„EIN GERECHTER FRIEDEN IST MÖGLICH“
ANSPRACHE ZUM VOLKSTRAUERTAG 2006
GEHALTEN AM 19. NOVEMBER 2006
AUF DEM HAUPTFRIEDHOF IN FREIBURG

19.11.2006
Am Volkstrauertag gedenken wir alljährlich der Opfer der beiden Weltkriege und der Gewaltherrschaft. Die Gedenkfeier der Stadt Freiburg zum Volkstrauertag findet auch in diesem Jahr wieder auf dem Freiburger Hauptfriedhof statt. Dies hängt damit zusammen, dass wesentliche Orte des Gedenkens - wie das Ehrenmal für die Fliegeropfer, das Mahnmal für die Gefallenen und das französische Soldatengrab – sich hier auf dem Hauptfriedhof befinden.

Dieser Ort auf dem Friedhof ist programmatisch. Und er bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Bedeutung, die der Volkstrauertag für uns hat. Die meisten Menschen bleiben vom Besuch eines Friedhofs nicht unberührt. Die Botschaft der Gräber ist lautlos, aber unüberhörbar. Sie geht unter die Haut. Sie trifft uns in unserem Innersten. Wer die Stimme der Gräber verletzt, begeht einen Frevel an uns allen. Deshalb sind wir jedes Mal aufs Neue entsetzt, wenn uns die Botschaft von Gräberschändungen erreicht. Gräber sind einer Gesellschaft heilig. Oder sie sollten es zumindest sein. Sie sind sichtbare Merkzeichen unserer eigenen Wurzeln. Sie geben uns der Allgemeinheit zurück. Deshalb sind die Gräber derer, die für eine Gesellschaft von öffentlicher Bedeutung waren, immer auch Orte gewesen, zu denen sich die Menschen hingezogen fühlen.

Was macht denn nun die Besonderheit dieses Ortes aus? Zum einen: Ein Friedhof bringt uns mit unserer Vergangenheit in Berührung. Wenn wir etwa an den Gräbern von Menschen stehen, denen wir sehr verbunden waren. Gräber bewahren aber auch das kollektive Gedenken an Menschen, deren Bedeutung über ihren persönlichen Bekanntenkreis hinausgeht. An den Gräbern spätestens sind uns alle Menschen wieder zugänglich. Auch diejenigen, denen wir zu Lebzeiten wenig begegnet sind.

Die Botschaft der Gräber mahnt aber auch im Blick auf die Zukunft. Sie führt uns unser aller Zukunft vor Augen. Zumindest was unsere Absichten und Pläne hier auf dieser Erde betrifft. „Nicht wahr, Herr Pfarrer“, sagte einst eine Frau zu mir, die ich auf dem Friedhof traf. „Hier liegen doch so viele Hoffnungen begraben!“

Die große Hoffnung, des Volkstrauertags ist, dass dieser Satz, dass die Botschaft dieser Frau nur die halbe Wahrheit beinhaltet. Die Hoffnung ist, dass hier auf dem Friedhof auch Hoffnungen entstehen und wach gehalten werden. Und vor allem anderen doch gerade heute die Hoffnung, dass der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln doch für immer ausgespielt haben möge. Die derzeitige Weltlage mag für solche Hoffnungen immer wieder gehörig ins Wanken bringen, ja in sich zusammenfallen lassen. In unseren Breiten, vor allem hier bei uns in Deutschland und in weiten Teilen Europas bestimmt seit 60 Jahren und durch alle Krisen hindurch der Frieden die Rahmenbedingungen unseres Lebens. Weltweit gesehen ist der Krieg aber eine ständige und Menschen ängstigende und Menschen tötende grausame Realität geblieben, Und er befindet sich mitnichten auf dem Rückzug.

