GOTT NIMMT DIE WIRKLICHKEIT ENST
PREDIGT ÜBER 2. KORINTHER 4,16-18
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 7. MAI 2007 (JUBILATE)
IN BISCHOFFINGEN

07.05.2006
Feste tun der Seele gut liebe Gemeinde! Wer feiert, ist obenauf. Wer feiert, sieht alles durch eine rosa Brille. Und er hat dazu auch ein Recht! Schließlich darf man es uns ruhig ansehen, wenn wir Grund haben zum dankbaren Rückblick und zum hoffnungsvollen Ausblick. Bischoffingen hat in diesem Jahr Grund zum Feiern. 450 Jahre evangelische Kirchengemeinde Bischoffingen. 450 Jahre seit dem Übertritt von Markgraf Karl II. zum reformatorischen Glauben. 450 Jahre Reformation in Baden. Am 24. März haben sie dies mit dem Landesbischof in eindrücklicher Weise gefeiert.

Wenn wir etwas feiern, blenden wir die dunklen Seiten aus. Man muss sich nicht alle Lasten an einem Tag auf die Seele legen. Jubilate! – so heißt dieser Sonntag im Kirchenjahr. Jubilate! Freut euch! Und feiert! Miteinander Kirche sein – ein gutes Motto für ein Jubiläumsjahr. Und zugleich ein gutes Motto für den heutigen Festtag.

450 Jahre Reformation - was feiern wir da eigentlich liebe Gemeinde? Hoffentlich mehr als ein geschichtliches Ereignis in ferner Vergangenheit. Wirklichen Grund zum Feiern haben wir doch nur dann, wenn uns dieses Ereignis auch noch heute leben lässt. Wenn wir Antworten finden auf die Fragen, die uns heute betreffen. Reformation – das bedeutet immer Umkehr. Eine Umkehr zu den Quellen, aus denen wir leben können. Damit die Zukunft nicht sinnlos bleibt. Und damit das Leben gelingt.

Eine solche Reformation – eine solche Umkehr in die Zukunft – das darf kein einmalige Aktion bleiben. Eine solche Umkehr muss es immer wieder geben. Und es gibt sie auch. Gottseidak! Immer wieder feiern wir Feste großer Kehrtwendungen, die die ganze Kirche betreffen. Viel häufiger aber noch – und genau so nötig - viele kleine Reformationen. In jedem Menschenleben. Und manchmal womöglich jeden Tag aufs neue.

Die Reformation, so wie Martin Luther sie in Gang gesetzt hat, war eine Umkehr zu den Quellen der Bibel. Durch die Übersetzung in die deutsche Sprache. Durch die Anwendung ihrer Zusage der Rechtfertigung allein as Glauben auf das je eigene Leben. Durch die Betonung der Würde jedes einzelnen Menschenlebens vor Gott.

Die Umkehr des Markgrafen vor 450 Jahren war eine Umkehr anderer Art. Eine Umkehr mit politischen Dimensionen. Eine Umkehr mit Konsequenzen für jeden Bürger und jede Bürgerin der Markgrafschaft. „Wes des Land, des die Religion“ – so lautete damals das Motto, auf das man sich geeinigt hatte. Und so wurden mit dem Markgrafen all seine Untertanen ebenfalls evangelisch.

Heute wird die religiöse Umkehr nicht mehr durch die staatliche Obrigkeit verordnet. Heute müssen wir sie immer selber vollziehen. Heute sind wir für unsere Entscheidungen – auch für die Entscheidungen im Bereich der Religion - selber verantwortlich. Ein Gottesdienst und eine Predigt können dabei Hilfestellung geben. Zuallererst dadurch, dass wir auf die Worte der Bibel hören, die der Predigt zugrunde liegen. Damit diese Worte uns helfen können. Helfen, Schritte zu wagen, um die Reformation ins eigenen Leben zu ziehen.

Auch Paulus – gerade Paulus – war ein solcher Reformator. Einer der ganz großen dazu. Ich will die Worte des heutigen Predigtextes darum noch einmal lesen.

16 Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. 17 Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, 18 uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.

Dieser Text– so scheint es auf den ersten Blick und beim ersten Hören – gießt zunächst etwas Wermut in diesen Wein der reformatorischen Festtagsfreude. Stellt den Namen des heutigen Sonntags – das Jubilate - zunächst erst einmal in Frage. Holt uns mitten im Feiern wieder in die Wirklichkeit zurück. Erinnert uns daran, wie es um die Gegenwart wirklich bestellt ist. Der Predigttext beschwört die Gefahr der Katerstimmung herauf, noch ehe das Fest vorüber ist.

