PREDIGT IM ADVENTSGOTTESDIENST
DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE REIBURG
AM MITTWOCH, DEN 30. NOVEMBER 2005
IN DER LUKASKIRCHE IN FR-ST. GEORGEN
„ADVENT - DIE ERWARTUNG DES GRENZENLOS HEILIGEN“

30.11.2005
Im Advent werden unsere Sehnsüchte offenbar, liebe Schwestern und Brüder. Die Sehnsucht nach Licht an immer dunkler werdenden Tagen. Die Sehnsucht nach Wärme in frostiger Jahreszeit. Die Sehnsucht nach Unversehrtheit und nach der Heilung dessen, was in die Brüche gegangen ist. Die Sehnsucht nach Leben, das diesen Namen wirklich verdient.

Zu verletzlich ist unser Leben und zu dünn der Boden, auf dem wir es gestalten, als dass wir diese Sehnsucht nicht nötig hätten. Längst ist noch nicht Wirklichkeit, wonach wir uns sehnen. Der Advent spiegelt in Gestalt der Erwartung wider, was uns das Leben in seiner Fülle noch vorenthält.

Die Lichterfeste an den dunkelsten Tagen des Jahres sind älter als das Christentum. Und der christliche Festkalender in diesem Abschnitt des Kirchenjahres reich an Lichterfeiern. Die vier adventlichen Sonntage mit ihren Kerzen sind in unseren Breiten sicher die beliebtesten. Wer sein Augenmerk auf Kinder richtet, wird kaum am Martinstag mit der bunten Laternenvielfalt herumkommen. Und wer über die Landesgrenzen hinausschaut, wird womöglich an Schweden und an den Lichterkranz denken, den die Lucia am 13. Dezember auf dem Kopf trägt.

All diese Feste sind nur ein verdeckter Hinweis, eine verstohlene Andeutung der weihnachtlichen Lichterfülle, die das Kommen dessen ankündigt, der von sich selbst gesagt hat: Ich bin das Licht der Welt! Die Zeit des Advent, in der wir uns jetzt befinden, sie ist die Zeit der Anbahnung des Größeren, auf das wir warten.

Zwei Texte gibt es, die mehr als andere untrennbar mit dem Advent verbunden sind. Diese beiden Texte kommen keineswegs zurückhaltend und mit vornehm-sachter Andeutung daher. Sie bringen den Advent mitnichten in leisen Tönen zur Sprache und zum Klingen. Vielmehr tragen sie Kennzeichen einer festlichen Ouvertüre an sich und sie scheuen auch die adventlichen Fanfarenklänge nicht. Stille Nacht hat ja noch Zeit. Jetzt ist unüberhörbar und überschwänglich Advent. Dies sei all denen zum Trost gesagt, die sich den Advent ruhiger und besinnlicher wünschen.

Um zwei lautstarke Adventstexte soll es also gehen in diesem Gottesdienst. Natürlich ahnen sie alle, welche beiden Texte derart gewaltig daherkommen. Zum einen der 24. Psalm, der wie heute Abend auch in den meisten Gottesdiensten am vergangenen ersten Adventssonntag gebetet wurde. Und zum anderen die Nachdichtung dieses Psalms in Liedform, das Lied „Macht hoch die Tür“. Dieses Lied haben wir eben miteinander gesungen. Der Psalm soll heute Abend im Mittelpunkt der Predigt stehen.

Ich möchte Sie deshalb zunächst einladen, den Psalm noch einmal miteinander zu sprechen. Und zwar dne ganzen 24. Psalm. Nicht wie sonst als Psalmgebet im Wechsel. Sondern in verteilten Rollen. Drei Rollen bieten sich an. Darum teilen wir uns auch in drei Gruppen ein. Jede Gruppe übernimmt eine Rolle. Wir brauchen eine Hymnus-Gruppe (links), dazu die Gruppe der Leute (rechts) und die Gruppe der Priester (die ich zusammen mit den Pfarrerinnen und Pfarrern übernehme).

Hymnus-Gruppe
Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.
Denn er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.


Die Leute
Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?
Die Priester
Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug und nicht falsche Eide schwört.
Hymnus-Gruppe
Der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heiles.
Die Leute
Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt, das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.
Alle gemeinsam
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!
Die Leute
Wer ist der König der Ehre?
Die Priester
Es ist der Herr, stark und mächtig, der Herr, mächtig im Streit.
Alle gemeinsam
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!
Die Leute
Wer ist der König der Ehre?
Die Priester
Es ist der Herr Zebaoth; er ist der König der Ehre.
Sie haben es wahrscheinlich schon vorhin gemerkt: Im Gesangbuch ist der 24. Psalm zweigeteilt. Doch eigentlich sind es gleich drei Psalmen, die wir eben miteinander gelesen und gesprochen haben – aneinandergehängt und zusammengefügt vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren. Ich habe versucht, es im Ausdruck ein wenig zu veranschaulichen. Die Zusammenfügung dieser drei Teile zeugt durchaus von theologischer Klugkeit. Auf einem festen Fundament können wir zwei Bewegungen beobachten: Eine Bewegung und eine Gegenbewegung. Einmal in Richtung von den Menschen hin zu Gott. Und einmal von Gott hin zu den Menschen.

