PREDIGT ÜBER RÖMER 11,32-36
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 6. JUNI 2004 (TRINITATIS)
IN WOLFENWEILER

06.06.2004
„Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ Auf diese drei Fragen, liebe Gemeinde, lässt sich nach der Überzeugung des großen Philosophen Immanuel Kant alles menschliche Suchen und Streben, alles Nachdenken und Philosophieren reduzieren. „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ Immanuel Kant wäre am 12. Februar dieses Jahres 200 Jahre alt geworden. Er ist kurz vor Vollendung seines 80. Lebensjahres gestorben. Seine Fragen sind bis heute von Bedeutung. Es sind gewissermaßen die Grundfragen der Menschheit schlechthin: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“

Predigten sollen ja auf die Grundfragen der Menschheit eine Antwort geben. Nie eine vollständige. Und auch nie eine perfekte. Aber sie sollen immer den Versuch wagen. Und sie sollen die Richtung andeuten, in der wir die Antwort suchen können.

Der heutige Predigttext bezweifelt, ob wir Menschen je wirklich zu einer befriedigenden Antwort auf unsere Fragen gelangen können. Und der heutige Sonntag ist selber Beleg dafür, dass unserem Denken Grenzen gesetzt sind.

Dieser Sonntag trägt ja den lateinischen Namen Trinitatis. Es ist der Sonntag der Dreieinigkeit oder der Dreifaltigkeit Gottes. Was es wirklich damit auf sich hat mit dieser Einheit von Vater, Sohn und heiligem Geist ist mit den Möglichkeiten unseres Denkens kaum nachzuvollziehen. Und doch werden die kommenden 21 Sonntag des Kirchenjahres – alle Sonntage bis Ende Oktober - nach dem heutigen Sonntag gezählt werden. 20 Sonntage lang.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie langatmig, ja langweilig ich das als Kind fand. Fast ein halbes Jahr nichts Neues im Kirchenjahr. Und das nur wegen eines Festes, dessen Botschaft kaum zu begreifen ist.

Aber diese Unbegreiflichkeit Gottes – sie ist Bestandteil unseres Glaubens. Sie gehört dazu. Nicht weil wir uns nicht bemühen. Sondern weil unseren Denkmöglichkeiten hier einfach Grenzen gesetzt sind. Weil Gott sich zuletzt den engen Grenzen unseres Denkens und unserer Vernunft entzieht.

Das ist wohl auch der Grund dafür, dass man die Verse am Ende des 11. Kapitels des Römerbriefes zum Predigttext für diesen Sonntag Trinitatis ausgewählt hat. Diese Verse stehen am Ende der drei zentralen Kapitel des Römerbriefes. Paulus befasst sich in den Kapiteln 9 bis 11 mit der Bedeutung und mit dem Ergehen Israels. Eingepfropft seien wir als Christinnen und Christen in den Ölbaum Israels, heißt es da. Und weiter: Dieser Ölbaum trägt uns. Nicht umgekehrt.

Was uns unterscheidet, ja was uns trennt, sei die Bedeutung, die wir Jesus beimessen. Doch warum Israel hier einen anderen Weg geht, bleibt ganz einfach Gottes Geheimnis. Wie der ganze Gang der Geschichte Gottes Geheimnis bleibe. Dann schließt Paulus diesen Teil des Römerbriefes mit jenen Versen ab, die heute der Predigttext sind. Dann heißt es also abschließend im 11. Kapitel des Römerbriefes in den Versen 32 bis 36:

Gott hat alle Menschen eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?« Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste?« Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Der Gang der Geschichte bleibt also Gottes großes Geheimnis, liebe Gemeinde. Obwohl wir heute viel Zeit und Energie darauf verwenden, Geschichte zu erinnern. Und zu verstehen. An drei Beispielen möchte ich das verdeutlichen. Um dadurch einen Zugang zum heutigen fest der Dreieinigkeit Gottes zu finden.

Heute ist nicht nur der Sonntag Trinitatis. Heute ist auch der 60. Jahrestag des sogenannten D-Day. Zeitung und Fernsehen haben schon viel darüber berichtet.

Eine unklare Wetterlage, so wie in den letzten Tagen auch wieder, hatte zu unterschiedlichen Einschätzungen geführt. Die deutschen Generäle rechnen mit schlechtem Wetter und wiegen sich in Sicherheit. General Eisenhower, der Oberbefehlshaber der amerikanischen Armee gibt dagegen den Starbefehl für die „Operation Overlord“.

Wir wissen alle, welche Folgen dieser 6. Juni vor 60 Jahren mit der Landung der Alliierten in der Normandie für den weiteren Kriegsverlauf hatte. Und es ging wahrhaftig lange genug, bis sich die Einsicht durchgesetzt hatte, dass dies am Ende nicht nur der Tag des Beginns einer großen Niederlage war. Sondern zugleich der Beginn der Befreiung von einem Regime, dessen Schreckensherrschaft Abermillionen Menschen den Tod gebracht hatte.