Er ist aus einer anderen Stimmung als unserer heutigen Festlaune heraus geschrieben. Hier schreibt einer, der auf eine lange Wegstrecke zurückblickt. Sicher nicht auf 450 Jahre. Aber auf den langen Weg seines Lebens. Hier schreibt ein Mensch, der dem Tode entgegengeht. Hier zieht ein alter Mann die Summe aus all den Erfahrungen, die er im Laufe seines Lebens gemacht hat. Was er erlebt und erlitten hat, könnte ganze Bücher füllen. Und füllt heute ganze Bibliotheken.

Was wurde über Paulus nicht schon alles geschrieben! Über den großen Boten Gottes, der die Gute Nachricht von Jerusalem nach Kleinasien und nach Rom gebracht hat. Über den jüdischen Weltbürger aus Tarsus, der an den Kaiser appelliert, als man ihm den Prozess machen will. Über das Opfer zahlreicher Repressalien. Selber fasst er seine Leidensgeschichte einmal in folgende Worte:

Ich habe fünfmal 39 Geißelhiebe erhalten; ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr unter Juden, in Gefahr unter Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; und außer all dem noch das, was da täglich auf mich einstürmt bei meinem Einsatz für die Sorgen der Gemeinden.

Kein Wunder, wenn da einer müde wird. Kein Wunder, wenn da einem die Kräfte allmählich ausgehen. Doch Paulus ist nicht nur der, der spürt, dass seine irdischen Tage gezählt sind. Er erweist sich hier zugleich als einer, der noch einmal einen ganz anderen Blick auf sich selber werfen kann. Den Blick, der alles noch einmal aus ganz anderer Perspektive begreift. Das ganz vierte Kapitel dieses Briefes ist paradox. Paulus schreibt:

Wir sind bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht.
Uns ist bange, aber wir verzagen nicht.
Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um
Ich bin ausgelaugt, aber ich werde nicht müde

Und er fasst diese Sätze an anderer Stelle mit einem einzigen Satz zusammen: Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.

Wie kann ein Mensch, der das eine um das andere Mal mit Mühe seine nackte Haut rettet, solche Sätze schreiben? Wie kann dieser dem Tode nahe Mann Paulus zu einem Reformator des Lebens werden? Für eine Antwort lohnt sich der Blick in den Predigtext. In ihm finden wir eine Reihe von paradoxer Gegensatzpaaren:

Der äußere Mensch verfällt – der innere wird erneuert
Die Trübsal ist zeitlich – die Herrlichkeit ist ewig
Vor Augen ist das Sichtbare – was aber zählt, ist das Unsichtbare


Die Empfänger seines Briefes damals kennen diese Gegensatzpaare. Sie sind einer der großen Modereligionen der damaligen Zeit entnommen. Es ist die Botschaft der Esoterik der 50er Jahre des erste Jahrhunderts nach Christi Geburt. Es ist die Religion des „Alles halb so schlimm“. Halb so schlimm, wenn die Welt im Argen liegt. Sie ist doch nur ein Schatten der Wirklichkeit, die sich dahinter verbirgt. Halb so schlimm, wenn der eigene Leib Schaden leidet. Der der Leib ist doch ohnedies nur ein Gefängnis, das wir möglichst bald verlassen sollten. Halb so schlimm, wenn wir bald sterben. Der Tod ist doch nur ein Zeichen, dass unsere wahre Bestimmung sich irgendwo anders verbirgt.

Wer so redet, missbraucht die Sprache der Religion. Wer so redet, macht Werbung für die Religion der großen Vertröstung. Wer den Menschen dies einredet, nimmt ihre Wirklichkeit nicht ernst. Unter diesen Vorgaben schicken fast alle Religionen Menschen bis heute andere Menschen in den Tod. In falsch verstandener Aufopferung.

Auch unter christlichen Vorzeichen haben Menschen ihre Mitmenschen immer wieder so missbraucht. Mit diesen Hoffnungen auf eine bessere Welt hinter unserer Welt werden Menschen bis heute sinnlos geopfert. Doch diese Religion ist eine Fälschung. Sie sieht aus, als ob sie uns Hilfreiches zu bieten hätte. In Wirklichkeit ist sie ein lähmendes Gift.

Gut, dass wir den Reformator Paulus haben. Er bedient sich der Worte dieser Vertröstungsreligion. Er kennt die gefährliche lähmende Wirkung der Religion des „Halb so schlimm“, die alles noch schlimmer macht. Er wertet die Worte um. Und bringt damit etwas ganz anderes zum Durchscheinen.

