(K)EIN TRAUM, DASS DER HIMMEL DIE ERDE BERHRT“
PREDIGT ÜBER GENESIS 28,10-19A
SONNTAG, DEN 9. SEPTEMBER (14.SONNTAG NACH TRINITATIS)

09.09.2007
Aus der Traum, liebe Gemeinde! Was so sorgfältig eingefädelt schien, fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Nichts bleibt übrig vom Traum vom ganz großen Erfolg. Am Anfang stand der so elegant inszenierte Betrug, am Ende bleibt nur noch die Flucht in die Fremde.

Dabei hatte Rebecca nur das Beste für Ihren Sohn gewollt. Den ersten Segen. Den Segen Isaaks. Und der hatte – von den müden Augen seines Alters getäuscht – den Jüngeren, den Jakob dann auch gesegnet. Den Esau, der zu spät kommt, bestraft wieder einmal das Leben. Er geht leer aus. Isaak kann nur einem seinen Segen weitergeben. Und den hat Jakob sich erschlichen. Ganz so, wie es seine Mutter beabsichtigt hatte.

Aber es liegt – so hat es den Anschein - kein göttlicher Segen auf diesem Segen des Jakob. Jakob muss sich in Sicherheit bringen. Esau, der Betrogene, trachtet ihm nach dem Leben. Hals über Kopf bricht Jakob auf. Als er zum ersten Mal Rast macht, hat er ist er auf dem harten Boden der Tatsachen angekommen. Unwirtlich gibt sich der Ort. Nur ein Stein bietet dem Flüchtigen Platz für sein müdes Haupt. Eine wahrhaft harte Realität im ganz konkreten Sinne des Wortes.

Hier setzt der Predigttext für diesen Sonntag ein. Die Geschichte vom Segen Gottes, der am Ende eben doch auf dem Segen Isaaks liegt. Wahrhaftig unverdient, aber eben doch nicht unwirksam.

10Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran 11und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.12Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 13Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. 15Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
16Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! 17Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. 18Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf 19und nannte die Stätte Bethel.



2. Auch Jakob wird hier diese Erfahrung gemacht haben, liebe Gemeinde: Aus manchen Träumen wollen wir gar nicht mehr aufwachen. Sie sind so verlockend. Sie übertreffen die Wirklichkeit um ein Vielfaches. Und lassen unsere Wünsche und Sehnsüchte so in Erfüllung gehen, dass das Aufwachen allenfalls noch bitter werden kann. Träume können unendlich süß sein. Unendlich weit reichen, sie können sogar den Himmel berühren.

Jakob träumt einen solchen Traum, - den Traum vom offenen Himmel. Auf einer Leiter – dem Wortsinn nach eher einer Treppe - steigen die Engel auf und nieder und überwinden die unendliche Distanz zwischen Himmel und Erde. Der Unterschied zwischen oben und unten scheint aufgehoben. Für Jakob steht der Himmel buchstäblich offen. Und Gott sagt ihm aus diesem offenen Himmel seinen Segen zu.

Darum ist das Aufwachen für Jakob keineswegs das Ende seiner Träume. Kein „Aus der Traum!“, das ihn in die Realität zurückholt. Der Himmel ist nicht plötzlich wieder verschlossen. Er wird nicht all seiner Träume beraubt. Seine reale Situation hat sich zwar nicht verändert. Nach wie vor ist er auf der Flucht vor seinem Bruder. Aber sein Traum wirkt in seine Wirklichkeit hinein. Der Segen Gottes taucht sie in ein neues Licht. Verändert, ja verwandelt sie. Der karge Ort seiner nächtlichen Ruhe, der kalte, harte Stein, an den er sich anlehnt - sie werden zum Zeichen der Gegenwart Gottes. „Wahrhaftig, hier ist Gott selber anwesend. Hier ist das Haus Gottes!“

3. Achten wir unsere Träume nur nicht zu gering! Träume sind mehr als unbrauchbare Reststücke im Prozess der Alltagsverarbeitung unserer Seele. Im Traum kommen Wahrheiten der ganz besonderen Art ans Licht. Die Bibel ist voll von wegweisenden Erfahrungen, die wir den Träumern zu verdanken haben. Josef, Jakobs Sohn, versteht sich sehr erfolgreich darauf, Träume zu deuten. Und lässt als oberster Hofbeamter des Pharao in den sieben fetten Jahren die Scheunen mit Getreide füllen. Damit in den sieben mageren Jahren der Hunger abgewendet wird.

Der andere Josef, der Mann Marias, träumt gleich mehrfach. Er wird im Traum vor den Nachstellungen des Königs Herodes gewarnt. Und rettet durch die im Traum übermittelte Aufforderung zur Flucht Maria und dem Kind das Leben. Auch Jakob ist auf der Flucht, als er den Traum vom offenen Himmel träumt. In der Gefahr sind unsere Organe für die außergewöhnlichen Botschaften wohl am sensibelsten.

Doch unsere Träume erweisen ihre Kraft allemal erst in der Wirklichkeit. Wir müssen aufwachen, damit unsere Träume ihre verwandelnde Kraft entfalten können. Wenn wir uns auf’s Träumen beschränken, bleibt alles beim Alten.