Gott blieb dabei als geschichtsgestaltende Kraft außen vor. Er blieb im Blick bei vielen einzelnen. Er musste helfen zu verkraften, was doch kaum zu verkraften war. Unrecht. Leid. Millionenfachen Tod. Für den Gang der Geschichte Gott aber kaum in Anspruch zu nehmen. Von Schuld wollte noch kaum jemand sprechen. Bestenfalls von einer Niederlage.

Und mit dem Predigttext kann man nur hinzufügen: Wie unbegreiflich sind Gottes Gerichte und wie unerforschlich seine Wege! Was als katastrophale Niederlage begann, war der Beginn eines Weges in neuer Freiheit. Und mit neuen Perspektiven. Damit bin ich beim zweiten historischen Anlass, dessen wir in diesen Monaten gedenken. Und dessen Bedeutung mit dem eben erinnerten D-Day eng zusammenhängt.

Diese andere Erfahrung, die des Erfolges trotz alledem, die musste vorerst auf sich warten lassen. Gehen wir darum im Gang der Geschichte zehn Jahre weiter.

In genau einem Monat jährt sich zum 50. Mal ein ebenfalls bedeutsames Ereignis. Auch dieses Ereignis wurde in allen Medienlängst von allen Seiten beleuchtet. Jetzt spreche ich vom sogenannten Wunder von Bern und vom 4. Juli 1954. Der Sieg im Berner Wankdorf-Stadion machte eine große Wende in der Entwicklung der noch jungen Nachkriegszeit öffentlich. Es war der Beginn des Aufbaus einer neuen Selbstachtung der gerade fünf Jahre alten Bundesrepublik. Es ging längst nicht nur um Fußball. Es ging darum, sein Leben nicht nur unter dem Vorzeichen des ewigen Verlierers zu begreifen.

Am Ende dieses neuen Weges zeichnete sich as deutsche Wirtschaftswunder ab. Und die große Verdrängung der Aufgabe, die Jahre nach 1933 wirklich aufzuarbeiten. Wir sind jetzt wieder wer, sagte man sich. Und man vergaß, danach zu fragen, woher die Sehnsucht rührte, wieder jemand sein zu wollen. Erst in den 70er Jahren begannen die Nachgeborenen zaghaft, aber dann immer heftiger nach dem zu fragen, worüber man so lange nicht sprechen durfte.

Geschichte als verdrängte Last. Und Gott als der, der Zukunft garantiert. Und einem neue Lebensmöglichkeiten gewährte. Der beim Blick zurück aber kaum eine Rolle gespielt hatte. Aber längst wies noch kein Weg in die Richtung, die der Predigttext beschreibt: Gott hat alle Menschen eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Zum Erbarmen im Blick auf das, was sich ereignet hatte, bleibt noch ein langer Weg. Mühsam sind wir dabei, unseren neuen Ort im Weltgefüge zu finden. Auf Offenheit und auf neuen Freundschaft stoßen wir dabei allenthalben. Vergebung ist noch einmal etwas anderes. Sie kann nicht erarbeitet und erzwungen werden. Sie muss gewährt werden. Und zwar von denen, gegenüber denen wir uns schuldig gemacht haben.

Damit ist die Brücke geschlagen zum dritten Ereignis, an das wir schon mit dem heutigen Glaubensbekenntnis erinnert wurden. Dieses Mal müssen wir also gedanklich 70 Jahre zurückbewegen, in das Jahr 1934. In den Ort, aus dem der gerade aus dem Amt scheidende Bundespräsident herstammt. Nach Barmen – heute einem Stadtteil von Wuppertal.

Vor einer Woche waren es 70 Jahre, dass sich dort in der Gemarker Kirche Vertreter von Kirchen und Gemeinden zu einer Synode versammelten. Ihr Ziel war es, den Deutschen Christen ein eindeutiges Bekenntnis entgegenzusetzen. Die Machtergreifung Hitlers hatten viele als unübersehbares Zeichen des göttlichen Eingreifens in die Geschichte verstanden. Rasse und Nation wurden zum Götzen. Die Bibel sollte von jüdischen Einflüssen und vom minderwertigen Alten Testament bereinigt werden. Was für eine Blindheit gegenüber dem Anspruch des dreieinigen Gottes!

Schon zwanzig Jahre vor Bern gab es also ein anderes, größeres Wunder. Das Wunder von Barmen. Einmütig werden sechs Thesen werden verabschiedet, die festhalten, worauf es am Ende allein ankommt. Der Spitzensatz steht dabei gleich am Anfang, in der allerersten These:

Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.

