersetzt werden; wobei dann das schwächste Gerechtigkeitsmodell zum Maßstab für die anderen wird. Unser Europa – frei, gleich und gerecht. Das ist also allemal ein gutes Thema für die diesjährigen Veranstaltungen am 1. Mai.
Alles neu macht der Mai – dieses Lied, auf das ich eben schon einmal Bezug genommen habe – kann auch im Sinne der Offenlegung einer Sehnsucht verstanden werden. Der Sehnsucht nämlich, die Verhältnisse mögen sich dauerhaft und nachhaltig zum Besseren wenden. Ja, sie mögen, wo sie sich als nicht reformierbar erweisen, wahrhaftig neu werden.
Neue Verhältnisse, Verhältnisse, in denen der Mensche dem Menschen kein Wolf, sondern Schwester und Bruder ist; Verhältnisse, in denen nicht das Recht des Stärkeren, sondern Gerechtigkeit gilt; Verhältnisse, in denen niemand ausgegrenzt oder ausgebeutet wird - solche Verhältnisse sind auch ein wichtiges Thema der Bibel. Gleich Auf den ersten Seiten. Und bis zur allerletzten.
Im Buch Exodus, dem zweiten Buch Mose lesen wir:
Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt.
So äußert sich Gott gegenüber Mose, als er ihm im brennenden Dornbusch begegnet. Dieser Gott ist der Gott der unterdrückten und ausgebeuteten Sklaven auf den Pyramiden-Baustellen des Pharao. Diese soziale Sensibilität Gottes hat Folgen. Bis heute.
Eine dieser Folgen ist der Sonntag. Kirchen und Gewerkschaften kämpfen hier auf der gleichen Seite. „Ohne Sonntag gibt’s nur noch Werktage!“ Das stand auf einem Aufkleber der Sonntagsschutzaktionen der Kirchen.
Es hat allemal gute Gründe, dass die Kirche den Sonntag schützt. Und wahrhaftig nicht nur aus Eigennutz. Oder nur zum Schutz ihrer Gottesdienste. Der Sonntag ist die christliche Variante des biblischen Ruhetages. Er erinnert an den Ostermorgen. Jeder Sonntag ist also ein kleines Osterfest. Und Ostern – das ist das Fest des Sieges über alle todbringenden Mächte.
Es mag schwer fallen, über den Sonntag nachzudenken, wenn die Zahl derer, deren Arbeitszeit jeden Tag auf Null abgesenkt bleibt, so skandalös hoch ist. Trotzdem können wir im Zusammenhang des Gebotes über den Ruhetag auf eine interessante Beobachtung stoßen.
Der christliche Sonntag ist im Grunde die christliche Spielart des jüdischen Feiertages. Des Schabat. Im dritten Gebot heißt es dazu:
Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.
Und jetzt folgt die Begründung, warum denn dieser Tag von den anderen Tagen unterschieden werden soll. Da heißt es:
Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
Eine typisch biblische Begründung, denken sie vielleicht. Und eine, die nicht unbedingt überzeugt. Das haben andere Menschen vor ihnen auch schon gedacht. Und sie haben sich für eine andere Begründung entschieden. Vor etwas zweieinhalbtausend Jahren, wenige hundert Jahre nach der ersten Niederschrift der 10 Gebote werden sie noch einmal schriftlich fixiert. Sie sind in der Bibel also zweimal überliefert. Da können wir in der zweiten Variante der Variante der 10 Gebote folgendes lesen:
Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du.
Die Begründung, die jetzt aber gegeben wird, ist eine ganz andere. Denn da heißt es jetzt:
Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der HERR, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der HERR, dein Gott, geboten, dass du den Sabbattag halten sollst.
