GOTTESDIENST MIT PFARRWAHL
AM MONTAG, DEN 11. JULI 2005
IN DER MARTIN-LUTHER-KIRCHE IN MARCH-HUGSTETTEN

11.07.2005
Gut, dass es die Kirche gibt, liebe Gemeinde! Gerade in einem Gottesdienst, in dessen Verlauf eine Pfarrwahl stattfindet, müssen wir das doch dankbar sagen können. Gut, dass es die Kirche gibt! Mit ihren hauptamtlichen - und viel mehr noch mit ihren ehrenamtlichen - Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Mit ihren Gebäuden, die Menschen Raum bieten, zu sich zu kommen. Und Gottes Gegenwart zu feiern. Mit ihren Kirchen und Gemeindezentren, die immer wieder neu zu einem Ort der Gottesbegegnung werden. Gerade ihre Gemeinde ist reich an solchen Gotteshäusern gesegnet.

Gut, dass es die Kirche gibt! Nur: Wie viel Kirche können wir uns eigentlich noch leisten, liebe Gemeinde? Eine Karikatur fiel mir vor einiger Zeit in die Hände. Sie beschäftigte sich mit den Problemen unseres Gesundheitssystems. Ein Patient liegt im Bett. Vor dem Bett steht der Professor und der ganze Tross der Visite. „Herr Professor“, fragt der Patient, „werde ich denn wieder gesund?“ Und der Professor antwortet: „Wir müssen es erst durchrechnen!“

Gesundheit, die sich rechnet. Gesundheit, die sich rechtfertigen muss auf Euro und Cent. Gesundheit, die den Nachweis zu erbringen hat, dass die hohen Kosten auch Sinn machen. Gesundheit, von der wir nicht mehr im Angebot haben als das was wir noch bezahlen können. Die Ware Gesundheit ist uns längst nicht nur lieb, sondern vor allem auch teuer geworden. Und wo der Hausarzt um die Ecke nicht mehr zur Zufriedenheit helfen kann, suchen wir uns Ausweichstrategien. Bezahlen wir viel Geld, um mit unseren Hoffnungen an anderen Heilung versprechenden Orten an Land gehen zu können.

Patientin Kirche! Ist es also das, worüber wir gegenwärtig neu nachdenken müssen. Meine Antwort ist klar. Und sie lautet ganz einfach: Nein! Kirche muss sich ändern – ohne Zweifel. Doch das muss sie nicht erst in diesem dritten Jahrtausend. Kirche musste uns muss reagieren auf die vielfältigen Veränderungen in der Welt um sie herum. In Kultur und Gesellschaft. In Politik und Wissenschaft. In unserem Denken. In unserem Nachfragen. In unserem Bedarf nach Sinn und Geborgenheit. Sie muss sich ändern auch in ihrem finanziellen Gebaren. Doch Patientin Kirche? Auf gar keinen Fall. Diese Blickrichtung bringt uns nicht weiter.

Ob und wie viel an Kirche wir uns leisten wollen oder leisten können – das ist doch gar nicht die Frage. Schließlich ist die Kirche uns immer schon voraus. Ist vorfindlich als der Raum, in dem Gottes Gegenwart unter uns Gestalt gewinnt. Ist die bunte Gemeinschaft derer, die sich in ihrem Leben von der Frage nach Gott bewegen lassen. Wir können sein, weil Kirche ist. So macht es Sinn. Und nicht umgekehrt.

Wir können doch im Ernst nicht sagen, dass wir Kirche machen. Vielmehr lassen wir uns ein auf die Kirche. Nehmen das Angebot wahr, Kirche unter den sich jeweils ändernden Voraussetzungen zu gestalten. Als Ort der Entfaltung unserer Gaben. Also nicht: Wie viel Kirche können wir uns noch leisten? Sondern bestenfalls: Wie sieht die Kirche aus, in der wir auch in Zukunft einfach noch sein dürfen, ohne dass wir zuerst nach unserem Leistungsvermögen gefragt werden?

Kein Zweifel: Kirche ist immer Kirche mit Menschen. Kirche als Gemeinschaft derer, die vor Gott ihr Leben gestalten. Die danach fragen, wie sie Gott immer wieder neu in den Entscheidungen ihres Lebens Raum geben können. Und darum sucht die Kirche auch immer wieder nach der diesem Auftrag und der dieser Bestimmung angemessenen Gestalt. Weil die äußere Gestalt ihre Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes nicht Lügen strafen darf. Deshalb muss sich Kirche immer wieder ändern. Aber sie wird dabei nicht aufhören, Kirche zu sein.

