"DU STELLST MEINE FÜSSE AUF WEITEN RAUM!“
PREDIGT ZUR TRAUUNG VON ANTJE UND ULRICH
AM SAMSTAG, DEN 1. OKTOBER 2005
IN DER LUTHERISCHEN STADTKIRCHE A.B. IN WIEN

01.10.2005
Liebe Antje,
lieber Ulrich!

Der 31. Psalm, den wir zu Beginn im Wechsel gebetet haben, ist heute zugleich Quelle und Fundort eures Trauspruchs. Gleich in mehrfacher Weise hätte man für den Anlass dieser heutigen Trauung in diesem Psalm fündig werden können. So könnte etwa der 5. Vers euren endlich gefeierten Eheschluss aus kritischer Perspektive ansprechen: „Du wollest mich aus dem Netze ziehen, das sie mir heimlich stellten“. Doch da ihr beide euch dieses Netz selber ausgesucht habt, wird es euch auch kaum wirklich erschrecken können.

Im Grunde passt an diesem Tag eurer Hochzeit allerdings kein Vers besser für euch als der 9.: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum!“ Und er passt gleich in mehrfacher Hinsicht.

Da wäre zunächst der große geographische Raum, den ihr mit euren Wohnsitzen wie mit euren Reisezielen umspannt. Wien, Berlin, Weimar – allein schon diese Spannweite, die Habsburg und Preußen zusammenschließt, markiert die schier auf Dauer gestellte Mobilität, die euere Lebensgestaltung derzeit kennzeichnet. Diesen Raum könnte man die osteuropäischen Länder deiner beruflichen Zuständigkeit anreichern, liebe Antje; und mit dem bunten Atlas eurer beider Reisziele in den letzten Jahren noch ergänzen. So war etwa Krakau nicht nur die Heimatstadt des im April verstorbenen Papstes. Es war zugleich auch die Geburtsstätte eurer Beziehung. Und damit eurer Liebe.

Weit ist er also allemal, der derart umschriebene Raum. Ihr habt eben in vielfacher Hinsicht Teil an den globalen Mobilitätsspielen auf unserem Globus. Und die sprachgeschichtlich zutreffende Feststellung deines Lateinlehrers, lieber Ulrich, dass nämlich Ausland und Elend in der Wortgeschichte zusammenhängen, habt ihr mit eurer persönlichen Erfahrung doch kräftig widerlegt.

In anderer Hinsicht habt ihr auch zeitlich längst einen weiten Raum miteinander durchschritten. Mehr als neun Jahre seid ihr mittlerweile miteinander verbandelt und verbündet. Das ist längst viel länger als die statistische Durchschnittsdauer eine Ehe.

Weit auseinander lagen zunächst auch die Ausgangspunkte, von denen aus ihr euch einander angenähert habt. Unterschiedlich geprägte Ausgangspunkte und familiäre Konstellationen, an deren Nach- und Nebenwirkungen man ohnedies ein Leben lang zu arbeiten. Unterschiedlich auch die beruflichen Orientierungen zwischen Volkswirtschaft und Architektur. Und doch wiederum gar nicht so weit voneinander entfernt, wenn man die Tiefenstrukturen vergleicht. Beides sind gewissermaßen Überbrückungswissenschaften. Unterschiedlich ist dabei eher die jeweils zur Anwendung gelangenden Materie. Das eine Mal großräumig mit den Medien der Finanzwelt. Das andere Mal vergleichsweise eher feinmaschigen Räume mit statisch und ästhetisch geschickt arrangierter Stofflichkeit.

Wer die weiten Räume liebt, muss vor allem anderen eines: Er oder sie muss die Spielregeln der Kommunikation beherrschen. „Die Revolution der neuen Kommunikationstechniken hat uns in die Hände gespielt“ – so habt ihr euch im Traugespräch rückblickend reflektierend geäußert. Es war die Zeit der durch sinkende Tarife urplötzlich boomenden HandySzene. Die Zeit auch der neu aufkommenden call-by-call-Nummern, die das Telefonieren günstiger machten. Es war die Zeit von SMS und email. Manchen Arbeitsplatz in den verschiedensten Telefongesellschaft habt ihr durch oft stundenlanges Telefonieren sichern helfen. Und habt dabei länger miteinander kommuniziert, als es – und ich verweise noch einmal auf die Statistik – die meisten Paare heute zu tun pflegen.

Kein Zweifel also: Der weite Raum hat euch bisher gut getan. Er ist gegenwärtig gewissermaßen das Strukturmodell euerer Beziehung. Natürlich bleibt die Frage: Was bringt dieser Tag – was bringt dieses Fest eurer Hochzeit nun zu eurer Beziehung dazu? Ändert, weitet oder verengt, sich dieser Raum? Eure Hochzeit hat ja gewissermaßen zwei gänzlich unterschiedliche Stationen. Der bürgerliche Eheschluss auf dem Standesamt in Berlin hat gewissermaßen die Formalia geregelt. Er hat Auswirkungen angefangen bei der Steuererklärung bis hin zur Alterversorgung. Es ist eine intensive Form des Vertragsschlusses, der auf der Grundlage geltender Gesetze verbindlich festlegt, welche Konsequenzen sich im Fall wünschenswerter oder geplanter Entwicklungen ergeben – oder eben auch im Fall des unerwünschten oder beziehungszersetzenden Absturzes.

