„GANZ ANDERS KÖNNTE MAN LEBEN -
EIN SOMMERNACHTSTRAUM IN WORT UND LIED“
GOTTESDIENST IN DER MARIA MAGDALENA GEMEINDE
AM SONNTAG, DEN 20. AUGUST 2006 (10.S.N.TR.)

20.08.2006
Lied: Wenn einer alleine träumt

Hinführung zum Text 1

Ganz anders könnten wir leben. An Träumen, wie das sein könnte, besteht kein Mangel! Träume gehören zum Leben dazu wie unser Wachsein. Beides, das Träumen und das Wachen sind Geschwister. Zwillinge sogar. Dass Träume nur Schäume sind, ist eine irrige Sicht der Dinge. Träume speisen sich aus unserer der Wirklichkeit. Sie bringen Erlebtes und Verdrängtes, Bedrohliches und Ersehntes in eigener Weise zur Sprache.

Dass auch Gott sich der Träume bedient, um zu uns zu sprechen, ist der Bibel keineswegs fremd. Denken wir nur an die beiden Männer mit dem Namen Josef. Dem ersten Josef verhilft seine Kunst, Träume zu deuten, zu einer Karriere am Hofe des Pharao. In den sieben fetten Kühen erkennt er die sieben Jahre mit guten Ernten. Und lässt dementsprechend die Scheunen füllen. Die sieben mageren Kühe verweisen dann auf die nachfolgenden Dürrejahre, die die Menschen überstehen, weil die Vorräte reichen.

Der andere Josef, der Mann Marias, wird selber von göttlichen Botschaften in seinen Träumen angesprochen. Das eine Mal fordert ihn ein Engel auf, Maria wegen ihrer Schwangerschaft nicht im Stich zu lassen. Das andere Mal warnt er ihn vor den Nachstellungen des Königs Herodes. Achten wir unsere Träume also nur nicht zu gering!

An Träumen besteht kein Mangel. Auch an solchen, die einfach unsere Sehnsüchte zur Sprache bringen. Die großen und die kleinen. Ich denke etwa an den kleinen Traum vom doch noch zurückkehrenden Sommer. Oder aber an den Traum des überraschenden Endes wirtschaftlicher Not. Der Traum der neuen Heimat nach erfolgreicher Flucht. Der Traum des gelingenden Neuanfangs in der dahinwelkenden Beziehung. Der Überwindung der schon lange herrschenden Sprachlosigkeit. Dem Anschlagen der Therapie gegen eine bedrohliche Krankheit. Aber auch der Traum, dass der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Bewahrung der Schöpfung gegen alle Widerstände die nötigen Wege gebahnt werden.

Um drei Träume soll’s beispielhaft gehen in diesem Gottesdienst. Um drei biblisch verankerte Sommernachtsträume. Um drei Träume, die uns in diesen Tagen und Nächten durch den Kopf gehen können. Um Träume, die gewissermaßen auf der Hand oder auf dem Kopfkissen liegen.

Der heutige Sonntag ist der 10. Sonntag nach dem Fest der Dreieinigkeit. Dieser 10. Sonntag nach Trinitatis ist schon seit langem der Sonntag eines besonderen Traumes. Des Traums einer von Gott erneuerten Beziehung zwischen den Menschen mit jüdischem und denen mit christlichem Glauben. Es macht Mühe, ja ist beinahe immer noch unglaublich, nach Auschwitz diese Traum überhaupt noch zu träumen zu wagen. Und die gegenwärtig wieder so weit von einem dauerhaften Frieden entfernte Situation im Nahen Osten lädt ja auch nicht gerade zum Träumen ein.

Die bibischen Propheten waren erfahrene und mutige Träumer. Sie hören Worte, sie schauen Bilder, sie haben Träume, die die Wirklichkeit vorwegnehmen. Hören wir, mit welch kühnen Traumbildern uns Jesaja die Zukunft vor Augen malt:

Jesaja 11,6-9
6Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. 7Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. 8Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. 9Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.

Hier wächst zusammen, was zunächst wirklich nicht zusammengehört. Löwen weiden friedlich zusammen mit Kälbern. Ein Kind steckt seine Hand in die Behausung einer gefährlichen Schlange. Ganz offensichtlich widersprechen diese Bilder unserer Vernunft. So wie es eigentlich auch unserer Vernunft widersprechen müsste, wenn die Nachkommen der Täter und die Nachkommen der Opfer zu einem neuen Miteinander finden.

Das späte Geständnis von Günter Grass, dass er als 17jähriger Mitglied der Waffen-SS war und die heftigen öffentlichen Debatten zeigen, wie wenig hier wirklich verarbeitet ist. Und wie viel Bedarf an verarbeitenden Träumen hier noch besteht.