Sabbat soll sein, weil er die Menschen damals daran erinnern sollte, dass auch sie einmal zu den Unterdrückten gehörten. Der Sabbat ist also in seiner inneren Begründung ein Modell gelebter Solidarität. Eine großartige Projekt zur Senkung der Arbeitszeit zugunsten anderer. Eine solidarische Verzichtsaktion derer, die sie eigentlich gar nicht nötig hätten: Und dies vor allem aus dem Grund, dass sich die Menschen immer wieder auch an das Leben erinnern lassen. Ein Leben, das mehr ist als Arbeit zugunsten anderer. Eine großangelegte Schutzmaßnahme für die, die sonst unter die Räder zu kommen geraten.
Der Sabbat – der Tag, an dem die Arbeit ruhen soll – nach biblischem Verständnis ist er der Tag der Feier der heilsamen Unterbrechung der alten Verhältnisse. Der Tag der zeichenhaften Vorwegnahme des Alten und die öffentliche, die sichtbare Feier des in seiner Fülle noch ausstehenden Neuen.
Auf unsere heutige Situation gewendet, muss dies nicht einfach nur ein Argument für den Sonntag sein. Es ist vor allem ein Argument für die Wertschätzung des Menschen. Und für das Maß des Menschlichen. Dies muss sich auswirken in alle Lebensbereiche hinein. Den Sabbat gibt es um des Menschen willen, sagt die Bibel. Und nicht den Menschen um des Sabbat willen. Man kann diesen Satz auch modifizieren: Auch Arbeit gibt es um des Menschen willen. Und es ist nicht so, als existiere der Mensch nur um der Arbeit willen.
Darum muss die vorhandene Arbeit gerecht verteilt werden. Denn nur so können auch alle Anteilbekommen an der Gabe der heilsamen Unterbrechung.
Europa ist von der Idee der Gerechtigkeit durch die Geschichte hindurch geprägt. Die Werte des christlichen Menschenbildes. Und in säkularisierter Form etwa die Ideale der französischen Revolution. Sie sind beide keine politische Manövriermasse für ökonomische Schönwetterperioden. Sondern die Beschreibung einer ethischen Grundhaltung.
Diese Grundhaltung ist unteilbar. Darum müssen wir für sie werben. Für sie eintreten. Und wenn es nötig ist für sie kämpfen. Auch im Europa der Europäischen Union. Auch in den zehn neuen Ländern, die seit heute dazugehören.
Europa ist mehr als nur eine Idee. Und mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Es muss auch ein Raum der gewahrten Würde und der gewährten Maße des Menschlichen sein. Und vor allem anderen der größtmöglichen Gerechtigkeit für möglichst viele.
Gerade hier liegt eine wesentliche Brücke auch zwischen Kirche und Arbeitnehmerbewegung. Gerechtigkeit verbindet. Und das gemeinsame Eintreten für Gerechtigkeit lässt Grenzen schwinden. Führt zu internationaler Vernetzung. Der internationale gemeinsame Einsatz für mehr Gerechtigkeit ist ein deutlicher Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung.
In der Kirche nennen wir dies Ökumene. Ökumene hält das Wissen um Gottes Vorliebe für die Habenichts und die Schwachen im weltweiten Horizont aufrecht. „Hier gilt nicht mehr, was einst bestimmend war“, schreibt der Apostel Paulus einmal: „Nicht Jude, nicht Grieche, nicht Sklave, nicht Freier, nicht Mann und nicht Frau.“ Wer sich anstecken lässt von der Menschenfreundlichkeit Gottes und von der Lebenszugewandtheit Jesu von Nazareth, aus dem ist wirklich etwas Neues geworden, schreibt er in einem anderen Brief. Oder in der vertrauten Formulierung: „Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen. Siehe, Neues ist geworden.
Ein größeres Neues wurde heute aus Europa. Neu werden muss aber noch vieles, was auf Erneuerung drängt. Damit Europa wirlich wird, was es nach unser alle Willen sein soll: Frei, gleich und gerecht.
Unser Einsatz ist nicht umsonst. Denn Gott wird unseren Schweiß abwischen und unsere Tränen trocknen. Seine Zusage geh weit über den heutigen Tag und sogar weit über Europa hinaus. Was für ein Modell menschenfreundlicher Globalisierung wird uns da vor Augen gestellt. Was für eine Perspektive eröffnet uns da neue Lebensräume, wenn wir ernst nehmen, was Gott uns auf der letzten Seite der Bibel zusagt: Siehe, ich mache alles neu!
