„IM GUTEN DEM BÖSEN DEN ABSCHIED GEBEN“
PREDIGT ÜBER RÖMER 12,17-21
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 15. JUNI 2008
(4. SONNTAG NACH TRINITATIS)
IN DER MATTHÄUSKIRCHE IN FREIBURG

15.06.2008
Liebe Gemeinde!
Wie immer man Weltliteratur definiert – die Briefe des Apostels Paulus gehören sicher dazu. Es mag, was die Verwendung der griechischen Sprache angeht, durchaus noch anspruchsvollere Literatur geben. Aber ohne literarischen Anspruch hat Paulus nicht geschrieben. Und in ihrer Wirkung durch zweitausend Jahre Geschichte kommt den Paulusbriefen allemal eine herausgehobene Bedeutung zu.

Bis heute sind wir mit Paulus nicht fertig. Theologisches Nachdenken im Rahmen des Christentums kommt ohne Paulus nicht aus. Luthers reformatorische Erkenntnis gründet nicht zuletzt auf der Lektüre der Paulusbriefe. Bis heute können seine Texte unseren Glauben Impulse geben. Ihn anregen und zugleich in Frage stellen.

Der Königsbrief des Paulus ist der Römerbrief. Er kursierte schon zu seinen Lebzeiten in zahlreichen Abschriften. Die uns in der Bibel überlieferte ist vermutlich eine von Paulus selber autorisierte Abschrift, die nicht nach Rom, sondern nach Ephesus gerichtet war. Aus den Grüßen am Ende lässt sich das schließen. Mag Rom der erste Adressat gewesen sein - dieser Brief ist doch an die Christenheit überhaupt gerichtet gewesen. Und als solcher ist er auch in dieser Predigt wieder Gegenstand des Nachdenkens.

Der Römerbrief war gewissermaßen die erste christliche Dogmatik. Paulus, der Theologe stellt sein theologisches Programm vor. Und dieses Programm heißt: Grenzüberschreitung! Paulus ließ sich von Grenzen faszinieren. Und was noch wichtiger ist: Paulus ließ sich von Grenzen nicht aufhalten.

Schon sein Name weist ihn als Bürger zweier Welten aus. Saulus wurde er genannt, um die Verbindung mit seinem religiösen Herkunftsmilieu zum Ausdruck zu bringen. Der Name Paulus weist ihn als Bürger des römischen Reiches aus. Die vorfindlichen Welten werden Paulus regelmäßig sehr schnell zu klein. Seine jüdische Welt öffnet er hin zu einem Verständnis, der auch Nichtjuden den Zugang zum Gottesglauben ermöglicht. Von Kleinasien zieht es ihn bald schon weiter nach Westen. Nach Griechenland zuerst. Dann nach Rom. Und von dort nimmt er Spanien in den Blick.

Grenzüberschreitend und Horizonte eröffnend ist auch das theologisches Denken des Paulus. Luther hat sein Verständnis dessen, was Gerechtigkeit Gottes meint, aus dem Römerbrief gewonnen. Wir sind nicht gerecht, weil wir so leben, dass wir vor Gott bestehen könnten. Nein, weil wir Gott von allem Anfang an recht sind, ohne dass wir vorausgehende Leistungen zu erbringen hätten, darum haben wir die Möglichkeit, unser Leben als Leben in Freiheit zu gestalten.

Der Römerbrief hat diese Vorabwürdigung verdient, ehe wir den heutigen Predigttext in den Blick nehmen. Er ist im Schlussteil des Römerbriefs zu finden. In diesen Kapiteln geht es nicht mehr in erster Linie um theologisches Argumentieren. Hier gibt Paulus nun praktische Ratschläge für das Verhalten. Den bekanntesten kennen Sie sicher. „Jeder Mensch sei der Obrigkeit untertan, die Gewalt über ihn hat.“ Doch die Welt ist seit den Zeiten des Paulus nicht einfacher geworden. Aus heutiger Sicht ist längst nicht mehr so klar wie zu Zeiten des Paulus, wer denn nun diese Obrigkeit ist. Schließlich sind wir das nach unserem Grundgesetz alle. Denn „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“

In den praktischen Anweisungen ist Paulus uns womöglich am fernsten. Und nicht selten ziehen wir aus den Grundlagen und Erkenntnissen, die wir mir Paulus teilen, ganz andere Schlüsse.

Im heutigen Predigtext geht es auch um praktische Lebensregeln. Aber auf einem ganz besonderen Hintergrund. Paulus macht sich Gedanken darüber, wie wir mit der Erfahrung des Bösen umgehen können. Oder anders gesagt: Wie wir angesichts des Bösen überhaupt recht handeln können. Es geht ihm also um die Frage der rechten Ethik. Es geht darum, ob es überhaupt so etwas wie eine besondere christliche Ethik gibt.