Der Wochenspruch für diese gestern begonnene, noch fast neue Woche entfaltet in einem schönen Bild, wie wir uns die Kirche vorstellen können. Sie haben ihn eben schon als Teil des Lesung aus dem 2. Kapitel des Epheserbriefes gehört. Da heißt es also:

So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge,
sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.


Willkommen zu Hause! So müsste ich sie eigentlich angemessen begrüßen. Nicht nur sie, die sie sich auf den Weg gemacht haben an diesem Abend. Sondern all die anderen auch. Denn für sie alle gilt:
So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge,
sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.


Dabei ist das Problemfeld, das die Wortwahl andeutet, keineswegs von gestern. „Jeder Mensch ist Ausländer. Fast überall.“ Das steht auf manchen Autos als Aufkleber zu lesen. Das aus der Sprache des Dritten Reiches stammende Wort von den „Fremdarbeitern“ ist neuerdings wieder unsäglich salongfähig gemacht worden. Und anstatt endlich über ein europäisches Staatsbürgerschaftsrecht nachzudenken, erleben wir gegenwärtig wieder das Neuaufleben der Prioritätensetzung zugunsten nationalstaatlicher Rahmenbedingungen. Die offenen Grenzen machen – so hat es den Anschein – Angst. Auch Europa soll seine Grenzen akzeptieren.

Das zweite Kapitel des Epheserbriefes befasst sich gerade mit dieser Problematik. Dort zunächst am Beispiel der Grenze zwischen Juden und Nichtjuden. Die einen – die aus dem Volk Gottes - gehören zunächst von vornherein dazu. Die anderen sind draußen. Werden zwar geduldet. Aber die Grenzen bleiben dicht. Wer zu spät kommt, den bestraft eben das Leben.

Der Schreiber des Epheserbriefes sieht diese Grenzen fallen. Christus ist für ihn dafür der Garant. Von ihm sagt er, er habe den Zaun abgebrochen. Zwischen Juden und Nichtjuden. Aber nicht nur den. Denn der Apostel Paulus öffnet diesen Akt der Entgrenzung über das Feld der Religion hinaus. Hin zu den sozialen Strukturen. Bis hin zu den unterschiedlichen Rollenzuweisungen von Männern und Frauen. Paulus schreibt an die Gemeinde in Galatien: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau. Denn ihr seid allemal einer in Christus Jesus.“

Befreiende Entgrenzung. Das also macht Kirche aus. Nicht die Bestreitung von Unterschiedlichkeit. Sondern die Aufhebung der damit verbundenen Wertigkeiten: Oben die einen. Und unten die anderen. Genau das meint darum auch der Begriff der Versöhnung. Nicht etwas ungeschehen machen. Sondern den Machtansprüchen wehren, die aus dem je eigenen Sein und dem je eigenen So-Sein resultieren. Nicht Macht und Moral, nicht Geschlecht und Geschick beim Erreichen von Zielen bestimmen unseren Wert.

Unser Wert ist von allem Anfang an gar nicht verhandelbar. Wir müssen uns nicht als Fremde oder zumindest Weltfremde abstempeln lassen. Und uns im Gästetrakt vornehm abseits fühlen. Wir alle gehören dazu. Zur großen Familie Gottes. Zur Gemeinschaft derer, die heilig sind, weil ihnen noch etwas heilig ist.

So sind wir nun nicht mehr Gäste oder Fremdlinge,
sondern Mitbürgerinnen und Mitbürger der Heiligen
und Gottes Hausgenossinnen und Gottes Hausgenossen.


Menschen, die sich nicht mehr durch ihre Grenze definieren, sondern durch die Bereitschaft, alle entwertenden und kleinmachenden Grenzen nicht mehr länger zu akzeptieren.
Eine letzte – und auf den Anlass dieses Gottesdienstes abzielende Frage - sei darum noch erlaubt: Welche Aufgabe hat ein Pfarrer oder eine Pfarrerin in dieser so beschriebenen Kirche? Fremdenführer oder Hausmeister? Nachbar oder Bürgermeister? Womöglich von allem etwas. Aber darüber hinaus noch mehr: Koordinator. Brückenbauer. Und Unterstützer in Sachen Versöhnung. Und all dies nie allein. Sondern zusammen mit all den anderen, die durch dieses Projekt der befreienden Entgrenzung zu Menschen mit neuer Perspektive werden.

Dabei ist die Perspektive klar. Und längst zu unseren Gunsten gewonnen. Eingeladen sind wir, uns an ihr auszurichten. Um Orientierung zu gewinnen. Und das Leben selber. Gut, dass es die Kirche gibt. Und viel mehr Kirche, als wir uns leisten könnten. Gottseidank!

Amen.
und
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.