Wenn schon der 1. Mai für ein Wunder gut ist. Wieviel mehr können wir dann Gott selber zutrauen, dass das Wunder gelebter Gerechtigkeit vor unser aller Augen Hand und Fuß bekommt. Amen.
Der 1. Mai ist immer für ein Wunder gut. Und sei es nur für das Wunder der Entdeckung und der Feier der Gemeinsamkeiten zwischen Kirche und Arbeiterbewegung. Und da gibt es mehr zu feiern, als bisweilen den Anschein hat. Nein, der 1. Mai ist noch lange kein Auslaufmodell. Im Gegenteil. Jeder Blick in die Zeitung, jede Nachrichtensendung müsste uns dazu bringen, diesen Tag einzuführen, wenn es ihn nicht längst schon gäbe.
Die Themenflut könnte einem fast erschlagen: alg II und Hartz 4. Konstant hohe Arbeitslosenzahlen. Agenda 20 10. Stolpes Niedriglohn-Zonen im Osten. Die Übernahme von Aventis durch Sanofi Synthelabo. Die Pläne zur Verlagerung von Jobs ins Ausland bei Siemens und vielen anderen. Die Marktstrategien der großen Energiekonzerne. Dazu die alltägliche Verschiebung von Kapital rund um den Globus. Die Fortsetzung dieser Liste kennen sie alle noch besser als ich.
Gut also, dass es den 1. Mai noch gibt. Es ist ein Feiertag, der kein allgemeiner Arbeitstag ist – aber dennoch die Arbeit zum Thema hat. Es ist ein Tag, der es allein zwar nicht richten kann. Zugleich aber auch einer, an dem zeichenhaft all dies benannt und öffentlich gemacht wird, was auch morgen wieder im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung steht. Es geht nicht um den einen Tag. Aber es geht einen Tag lang ganz besonders um die Forderung nach mehr Gerechtigkeit für die Menschen.
Alles neu macht der Mai heißt es in einem alten Volkslied. Es wird zunächst auf die Natur gemünzt sein. Aber womöglich nicht nur. Obwohl es gegenwärtig eher wenig hoffnungsvoll stimmendes Neues unter der Sonne gibt. Dabei ist viel von Neuem die Rede. Von Neuem auch, das mit der wenig verheißungsvollen Vorsilbe Neo beginnt. Der Liberalismus feiert als Neoliberalismus fröhliche Urständ. Neu ist daran eigentlich gar nichts – außer dass er uns die alten Probleme als neue soziale Frage vor Augen führt und neue Armut verursacht. Ein Qualitätsmerkmal ist dieses Neo nicht. Eher ein Belege, dass wir so viel auch noch nicht dazu gelernt haben. Dass wir uns gefährlich nah an alten Abgründen bewegen.
Was die Europastrategen dazu gebracht hat, gerade den 1. Mai zum Termin des Beitritts der zehn neuen Länder in die Europäischen Union zu machen, weiß ich nicht. Aber dieser Termin ist eine willkommene Gelegenheit, den Finger gleich in bestehende oder befürchtete Wunden zu legen. Europa darf nicht in ein Europa der Armen und der Reichen zerfallen. Und der verschwundene eiserne Vorhang nicht durch Grenze zwischen verschieden leistungsfähigen Volkswirtschaften ersetzt werden; wobei dann das schwächste Gerechtigkeitsmodell zum Maßstab für die anderen wird. Unser Europa – frei, gleich und gerecht. Das ist also allemal ein gutes Thema für die diesjährigen Veranstaltungen am 1. Mai.
Alles neu macht der Mai – dieses Lied, auf das ich eben schon einmal Bezug genommen habe – kann auch im Sinne der Offenlegung einer Sehnsucht verstanden werden. Der Sehnsucht nämlich, die Verhältnisse mögen sich dauerhaft und nachhaltig zum Besseren wenden. Ja, sie mögen, wo sie sich als nicht reformierbar erweisen, wahrhaftig neu werden.