Von dieser 70 Jahre alten These fällt ein Licht nicht nur auf die beiden anderen Ereignisse von vor 60 und vor 50 Jahren. Und diese These macht auch klar, was alle die eben beschriebenen Ereignisse mit Trinitatis zu tun haben. Die Welt war im einen wie im anderen Fall nicht ohne Gott. Aber weder aus dem einen wie aus dem anderen Fall lässt sich Gottes Eingreifen in die Geschichte der Welt ablesen. Gott ist sehr wohl präsent durch die Geschichte hindurch. Aber der Geschichte eignet keinerlei göttliche Qualität. Sie ist keine Offenbarung Gottes.

Auch nicht die Entwicklungen von 1933, auf die die Barmer Bekenntnissynode reagierte. Es sind nicht wirklich die ureigenen Namen Gottes, mit denen wir Gott so gerne beschreiben und dingfest machen wollen. Gottes Namen heißen nicht Sieg und nicht Niederlage. Nicht Erfolg und nicht Wachstum. Gottes Wohnung unter uns ist weder die Natur noch die Geschichte.

Gott hat seinen Ort unter uns in Jesus von Nazareth, für den an Karfreitag nicht alles ans Ende kam. Und dessen Auferstehung wir an Ostern feiern. Dies ist nicht der erwartete, selbstverständliche fromme Schwenk, auf den es in jeder Predigt ankommt. Sondern die einzige Alternative, um nicht in Gefahr zu geraten, Gott in die Beliebigkeit zu entlassen. In allem und jedem Gott wahrnehmen zu wollen. Und Gott damit klein und austauschbar zu machen.

Gott ist und bleibt der ganz andere. Das ist die Botschaft von Barmen. Und die Botschaft des heutigen Predigttextes. Darum befinden wir uns gegenüber Gott alle in derselben Position. Nämlich in der, von der der Predigtext gleich im ersten Satz spricht: Gott hat alle Menschen eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Garant dieses allen Menschen unterschiedslos zugesprochenen und zugeeigneten Erbarmens Gottes ist eben dieses eine Wort Gottes, von dem die erste These von Barmen spricht. Der, in dem Gott wurde wie einer von uns. Der, an dem wir erkennen können, wie wahres Menschsein sich darstellt. Wie Gott uns Menschen gemeint hat.

Diese eine Wort Gottes, das ist der, in dem Gott sich nicht zu schade war, erkannt zu werden mitten in dieser Welt. Mitten unter den Menschen. Der, dessen Botschaft vom Reich Gottes die Welt verändert. Bis heute.

Gott ist sich also nicht selber genügsam. Gott geht in diesem Jesus Christus außer sich. Mischt sich ein in den Gang der Dinge dieser Welt. Lässt den Samen eines neuen Miteinander und eines ganz anderen und die Welt veränderten Geistes aufgehen. Wahrnehmbar. Unumkehrbar. Nichts so lassend wie es ist. Das ist der Sinn der rede von der Dreifaltigkeit, ja mehr noch der Vielfaltigkeit und Vielfältigkeit Gottes. Das feinern wir an Trinitatis. Und an allen Sonntagen, die diesem heutigen Sonntag nachfolgen.

Wir feiern die Lebendigkeit, die Vitalität Gottes. Wir feiern, dass Gott kein Mythos für uns bleibt, sondern ein Gesicht hat. Und Fleisch und Blut. Dass wir ihn mit den Händen greifen können. Ohne in festzulegen auf irgendwelche Orte und Ereignisse. Auf Mächte und Gestalten, wie es in der ersten These aus Barmen heißt.

Wir feiern, dass Gott sich an die Stelle der offengebliebenen Fragen stellt. Auch der Fragen Immanuel Kants. „Was kann ich wissen?“ Wissen kann ich also, dass Gott in der Geschichte erfahrbar bleibt. Dass er sich aber nicht darauf einlässt, auf geschichtliche Erfahrungen reduziert zu werden. Gott bleibt der ganz andere. Auch gegenüber der Geschichte.

Was soll ich tun? Allemal darauf verzichten, mehr sein zu wollen als das, was uns Menschen zugedacht und zuträglich ist. Damit leben zu lernen, dass Erkennen, und schon gar die Erkenntnis Gottes, ihre heilsamen Grenzen hat.

Bleibt die dritte Frage: Was darf ich hoffen? Doch zuallererst das, was die Mütter und Väter der Barmer Theologischen Erklärung bekannt haben. Dass Jesus Christus das eine Wort Gottes ist, dem wir zu vertrauen haben. Im Leben. Aber auch im Sterben.

Dann kann neben das Wunder von Barmen und das Wunder von Bern jenes dritte Wunder treten. Jenes Wunder, das wir täglich neu machen können. Das Wunder des Glaubens. Das Wunder der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. Mehr braucht es nicht, um zu leben. Mehr braucht es nicht, um Gott recht zu sein. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.