Das Fundament des Psalms steht wie eine Präambel am Anfang. „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.“ Obwohl nur ein kleiner Satz, verbirgt sich darin doch ein großes Bekenntnis. Weil die Erde Gott gehört, weil Gott den Mächten der Zerstörung Einhalt geboten hat, ist jede Form der Ausgrenzung heiliger Zonen nicht mehr sinnvoll. Gottes Anspruch auf die gesamt Erde spricht die gesamte Erde heilig. Und nicht nur irgendwelche ausgesonderten heiligen Räume. „Die Erde ist des Herrn.“ Dieser Satz führt uns an den Uranfang des Seins. Er rückt die Schöpfung in den Blick. Die heile und heilige Welt des Anfangs. Die Welt vor dem Einbruch des Bösen.

Doch den Menschen bekommt diese Weite nicht. Sie fühlen sich überfordert. Sie sehnen sich nach Überschaubarkeit und Grenzen. Gerade auch im Bereich des Allerheiligsten, im Bereich des Glaubens und der Religion. Die Unbegreiflichkeit und die Unendlichkeit Gottes muss doch erträglich bleiben. So entstehen Tempel und Heiligtümer. Überschaubar und handhabbar. Gott lässt sich aushalten, domestizieren, wenn wir ihm heilige Orte zuweisen. Reservate und Oasen der Begegnung. Örtlich und zeitlich. Auch der Tempel in Jerusalem steht in der Tradition dieser Heiligtümer. Darum wehrt Gott zunächst auch dem Ansinnen Davids, ihm einen Tempel zu errichten. Erst sein Sohn Salomo hat mit diesem Projekt Erfolg.

Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Psalms ist sein Tempel wohl aber auch schon wieder ein Ort der Erinnerung. Der Tempel in Jerusalem liegt in diesem sechsten Jahrhundert von Christi Geburt bereits in Trümmern. Und ist doch in der bleibenden Erinnerung wirklicher und schöner als er vorher je war. Weil die Bitterkeit seiner Zerstörung zugleich seine Entgrenzung als heiligen Ort möglich machte. Und weil die Gewissheit, dass die ganze Erde Gott gehört, diesen Tempel längst in ein anderes Licht gerückt hatte.

Doch zunächst noch einmal zurück an den Anfang. Am Tempel hatte die Hoffnung ihren festen Wurzelgrund. Er war Gottes Wohnort mitten in der Welt. Kein Wunder, dass es die Menschen immer wieder dahin zieht. Aber wie kann die Begrenztheit der Menschen die Unbegrenztheit Gottes aushalten? Wie kann das Unheilige die Berührung mit dem Heiligen ertragen?

Wie durch eine reinigende Schleuse hindurch wird der Eintritt in die heiligen Zonen möglich. Und ein Wortwechsel wird zum mündlichen Reinigungsritual. Es ist eine richtige kleine Tempelliturgie, die uns der Psalm überliefert. „Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?“ - so fragt ein priesterlicher Wächter der heiligen Zonen. Und wie mit einem erlernten Katechismussatz antworten die Menschen, die Einlass ins Heilige begehren: „Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug und nicht falsche Eide schwört.“

Wenn diese Bedingung gilt, ernsthaft gilt, bliebe der Tempel leer. Möglichkeit und Wirklichkeit wären hier kaum in Entsprechung zu bringen. Die Menschen damals waren gewiss nicht besser als die Menschen heute. Aber sie hatten womöglich noch eine ursprünglichere, eine untrügliche, eine ungestörtere Ahnung davon, in welchem Verhältnis Gott und Mensch zueinander stehen. Sie spürten, dass die Möglichkeit der Annäherung an das Heilige von unserem Verhalten nicht zu trennen ist. Darum fühlen sie sich aufgehoben als Menschen, die sich ihrer Suche bewusst sind. Als Menschen, die im radikalen Fragen nach Gott keinen Irrweg, sondern einen Weg sehen, der sie Gott näher bringt.