4. Jakob erwacht aus seinem Traum vom offenen Himmel. Aber die Gewissheit, dass dieser Himmel sich ihm nicht mehr verschließt, bleibt ihm auch am nächsten Morgen. Und als er sich zwanzig Jahre später auf den Heimweg aus dem Exil macht, ist er ein gemachter, ein gesegneter Mann. Mit einer großen Familie. Mit einer kaum noch zu überblickenden Herde. Und in gelingender Versöhnung mit seinem Bruder Esau. Der Himmel auf Erden ist für Jakob Wirklichkeit geworden. Und wird auch am Ende seines Lebens auf’s neue wahr, als Jakob seinen Sohn Josef wieder findet. Über Jahre verschollen und anscheinend verloren. Und dann derjenige, der in Ägypten das Überleben der ganzen Familie sichert.

Träume, die in die Wirklichkeit drängen, sind der Motor vieler Veränderungen. Und häufig genug der Verwandlung hin zum Guten. Träume sind die Ursache vielfachen und unzähligen Engagements. Großer Erfindungen. Umwerfender Erkenntnisse. Bahnbrechender Umwälzungen. Nicht umsonst setzt die Werbung am erfolgreichsten bei unserer Träumen an, um uns zu gewinnen. Der Traum von der ewigen Jugend. Der Traum von der nie endenden Schönheit. Der Traum, alle anderen zu übertreffen. Auch andere Träume gibt es, die unsere Hoffnungen beflügeln. Gottseidank! Wie etwa der Traum von der kleinen und der großen, weltweiten Gerechtigkeit. Der Traum vom Frieden auf Erden.

5. Auch für Jakob bleibt sein Traum nicht ohne Folgen. Himmel und Erde haben sich nicht vergeblich berührt. Der Segen Gottes, Jakobs zweiter Segen, zeichnet ihn auf Dauer. Als von Gott Gesegneter, aber zugleich doch auch als von Gott Gezeichneter kehrt Jakob in seine Heimat zurück. Und wie in einem Kreis der sich schließt, steht auch am Ende seiner Reise in die Fremde wieder eine Gottesbegegnung. Am Jabbok, dem kleinen Grenzfluss, der die alte von der neuen Welt trennt. Kein Traum dieses Mal, sondern ein Kampf auf Leben und Tod. Jakob ringt mit einem Unbekannten. Und wie schon beim ersten Mal muss Jakob am Ende erkennen: „Gott selber war präsent an dieser Stelle. Und ich wusste es nicht!“.

Und als er erkennt, wer derjenige war, der sich ihm so Kräfte zehrend in den Weg stellt, geht es ein drittes Mal um den Segen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Nur als Gesegneter gibt Jakob sich zufrieden. Und als Gesegneter kann er nach Sonnenaufgang weiterziehen. Gesegnet. Und eben auch gezeichnet. Fortan geht Jakob hinkend seine Lebenswege. Der Segen Gottes bewahrt nicht vor den Widrigkeiten des Lebens. Aber er lässt unser Leben an ihnen nicht scheitern und zugrunde gehen. Gesegnet und gezeichnet – untrennbar ineinander verwoben scheinen diese Lebensspuren ein ums andere Mal. Verbunden mit Träumen und Kämpfen. Mit Namen und Orten verbunden, an denen sich diese zeichnenden Erfahrungen festmachen.

Jakob gibt den Orten jeweils einen Namen: Bethel – Haus Gottes, das eine Mal. Penuel - Gottesgesicht bei der anderen Gottesbegegnung in dunkler Nacht. Es ist wichtig, wenn wir die Orte markieren können, an denen sich die Erfahrung der Gottesbegegnung und des Segens fest macht. Namensgebebungen machen diese Orte wiederauffindbar. Zuallererst für uns selber. Kein Menschenleben bleibt ohne solche Orte. Darum ist gerade auch, wenn es um den Glauben geht, Erinnerungsarbeit nötig. Jeder solche Ort ist ein Hinweis darauf, dass Gott sich nicht zu schade ist, unter uns Wohnung zu nehmen. Und sich auffindbar zu machen mitten in unserem Leben.

6. Das ist es, was Hoffnung aufkeimen lässt auch in unserem Leben. Was uns Orientierung gibt und tragenden Grund. Der Himmel macht sich auf der Erde fest. Gottes Segen zieht unsere Träume ins Leben. Das lässt uns feiern. Weil der große Traum vom Himmel auf Erden uns Menschen zum Greifen nahe kam. Als der geboren wurde, in dem die Hoffnung nicht nur ihren Ort fand, sondern zugleich auch ein Gesicht bekam. Als vor 2000 Jahren Jesus aus Nazareth mit der Ankündigung: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ der Gerechtigkeit und der Vergebung auf Erden von neuem einen Weg wies. Mit einer Botschaft, die nur aus wenigen Worten, aber zugleich aus vielen Taten der Liebe bestand. Und am Ende nicht einmal der Tod dieser Hoffnung Entscheidendes entgegenzusetzen hatte.

„Hier ist wahrhaftig das Haus Gottes und die Pforte des Himmels! Gott hat hier längst Wohnung genommen – und ich wusste es nicht!“ sagt Jakob. Auf Steine und Mauern ist das Haus Gottes nicht angewiesen. Träume braucht dieses Haus, die in ihm einen festen Ort finden können. Zeichen, die uns daran erinnern, dass wir von Gott Gesegnete und Gezeichnete sind. (Manchmal reicht dafür auch schon das Wasser und die Zusage der Nähe Gottes – wie etwa in der Taufe. Manchmal reichen Brot und Wein – wie beim Mahl der Gemeinschaft, das wir gleich feiern.)

Und Menschen braucht dieses Haus Gottes. Menschen, die ihren Träumen trauen. Und die mutig genug sind, daraus aufzuwachen. Um den Himmel mitten auf Erden zu entdecken. Mitten unter uns. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.