Im 12. Kapitel des Römerbriefes schreibt Paulus:

17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« 20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Kennen Sie Aikido, liebe Gemeinde? Gemeinhin heißt es, Aikido sei eine japanische Kampfsportart. Eigentlich stimmt das nicht ganz. Denn bei Aikido geht es darum, nicht einfach mit der Kraft des Stärkeren zu siegen. Vielmehr nimmt man den Kraft-Impuls des Gegners auf. Und integriert dessen Energie in die eigene Bewegung. Der Gegner wird auf diese Weise gewissermaßen zum Komplizen der eigenen Absichten.

Wenn Paulus davon spricht, wie er das Böse überwindet, verfolgt er einen ganz ähnlichen Plan. „Lass Dich nicht vom Bösen überwinden. Sondern überwinde das Böse mit Gutem!“

Um die Grenze zwischen Gut und Böse geht es Paulus also im heutigen Predigtext. Es geht um die absolute Grenze. Wenn es um gut und böse geht, steht das Ganze auf dem Spiel. Wenn es um gut und böse geht, sind wir mitten drin im Thema der meisten Religionen. Religionen - so ist die Erwartung - sollen helfen, die Welt besser zu verstehen. Sie sollen erklären, woher das Böse kommt. Und wie man sich wirkungsvoll davor schützen kann.

Wenn es um gut und böse geht, geht es aber auch um das rechte Verhalten. Um Wege, die die Überwindung des Bösen auch anschaulich und erlebbar machen. Si Deus unde malum? Wenn es Gott gibt, woher kommt dann das Böse? – so fragen sich Menschen schon immer, wenn sie ihr Gottesglaube nicht wirksam zu schützen vermag. Wenn das Böse sich einfach nicht aus der Welt schaffen lässt.

Die Tradition stellt mindestens drei Modelle zur Verfügung, um das Böse zu erklären. Einen machtvollen göttlichen Gegenspieler stellen sich die einen vor. Eine Art Anti-Gottheit, die all das verkörpert, was wir Gott selber absprechen. In der Figur des Teufels taucht diese Verkörperung des Bösen auch in der christlichen Tradition auf. Gott ist dann vor allem als Kampfgottheit zu denken, die immer wieder neu ihre Macht zu beweisen hat.

Andere sprechen nicht vom Bösen als Person, sondern als böser Kraft. Wir wissen nicht, woher sie kommt, kennen aber die Erfahrung ihres Vorhandenseins. Das Böse – oder auch nur das sogenannte Böse – zu besiegen, obliegt dann nicht mehr Gott, sondern uns selber. Und wir haben, so glauben die Vertreter dieser Richtung, dazu auch die Möglichkeit. Augustinus, und mit ihm eine dritte Linie der Tradition, geht noch einen Schritt weiter. Das Böse ist eigentlich das Nichts. Das Böse ist das Nichtvorhandensein des Guten. Mehr nicht. Warum dem Bösen mehr Macht einräumen als ihm zusteht.

Paulus weist im Römerbrief noch einmal einen anderen, vierten Weg. Einen Weg, der im Grunde quer liegt zu den eben drei vorgestellten anderen. Er fragt nicht nach dem Wesen des Bösen. Vielmehr fragt er nach den Möglichkeiten, die Tatsache ins Leben zu ziehen, dass wir Gott recht sind, ohne dies erst durch gute Werke nachweisen zu müssen. Das Böse hat auch bei ihm keine eigene Qualität – das Böse ist für Paulus ein Leben unter Verzicht des Gottesbezugs.

Leben aus der Rechtfertigung – Leben als Konsequenz unseres Gottesglaubens – wie stellt Paulus sich das vor? Hier reicht der Blick in den Predigttext nicht aus. Es geht nicht einfach um eine Methode der rechten Überwindung des Bösen, so wie bei Aikdio.

Wir müssen unseren Predigttext einen Moment verlassen und uns die Präambel der paulinischen Ethik anschauen. Paulus beginnt seinen praktischen und auf das rechte Verhalten ausgerichteten Teil des Römerbriefs mit den ersten beiden Versen in Römer 12. Dort heißt es:

Ich ermahne euch nun durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Paulus überschreitet auch hier wieder eine Grenze. Dieses Mal die zwischen unserem Lebensalltag und dem Gottesdienst. Gottesdienst ist nicht das, was wir an einem ausgegrenzten Ort zu einem besonderen Zeitpunkt feiern. Gottesdienst ist nicht am Schabbat in der Synagoge oder am Sonntag in der Kirche. Gottesdienst ist unser ganzes Leben. Unser Leben als „Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist.“ Ein solches Leben ist uns nur möglich, wenn wir uns grundsätzlich ändern. Unseren Verstand. Unser ganzes Leben. Paulus verwendet hier den Ausdruck Metamorphose. Umgestaltung. Es geht nicht nur um eine Verhaltensänderung. Es geht darum, dass wir eine neue Gestalt gewinnen.