Neue Verhältnisse, Verhältnisse, in denen der Mensche dem Menschen kein Wolf, sondern Schwester und Bruder ist; Verhältnisse, in denen nicht das Recht des Stärkeren, sondern Gerechtigkeit gilt; Verhältnisse, in denen niemand ausgegrenzt oder ausgebeutet wird - solche Verhältnisse sind auch ein wichtiges Thema der Bibel. Gleich Auf den ersten Seiten. Und bis zur allerletzten.
Im Buch Exodus, dem zweiten Buch Mose lesen wir:
Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt.
So äußert sich Gott gegenüber Mose, als er ihm im brennenden Dornbusch begegnet. Dieser Gott ist der Gott der unterdrückten und ausgebeuteten Sklaven auf den Pyramiden-Baustellen des Pharao. Diese soziale Sensibilität Gottes hat Folgen. Bis heute.
Eine dieser Folgen ist der Sonntag. Kirchen und Gewerkschaften kämpfen hier auf der gleichen Seite. „Ohne Sonntag gibt’s nur noch Werktage!“ Das stand auf einem Aufkleber der Sonntagsschutzaktionen der Kirchen.
Es hat allemal gute Gründe, dass die Kirche den Sonntag schützt. Und wahrhaftig nicht nur aus Eigennutz. Oder nur zum Schutz ihrer Gottesdienste. Der Sonntag ist die christliche Variante des biblischen Ruhetages. Er erinnert an den Ostermorgen. Jeder Sonntag ist also ein kleines Osterfest. Und Ostern – das ist das Fest des Sieges über alle todbringenden Mächte.
Es mag schwer fallen, über den Sonntag nachzudenken, wenn die Zahl derer, deren Arbeitszeit jeden Tag auf Null abgesenkt bleibt, so skandalös hoch ist. Trotzdem können wir im Zusammenhang des Gebotes über den Ruhetag auf eine interessante Beobachtung stoßen.
Der christliche Sonntag ist im Grunde die christliche Spielart des jüdischen Feiertages. Des Schabat. Im dritten Gebot heißt es dazu:
Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.
Und jetzt folgt die Begründung, warum denn dieser Tag von den anderen Tagen unterschieden werden soll. Da heißt es:
Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
Eine typisch biblische Begründung, denken sie vielleicht. Und eine, die nicht unbedingt überzeugt. Das haben andere Menschen vor ihnen auch schon gedacht. Und sie haben sich für eine andere Begründung entschieden. Vor etwas zweieinhalbtausend Jahren, wenige hundert Jahre nach der ersten Niederschrift der 10 Gebote werden sie noch einmal schriftlich fixiert. Sie sind in der Bibel also zweimal überliefert. Da können wir in der zweiten Variante der Variante der 10 Gebote folgendes lesen:
Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Rind, dein Esel, all dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt, auf dass dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du.
Die Begründung, die jetzt aber gegeben wird, ist eine ganz andere. Denn da heißt es jetzt:
Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der HERR, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der HERR, dein Gott, geboten, dass du den Sabbattag halten sollst.
Sabbat soll sein, weil er die Menschen damals daran erinnern sollte, dass auch sie einmal zu den Unterdrückten gehörten. Der Sabbat ist also in seiner inneren Begründung ein Modell gelebter Solidarität. Eine großartige Projekt zur Senkung der Arbeitszeit zugunsten anderer. Eine solidarische Verzichtsaktion derer, die sie eigentlich gar nicht nötig hätten: Und dies vor allem aus dem Grund, dass sich die Menschen immer wieder auch an das Leben erinnern lassen. Ein Leben, das mehr ist als Arbeit zugunsten anderer. Eine großangelegte Schutzmaßnahme für die, die sonst unter die Räder zu kommen geraten.