Unsere Mühe, als Deutsche zu den politischen Verwicklungen im Nahen Osten eine tragfähige und verantwortliche Position zu finden, wirft ein anderes Licht auf denselben Problemkreis. Wir sind wahrhaftig weit davon entfernt, dass die Erkenntnis des Herrn das Land bedeckt wie Wasser das Meer.

Aber gerade dieses Bild ist ein schöner Traum. Zumal an einem Tag wie dem heutigen Israelsonntag. Das Meer unterscheidet nicht, wenn es das Land überrollt. Wie viel weiter wären wir, wenn die Erkenntnis der Herrn sich ähnlich großzügig und gewaltig übe diese Welt ergießt.

Das Bild vom wieder blühenden Mandelzweig nimmt die Sehnsucht vom gegen alle Vernunft möglichen Frieden auf.

Lied: Freunde, dass der Mandelzweig

Hinführung zum Text 2

Ganz anders könnte man leben. An Träumen, wie das sein könnte, besteht kein Mangel. Gerade dann nicht, wenn es um unsere persönliche Lebenssituation geht. Wenn wir uns eingestehen, dass wir mit unserem Leben den verschiedensten Träumen nachsinnen. Weil sich die Kräfte des Körpers verbrauchen. Und nicht selten die Kräfte der Seele auch.

Weil sich Lebensträume nicht erfüllen. Beruflich. In den Beziehungen zu den Menschen, mit denen wir leben. Weil böse Krankheiten einen Strich durch viele Pläne machen.

Ein zweiter biblischer Traum lässt aufhorchen. Er trägt die Botschaft in sich, dass all das, was wir als so belastend erleben, nur das Vorletzte ist. Weil Großes, unvorstellbar Großes noch aussteht. Hören wir, welch ein Bild uns der Seher Johannes in seiner Offenbarung vor Augen stellt.

Offenbarung 21,3-5
3Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!

Alle Tränen abgewischt. Schmerz und Krankheit für immer außer Kraft gesetzt. Ja selbst der Tod des Todes hat ausgedient. Eine solche Vorstellung ist nur glaubhaft, wenn Gott selber ins Spiel kommt. Wenn Gott selber in unserer Mitte wohnt. Gott ist der große Verwandler. Und darum für die einen die große Bedrohung. Für die anderen die große Hoffnung.

Wo Gott sich einmischt, kann nichts bleiben wie es war. Wo Gottes Gegenwart spürbar wird, beginnt die große Umwälzung. Da führt der Rückgriff auf das Vertraute nicht mehr weiter. „Siehe, ich mache alles neu!“

Angst werden muss uns deshalb nicht. Es sei denn, wir versuchten uns vor Gott in Sicherheit zu bringen. Es sei denn, wir gingen das Risiko ein, selben an die Stelle Gottes zu treten. Indem wir Schöpfer spielen und der Natur den Abschied geben. Es sei denn, wir trauten uns zu, alle Belastungen unseres Lebens auf unseren eigenen Schultern zu tragen.

„Mein Joch ist sanft. Und meine Last ist leicht“, sagt Jesus einmal von sich. In dem Menschen, aus dessen Angesicht uns Gottes Gegenwart entgegenleuchtet, haben wir das Modell der großen Entlastung vor uns. In vielen Menschenleben bleibt das nächst nur ein Traum. Weil die Lasten bleiben. Und der Glaube an Gott unter den Händen zerrinnt. Keinem Menschenleben bleibt der Vorbehalt des Unerklärlichen erspart. Wer sich auf Gott einlässt, wird auch Erfahrungen mit der dunklen Seite Gottes machen.

Doch Gott will, dass wir leben! Und dass unser Leben nicht zum Alptraum wird. Deshalb bleibt Gott – gegen alle Erfahrung des Bösen – der große Fürsprecher des Lebens. Deshalb bleibt Gott auffindbar. In jedem Menschenleben.



EG 665,1-3: Wir haben Gottes Spuren festgestellt

Hinführung zum Text 3

Ganz anders könnte man leben. An Träumen, wie das sein könnte, besteht kein Mangel. Und an Versuchen, dieses so ganz andere Leben in die Wirklichkeit zu ziehen, auch nicht. Die Kirche sollte, die Kirche könnte eine solche Vorwegnahme dieses Lebens sein. Nicht in Perfektheit und Überforderung. Eher als ein Übungsfeld. Ein Ort, wo andere Gesetze gelten als die von Macht und Erfolg. Ein Ort, an dem die Schwachen zu ihrem Recht kommen. Leicht ist das nicht. Und auch hier bleibt das Erwachen in aller Regel hinter unseren Träumen zurück.

Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche, sagt Dietrich Bonhoeffer. Aber alle seine Verheißungen. Verheißen ist der Kirche, dass in ihr ein „Ja“ ein „Ja“ und ein „Nein“ ein „Nein“ ist. Verheißen – und aufgetragen! – ist ihr, was der Apostel Paulus an die Gemeinde in Galatien schreibt:

Galater 3,26-29
26Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. 27Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. 28Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. 29Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.

Unglaublich! Alle Grenzen fallen. Alle Rollenzuweisungen sind aufgehoben. Alle Hierarchien brechen in sich zusammen. Nicht links, nicht rechts, nicht oben, nicht unten, nicht außen, nicht innen. Ertragen wir eine solche Welt überhaupt?

Womöglich überfordert es uns, wenn wir alle Schubladen und Einteilungen entzogen bekommen. Wenn es kein Gefühl der Überlegenheit mehr gibt, dass wir näher an der Wahrheit dran sind als andere. Wenn am Ende nicht einmal mehr zählt, ob wir der richtigen Kirche mit dem rechten Bekenntnis angehören.

Die Kirche soll der Ort der großen Entgrenzung sein. Der Ort der Eindeutigkeit der Worte und der Einmütigkeit der Liebe. Aber dennoch der Vielstimmigkeit der Möglichkeiten. Und der Polyphonie der Schönheit.

Kirche darf schön sein. Aber sie soll uns nicht in falscher Sicherheit wiegen. All unsere Wahrheiten sind nur wahr, wenn sie in Gottes Wahrheit aufgehoben sind.

Kirche – so verstanden – ermöglicht größtmögliche Offenheit. Und im Glauben begründete Freiheit. Auch die des mutigen und parteiergreifenden Wortes zugunsten derer, denen man ihre Lebensmöglichkeiten vorenthält. Von einer solchen Kirche zumindest zu träumen – dazu möchte ich einladen!

Lied: Ich träume eine Kirche

Fürbitten

Dein Reich komme! – dies beten wir jedes Mal, wenn wir miteinander das Vaterunser beten. Dein Reich komme! In Gottes Herrschaft kommen unsere Träume ans Ziel. Um diesem Ziel näher zu kommen, wollen wir uns und unsere Welt im Gebet vor Gott bringen. Jede Bitte wird aufgenommen mit dem Kehrvers, den sie mittlerweile kennen: Wenn einer alleine träumt …



Zwischen Himmel und Erde, Gott, gestalten wir unser Leben mit den Gaben, die du uns anvertraut hast. Unsere Welt sieht längst nicht so aus, wie du sie gemeint hast. Aber immer wieder bekommen wir eine Ahnung davon, zu welchen Möglichkeiten du uns befreit hast. Du hast uns einen Traum ins Herz gelegt von einer Welt, in der dein Reich immer mehr Gestalt gewinnt. Auf dein Reich warten wir, Gott, wenn wir singen:

G: Wenn einer alleine träumt …

Zwischen Mensch und Mensch leben wir, Gott, einmal einander verbunden in Zuneigung, das andere Mal der eine der anderen ein Wolf. Du hast uns einen Traum von Geschwisterlichkeit ins Herz gelegt, der nicht Halt vor den Grenzen unserer Sympathie oder den Möglichkeiten unseres eigenen Handelns. Ein Traum zugleich, der die Welt befreit vom Wahn des Krieges und dem Irrglauben, Sicherheit allein auf Macht gründen zu können. Auf dein Reich, Gott, warten wir, wenn wir singen:

G: Wenn einer alleine träumt …

Zwischen Gesellschaft und Kirche gestalten wir unser Leben, Gott. Nach deinem Willen sollen wir fragen, aber Handeln müssen wir selber unter den Bedingungen einer sich ständig wandelnden Gesellschaft. Du hast uns einen Traum ins Herz gelegt von einer Welt, in der wir Christen mit allen Menschen guten Willens an deinem Reich arbeiten. Und du hast uns mit den Gaben ausgestattet, die uns befähigen, gemeinsam mit anderen diese Welt zu gestalten. Auf dein Reich warten wir, Gott, wenn wir singen:

G: Wenn einer alleine träumt …

Lebendiger Gott, du hast uns deine Nähe zugesagt bis ans Ende der Welt. Aus diesem Vertrauen heraus bitten wir dich mit den Worten, die uns Jesus zu beten gelehrt hat:

Vaterunser

Lied: Halte deine Träume fest

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.