Es geht nicht um eine minderwertige Realität aus Fleisch und Blut. Und um eine sich dahinter verbergende wahrhaftige und einzige gute Wirklichkeit. Eine Welt, die Gott so würdigt und wert achtet, dass er sich nicht zu schade ist, ihr in Jesus Christus sein eigenes Gesicht zu zeigen, kann keine Welt sein, von der wir nur abschätzig reden. Was ist, ist Schöpfung Gottes. Was ist, was existiert, muss ganz ernst genommen werden. Im Guten wie im Schlechten. Im Leben wie im Sterben. Hinter die Wirklichkeit Gottes mitten in dieser Welt dürfen wir nicht zurückfallen.

Was die Religion des „Halb so schlimm“ als davor und dahinter beschreibt, als Schatten der Wirklichkeit und als dahinter verborgene Wahrheit des Göttlichen, das bricht um Paulus in ein davor und danach. In ein altes Leben und in ein neues. Das Ziel der Suche unseres Lebens ist nicht die Flucht aus der Wirklichkeit. Das Ziel ist der Glaube an das, worauf wir zugehen. Das Vertrauen in die Zukunft, die an dem einen schon Wirklichkeit wurde, in dem Gott wurde wie wir.

Dreh- und Angelpunkt der Religion des Paulus ist die Auferstehung. Auch dafür verwendet er wieder einen scheinbar widersprüchlichen Satz: Wir tragen das Sterben Christi an unserem Leibe herum, damit auch sein Leben an uns offenbar werde. Was Menschen bedrückt und belastet, was Menschen entwürdigt und klein macht. Was Menschen umbringt und ihnen nicht selten den Glauben raubt, ist Realität. Und kein Schatten.

Es ist Realität mit eigenem Recht. Aber mit den Zeichen der Vergänglichkeit. Paulus lebt aus einer Zukunft, die für ihn am Ostermorgen begonnen hat. Aber er lebt so mit ihr, dass er weiß, dass es eine Zukunft des Glaubens ist. Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen, schreibt er wenige Verse nach unserem Predigtext. Eine Zukunft, die längst begonnen hat. Die wir aber für uns gegenwärtig erst fruchtbar machen müssen.

Es ist wie mit der Reformation in Baden und in Bischoffingen. Begonnen hat alles schon vor 450 Jahren. Eigentlich ja noch viel früher. Seit den Anfängen der Kirche. Aber wir heutigen haben nur etwas davon, wenn wir uns auch darauf einlassen. Wenn wir die Umkehr in die Zukunft damals umbrechen in unsere heutigen Formen der Umkehr. Wenn uns der Glaube der Auferstehung des einen ermutigt, selber alle Furcht furchtloser zu leben. Weil wir schon Anteil haben an dem, was in seiner Fülle für uns erst noch Wirklichkeit werden wird. Noch einmal Paulus, im selben zweiten Korintherbrief, ein Kapitel weiter. Da schreibt er: Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen. Siehe, Neues ist Geworden.

Dieser Satz bringt keinen Krieg an sein Ende. Er macht Kranke nicht gesund. Und Tote nicht lebendig. Mag diese Trübsal zeitlich sein wie Paulus schreibt. Leicht ist sie gewiss nicht. Glauben zu wecken an diese neue Welt Gottes, so wie wir das bei Paulus sehen, das ist eine Möglichkeit, die nur Gott vorbehalten ist. Aber wir können mithelfen, Gottes gute Pläne für diese Welt umzusetzen. Indem wir an die Menschenfreundlichkeit Gottes erinnern und Gott im Gespräch halten. Indem wir uns mit unseren kleinen Kräften für den Frieden in dieser Welt einsetzen. Für mehr Gerechtigkeit. Für den weltweiten Kampf gegen bedrohliche Krankheiten. Und für ein menschenwürdiges Leben möglichst vieler, die mit uns auf diesem Planeten Erde leben.

Noch haben wir den Schatz der großen Zukunft Gottes für uns in irdischen und zerbrechlichen Gefäßen, um noch einmal Paulus zu Wort kommen zu lassen. Aber wir tragen nicht nur die Zeichen des Vergehens. Längst tragen wir doch auch die Spuren der Ewigkeit an unserem Leib herum. Und der Ostermorgen des einen wird für uns alle zum Ostermorgen werden. Zum Fest der Reformation für immer. Zur Fest der Umkehr in die große Zukunft, die Gott uns ermöglicht. Darüber können wir uns freuen. Das lasst uns vor allem anderen feiern an diesem Sonntagmorgen. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.