Der Traugottesdienst in der Kirche bringt eine andere Dimension ins Spiel. Er macht – vor euren Freundinnen und Freunden, vor euren Familien und Verwandten - öffentlich, dass ihr eure Beziehung, eure Liebe, nicht als etwas Eindimensionales versteht. Dass ihr euch über den Wagnis- und Experimentiercharakter einer Liebesbeziehung im Klaren seid. Und dass ihr eben genau wisst, dass die Liebe sich verflüchtigen kann, wenn sie in der Grenzenlosigkeit des anything goes fröstelt und umherirrt.

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum!“ Es ist die Sehnsucht nach Begrenzung und Geborgenheit und zugleich die nach Orientierung und Verlässlichkeit, die mit diesem Satz genährt wird. Der Raum kann ruhig weit sein. Und er ist auf einengende Reglementierung nicht angewiesen. Aber es muss ein definierter, in seinen Grenzen erkennbarer Raum sein. Das Du, mit dem dieser Satz beginnt, das seid ihr beiden euch zunächst einmal selber. Ihr gebt und ihr gewährt euch gegenseitig den Raum, die Großzügigkeit und die Weitläufigkeit, die eure Beziehung ausmacht. Und ihr setzt euch zugleich die Grenze, deren Überschreitung die Existenz dieses Raumes gefährdet und in Frage stellt.

Und doch weist dieses Du zugleich über eure Möglichkeiten hinaus. Weil ihr euch überfordert, wenn alles Glück und alles Gelingen nur von euch selber abhängig ist. Weil ihr euch auch dann überfordert, wenn ihr, wenn’s einmal eng wird, nur auf eure eigenen Kräfte vertrauen könnt. Gut, dass ein anderer eure Füße auf weiten Raum stellt. Euch Freiräume eröffnet. Und euch Weite ermöglicht.

Nicht ohne Grund ist die intensiv gepflegte Kommunikationskultur ein Kennzeichen eurer Beziehung. Es ist eben die Kommunikation, die unsere Lebensräume und unsere Liebesräume definiert. Unsere Räume sind so weit, wie die Bindekräfte unserer Kommunikation wirksam bleiben. Gespräch und Zärtlichkeit. Miteinander ausgehaltenes Schweigen und gemeinsame Visionen. Ja selbst der klagende Schrei und die verletzende Wut. Dies alles sind Formen dieser raumgreifenden Kommunikation und damit ein fruchtbarer Nährboden für die Kräfte, die euch den weiten Raum der Liebe zur Verfügung stellen.

Und natürlich gilt: Wo schon unsere Liebe auf Kommunikation gründet, sei sie beredt oder schweigend in die Wirklichkeit gezogen – wo unsere Liebe schon auf Kommunikation gründet, trifft dies in alles überbietender Weise für jene geheimnisvolle Quelle alle Liebe zu, die wir in der Sprache der Religion und des Glaubens Gott nennen. Wie Gott selber Liebe ist, so ist Gott auch Kommunikation, die all unsere Vorstellungskraft übersteigt. Vielfältig in sich selber und seine eigenen Grenzen zu unseren Gunsten übersteigend mit uns kommunizierend.

Liebe Antje, lieber Ulrich, mit eurer Liebe seid ihr gewissermaßen eingebunden in dieses grenzenlose Kommunikationsfest Gottes. Und könnt so den weiten Raum für euch finden und ertragen. Als Geschenk. Gewissermaßen als Gottesgabe an euch beide. Aber auch über eure Zweiheit hinaus in den Raum eurer Freundschaften und eurer Familien. Und, wenn es denn sein soll, den Raum einer um Kinder erweiterten Liebe.

Geschenkt ist sie allemal. Und doch zugleich immer wieder neu erarbeitet. Erkämpft. Und nicht selten sogar erstritten. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum!“ Auf den geweiteten Raum durch die für Freundinnen und Freunde offen gehaltenen Tür. Auf den Raum der ausgehaltenen Weite in den fruchtbaren Differenzen zwischen euch beiden. Und auch zwischen euch und denen, die euch nahe stehen und zugleich immer wieder fremd bleiben. Wo der Architekt die Mauern setzt, wird die Volkswirtschaftlerin womöglich die Grenzen überwindenden Kräfte wahrnehmen. Und wo sie nach dem Mehrwert sucht, wird er die Schönheit des Unvernünftigen entgegensetzen.

Wir sind alle gespannt, wie ihr eure Weite gestaltet. Und wie die Gravitationszentren eurer Lebensweite einander näher rücken und womöglich sogar einmal zur Deckung kommen. Die Weite der Liebe lässt sich auch von der Begrenztheit eines Ortes keine Grenzen setzen. Schon gar nicht, wo Gottes Liebe menschliche Engstirnigkeit entgrenzt. Und wo Gottes große Lust mit den Liebenden zu kommunizieren, uns in die Weite der Liebe entlässt.

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum!“ Es gibt keine schöneren Worte, mit denen ihr Gott ins Spiel eurer Liebe bringen könnt. Und die euch am Fest eurer Liebe tanzen und singen lassen. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.