Um Neuwerdung im Ganzen geht es Paulus hier also. Um damit um eine erneute Grenzüberschreitung. Dieses Mal um die zwischen unserem alten und unserem neuen Sein. Das rechte Verhalten ist dann eine Folge dieser Neuwerdung. Nicht der Zugang selber. Ethik – im Sinn des Paulus verstanden – wäre dann ein Entsprechungsverhalten. Ein Verhalten, das unserem neuen Sein entspricht. Im Korintherbrief vergleicht Paulus dieses neue Sein sogar mit einer Neuschöpfung. „Ist jemand in Christus“, schreibt er da, „dann ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen. Siehe, Neues ist geworden!“

Das also ist die Antwort des Paulus. Wir überwinden das Böse durch das Gute. Oder noch besser. Durch den, der selber durch und durch gut ist. Das Böse kommt da an sein Ende, wo wir ihm auch in unserem Verhalten, in unserem ganzen Leben, keinen Raum mehr zugestehen.

Sind sie mit dieser Antwort zufrieden? Erklärt sie ihnen, warum wir alle immer wieder die Erfahrung des Bösen machen? Und entfaltet sie genug tröstende Kraft, den alltäglichen, mit Händen zu greifenden Erfahrungen des Bösen zu widerstehen? Unsere eigene Wahrnehmung von Wirklichkeit ist doch von dieser Antwort des Paulus sehr verschieden. Die Welt stellt sich eher als Ort dar, in der Gut und Böse in ständiger Auseinandersetzung liegen. Und in der das Böse ein ums andere Mal die Oberhand behält. Der Appell an unsere Kräfte, die Aufforderung an unsere eigenen Möglichkeiten reicht hier wahrhaftig nicht aus.

Man mag mit Paulus seine Mühe haben. Doch weltfremd war er gewiss nicht. Paulus kennt die Erfahrung der Überlegenheit des Bösen aus eigener Erfahrung. Nicht nur im Blick auf die anderen. Nein, auch was sein eigenes Verhalten betrifft. Einige Kapitel früher schreibt er:

Das Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht. Und das Böse, das ich nicht will, das tue ich.

Unser Leben als Gottesdienst! Paulus weiß wie schwierig das ist. Und dennoch sieht er seine eigenen Einsichten über Gott und die Gerechtigkeit, über Gut und Böse, durch unser Unvermögen nicht außer Kraft gesetzt. Das liegt an einer weiteren Grenzüberschreitung. Nämlich der zwischen Gegenwart und Zukunft. Zwischen der Ansicht und der Aussicht unseres Lebens. Glauben heißt für Paulus: vorwegnehmen. Glauben heißt für ihn so zu leben, als sei das schon Wirklichkeit, was in Wirklichkeit in seiner Fülle erst noch aussteht.

Glauben heißt, schon jetzt so zu leben, als sei unser Leben so schön, wie Gott es gemeint hat. Glauben heißt, tagtäglich die Gegenwart unter dem Blickwinkel der Zukunft zu sehen. Leicht ist das nicht. Schließlich fordern uns die Gegensätze von Gut und Böse, von Möglichkeit und Wirklichkeit jeden Tag neu zu Grenzüberschreitungen heraus. Aber genau dazu will Paulus uns Mut machen. Unser Leben zu leben nicht im Lichte dessen, was wir uns abringen. Vielmehr in der Erwartung dessen, was Gott uns zukommen lässt.

Im Guten dem Bösen den Abschied geben – so habe ich diese Predigt überschrieben. Ich könnte das Thema im Sinne des Paulus noch präzisieren: Im Tun des Guten das Böse schon jetzt für vorläufig, ja gar für nichtig erklären. Mitten in einer Welt, in der es Tag für Tag noch fröhlich Urständ feiert. Darum geht es in jedem Gottesdienst.

Dass unser ganzes Leben zu einem Gottesdienst wird, das ist das eine. Man kann diesen Satz aber auch in umgekehrter Richtung lesen. Unsere Gottesdienste, die wir feiern, sollen unsere Lebenswirklichkeit unterbrechen. Sollen in elementarer Weise das Leben verdichten. Sollen das Fest der bleibenden Gegenwart Gottes jetzt schon vorwegnehmen. Und sie sollen dem Bösen im Feiern des Guten schon jetzt den Abschied geben.

Jetzt noch als Vorwegnahme. Aber im Glauben als Fest dessen, was Gott seiner Schöpfung auf Dauer zusagt: „Der Tod soll nicht mehr sein. Noch Schmerz noch Leid noch Geschrei soll mehr sein. Denn das Erste ist vergangen. Siehe, Neues ist geworden“ Die Aussicht auf diese Neue lässt uns leben. Heute. Und jeden Tag neu. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.