Unser eigenes Gedenken macht sich am heutigen Volkstrauertag wieder an den Mahnmalen unserer eigenen Opfer fest. Aber um nachhaltig Wirkung zu zeigen, muss dieses Gedenken nicht nur zurück, sondern doch zugleich auch nach vorne gerichtet sein. Gerade weil wir wissen, wie Kriege entstehen und welchen Grausamkeiten sie Raum und Entfaltung gewähren, muss unser Gedenken zugleich auch ein unabweisbares Ermahnen sein. Das mea culpa als Bestandteil des Gedenkens und Erinnerns muss sich in ein „Nie wieder!“ verwandeln.

Vieles spricht dagegen. Und zu allermeist die Tatsache, dass der Krieg der beständigste Begleiter der Geschichte der Menschheit ist. Dagegen spricht, dass sich die Erfahrung des Schreckens der Kriege immer nur sehr bedingt weitergeben lässt. Beinahe jede Generation tritt hier an, um diese Erfahrung selber zu machen. Dass der ganzen Gruppe derer, die jünger als 60 Jahre sind, zumindest in unserem Land die Erfahrung des Krieges erspart geblieben ist, könnte unsere Hoffnungen auf eine Welt ohne am Ende womöglich doch auch nähren und lebendig halten. Diese Hoffnung darf nicht verkümmern. Dieser Hoffnung müssen wir Füßen und Flügel verleihen. Frieden ist nur Frieden, wenn er ansteckend ist und sich ausbreitet.

Und ansteckend und attraktiv kann der Friede nur sein, wenn er über die Abwesenheit von Krieg hinaus gefüllt wird. Wenn er Gerechtigkeit und Teilhabe für alle ermöglicht. Zu diesem Frieden mahnt uns der Volkstrauertag Jahr für Jahr aufs Neue. Die Hoffnung auf diesen Frieden erst gibt unserem Gedenken eine Perspektive. Nicht die Lehre vom gerechten Krieg, sondern die Botschaft vom gerechten Frieden muss die Rahmenbedingungen auch unseres politischen Handelns vorgeben. Ein gerechter Frieden ist möglich.

An den Gräbern derer, denen dieser gerechte Frieden vorenthalten wurde, sollten wir uns verpflichten, diesem gerechten Frieden alle unsere Handlungsoptionen unterzuordnen. Ein gerechter Frieden ist möglich. Auf einem Ort wie diesem Friedhof sollten wir den Mut haben, zwischen relativen und absoluten Werteorientierungen zu unterscheiden. Ein gerechter Frieden ist möglich. Wenn uns diese kühne Hoffnung nie mehr loslässt, ist schon der erste und entscheidende Schritt auf diesem Weg getan. Nichts müssen die Machthaber der Gewalt und des Bösen auf diesem Planeten so sehr fürchten wie die Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit, die sich nicht mehr aus der Welt schaffen lassen.

Bereits vor 2000 Jahren haben Menschen diese Hoffnung in tröstende und zugleich ermutigende Worte gefasst. Auf der zweitletzten Seite der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, taucht diese Hoffnung eine damals wahrhaft düster Zukunft in ein neues Licht, wenn wir dort lesen: „Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, Gottes Behausung mitten unter den Menschen! Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“

Mögen noch so viele Hoffnungen auf diesem Friedhof begraben liegen. Die eine neue Hoffnung kann sie alles wieder zum Leben erwecken. Eine neue Welt ist uns zugesagt. Solange wir noch in dieser alten leben, haben wir genug damit zu tun, die Kultur unserer Hoffnungen zu pflegen. Ein gerechter Frieden ist möglich. Den Mut zum Umdenken verlangt er uns ab. Und die Bereitschaft aus der Vergangenheit zu lernen. Wir können uns darauf einlassen, wenn wir erkennen, dass der Verzicht auf diesen Mut das größere Risiko darstellt. Nirgendwo anders als auf diesem Friedhof kann unser Umdenken einen besseren Anfang nehmen. Die Botschaft der Gräber ist lautlos und unüberhörbar. Handeln müssen wir allerdings selber. Der Volkstrauertag ist ein guter Tag, damit zu beginnen!

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.