Dieser Bewegung der Menschen hin zu Gott, diesem Versuch der fragenden Annäherung, schließt der Psalm in seinem dritten bekanntesten Teil das Fest der Einwohnung Gottes an. Im Tempel zunächst. Und dann eben doch auf der ganzen Erde. Mögen wir uns Gott fragend und zögerlich nähern – Gott kommt in seiner Fülle auf uns zu. Auch wenn diese Fülle verborgen ist unter den Zeichen der für uns erträglichen Begrenztheit.

„Gott ist der König der Ehren“ – so übersetzt Luther die priesterliche Antwort auf die Frage der Menschen. Dabei geht es keineswegs um die Ehre Gottes nur in dem Sinn, wie wir Ehre verstehen. Es geht um Gottes Vielfältigkeit. Es geht um die Grenzenlosigkeit seiner Liebe und die Unendlichkeit seiner Gegenwart. Es geht um Gottes Schönheit. Es geht darum, dass wir nicht zu fassen vermögen, was dennoch fassbar werden und mit den Händen zu greifen sein soll – die Unfassbarkeit de Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung.

Gott bindet sich selbst. Grenzt einen Ort seiner Gegenwart aus. Schafft die Möglichkeit der Annäherung – ohne sich dabei unkenntlich zu machen. Ohne in unserem Unvermögen, ihn zu fassen, verschlungen zu werden.

Es bleibt noch ein weiterer Schritt, um vom Advent Gottes im Tempel zum Advent des Jahres 2005 zu kommen. Der 24. Psalm gehört uns nicht. Er ist gewissermaßen eine Leihgabe. Dieses Psalmlied entstammt dem Gebetsbuch unserer jüdischen Schwestern und Brüdern. Wir haben kein Recht, ihre Hoffnungen so umzubiegen, dass sie in unserem Erwartungshorizont eingepasst werden können.

Doch über das Trennende und Unterschiedene führt eine Brücke. Die Brücke – zunächst - des gemeinsamen Glaubens an den Schöpfergott. Die Brücke der gemeinsamen Sehnsucht, die Welt hin zum Guten verändern zu können. Und am eigenen Leib die Erfahrung der aufgehobenen Brüchigkeit machen zu können. Darum verbindet uns – zum anderen – auch die Sehnsucht der Erwartung. Der noch ausstehenden Ankunft der Wirklichkeit Gottes in Vielfalt und Fülle

Seit zweitausend Jahren haben darum auch andere Menschen sich in den Worten dieses Psalm aufgehoben gefühlt mit ihren Sehnsüchten. Haben ihn als Sprachhilfe und Glaubenshilfe verstanden in ihrer je eigenen Hoffnung auf das Kommen Gottes. Und sie haben in ihn ihre Hoffnung eingetragen, dass Gott noch einmal in ganz anderer Weise in dieser Welt Wohnung nimmt. Dass sich das Heilige nicht nur an einen Ort bindet, sondern an einen Menschen, Dass sich die Wirklichkeit Gottes in dem Menschen festmachen lässt, aus dessen Angesicht uns die Unbegrenztheit Gottes entgegenleuchtet wie aus einem Spiegel. Aus dem Angesicht dessen, in dem Gott Mensch wurde wie wir. So wird der Advent zur Zeit der Erwartung der Gegenwart Gottes in Jesus, in dem Gott uns nahe kommt und wird, wie einer von uns.

Advent heißt darum, den Blickwinkel verändern, um Gott erwarten und sehen zu können. Heißt mit Gott rechnen als der verwandelnden Kraft der Zukunft, in die unsere Gegenwart mündet. Advent heißt, mit dem Kommen Gottes so rechnen, dass unsere Bilder des Vorfindlichen in Brüche gehen, damit Gott sich so ganz anders und voller überraschender Horizonterweiterungen zu erkennen gibt.

Wie anders als in einem Kind könnt Gott über den Haufen werfen, worin wir uns so fest eingerichtet haben! Wo anders als in einem Hinterhof des römischen Reiches könnte Gott Wohnung nehmen, wo alle gebannt auf die Paläste der Mächtigen schielen! Wo anders als in unserer Unruhe und unserer Umtriebigkeit, in unseren Beeinträchtigungen und in unseren Belastungen kann die Sehnsucht nach der Stille der Weihnacht Wurzeln schlagen! Wo anders als in unserem Leben will Gott selber sich zu erkennen geben!

Wo wir die Größe Gottes erwarten

in der Sehnsucht des noch Ausstehenden

und in der Schönheit der kleinen Dinge,

da wird Advent.

Und wo wir die Größe Gottes erkennen

in jenem Kind,

dessen Geburt uns auch in diesem Jahr

wieder herausreißt aus allen Sicherheiten

und hineinwirft in die grenzenlos heilige Welt Gottes, da wird dann auch wirklich Weihnachten.

Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.