Der Sabbat – der Tag, an dem die Arbeit ruhen soll – nach biblischem Verständnis ist er der Tag der Feier der heilsamen Unterbrechung der alten Verhältnisse. Der Tag der zeichenhaften Vorwegnahme des Alten und die öffentliche, die sichtbare Feier des in seiner Fülle noch ausstehenden Neuen.
Auf unsere heutige Situation gewendet, muss dies nicht einfach nur ein Argument für den Sonntag sein. Es ist vor allem ein Argument für die Wertschätzung des Menschen. Und für das Maß des Menschlichen. Dies muss sich auswirken in alle Lebensbereiche hinein. Den Sabbat gibt es um des Menschen willen, sagt die Bibel. Und nicht den Menschen um des Sabbat willen. Man kann diesen Satz auch modifizieren: Auch Arbeit gibt es um des Menschen willen. Und es ist nicht so, als existiere der Mensch nur um der Arbeit willen.
Darum muss die vorhandene Arbeit gerecht verteilt werden. Denn nur so können auch alle Anteilbekommen an der Gabe der heilsamen Unterbrechung.
Europa ist von der Idee der Gerechtigkeit durch die Geschichte hindurch geprägt. Die Werte des christlichen Menschenbildes. Und in säkularisierter Form etwa die Ideale der französischen Revolution. Sie sind beide keine politische Manövriermasse für ökonomische Schönwetterperioden. Sondern die Beschreibung einer ethischen Grundhaltung.
Diese Grundhaltung ist unteilbar. Darum müssen wir für sie werben. Für sie eintreten. Und wenn es nötig ist für sie kämpfen. Auch im Europa der Europäischen Union. Auch in den zehn neuen Ländern, die seit heute dazugehören.
Europa ist mehr als nur eine Idee. Und mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Es muss auch ein Raum der gewahrten Würde und der gewährten Maße des Menschlichen sein. Und vor allem anderen der größtmöglichen Gerechtigkeit für möglichst viele.
Gerade hier liegt eine wesentliche Brücke auch zwischen Kirche und Arbeitnehmerbewegung. Gerechtigkeit verbindet. Und das gemeinsame Eintreten für Gerechtigkeit lässt Grenzen schwinden. Führt zu internationaler Vernetzung. Der internationale gemeinsame Einsatz für mehr Gerechtigkeit ist ein deutlicher Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung.
In der Kirche nennen wir dies Ökumene. Ökumene hält das Wissen um Gottes Vorliebe für die Habenichts und die Schwachen im weltweiten Horizont aufrecht. „Hier gilt nicht mehr, was einst bestimmend war“, schreibt der Apostel Paulus einmal: „Nicht Jude, nicht Grieche, nicht Sklave, nicht Freier, nicht Mann und nicht Frau.“ Wer sich anstecken lässt von der Menschenfreundlichkeit Gottes und von der Lebenszugewandtheit Jesu von Nazareth, aus dem ist wirklich etwas Neues geworden, schreibt er in einem anderen Brief. Oder in der vertrauten Formulierung: „Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen. Siehe, Neues ist geworden.
Ein größeres Neues wurde heute aus Europa. Neu werden muss aber noch vieles, was auf Erneuerung drängt. Damit Europa wirlich wird, was es nach unser alle Willen sein soll: Frei, gleich und gerecht.
Unser Einsatz ist nicht umsonst. Denn Gott wird unseren Schweiß abwischen und unsere Tränen trocknen. Seine Zusage geh weit über den heutigen Tag und sogar weit über Europa hinaus. Was für ein Modell menschenfreundlicher Globalisierung wird uns da vor Augen gestellt. Was für eine Perspektive eröffnet uns da neue Lebensräume, wenn wir ernst nehmen, was Gott uns auf der letzten Seite der Bibel zusagt: Siehe, ich mache alles neu!
Wenn schon der 1. Mai für ein Wunder gut ist. Wieviel mehr können wir dann Gott selber zutrauen, dass das Wunder gelebter Gerechtigkeit vor unser aller Augen Hand und Fuß bekommt. Amen.