PREDIGT ÜBER JOHANNES 8,2-11
IM RAHMEN DER REIHE „BUßE UND BEICHTE“
AM SONNTAG, DEN 24. OKTOBER 2010 (21.S.N.TR.)
IN DER CHRISTUSKIRCHE IN MANNHEIM

24.10.2010
Wie sich die Geschichten gleichen, liebe Gemeinde! Eine Frau wird ertappt und ist im Netz ihrer Häscher verheddert. Sakineh Mohammadi Aschtiani. Sie ist 43 Jahre at, stammt aus Ost-Aserbaidschan, ist iranische Staatsbürgerin. Wegen Ehebruchs wird sie zu 99 Peitschenhieben und zum Tod durch Steinigung verurteilt. Die Peitschenhiebe muss sie erleiden. Die Hinrichtung sollte im Juli 2010 stattfinden. Wegen großer internationaler Proteste wird die Hinrichtung verschoben. Aufgehoben ist sie noch nicht. Die Proteste gegen die Hinrichtung halten an.

Wie sich die Geschichten gleichen! Eine Frau - ertappt und im Netz der Häscher verheddert. Das gilt auch für die Begegnung, von der der heutige Predigttext berichtet. Ich lese aus Johannes 8 die Verse 2 bis 11:

2Frühmorgens kam Jesus (wieder) in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. 3Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: 8Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Ertappt. Und im Netz der Häscher verheddert. Das ist der Stoff, der die Sensationsgier nährt. Spitzensportler, die des Dopings überführt wurden. Politiker, die mit einer heimlichen Freundin ein Kind haben. Und die öffentlich als Hüter der Moral auftreten. Gerechtigkeitsprediger, die Gehälter horten und Steuern hinterziehen. Kirchliche Mitarbeiter, denen man nachweist, dass ihr Handeln ihr Reden Lügen straft.

Eine ganze Sparte von Medien wird so genährt und am Leben erhalten. Unabhängig und überparteilich werden Menschen ertappt und mit Lust vorgeführt. Mit Lust beider übrigens. Derer, die vorführen. Und derer, die sich auf den Rängen tummeln und es sich mit dem Ergehen der in flagranti Ertappten gut gehen lassen.

Ertappt. Und im Netz seiner Gegner verheddert. Jesus selber. Das wünschen sich zumindest diejenigen, die sich mit klammheimlicher Lust an ihn wenden. Nicht einmal der Tempel in Jerusalem war wirksam davor geschützt, in diesem Sinn zur Arena zu werden. Auf den Rängen diejenigen, die das Gesetz auf ihrer Seite haben. Auf dem Spielfeld die Frau, der sie vorwerfen, sich schuldig gemacht zu haben. Und Jesus, dem die Rolle des Schiedsrichters, ja eigentlich noch richtiger, die des Richters, zugedacht ist.

Jesus kann sich eigentlich nur falsch entscheiden. Stimmt er den Anklägern zu, erweist sich seine Botschaft der Barmherzigkeit als unwahr. Dann hätte er auch nicht mehr zu bieten als die anderen. Und schon gar nichts Besseres. Spricht er die Frau frei, stellt er sich über das Gesetz. Jesus, der Bote der Menschenfreundlichkeit Gottes, er ist der eigentliche Zielpunkt der Vorführaktion. Die Frau bildet nur die Klippe, an der er scheitern, über die er stürzen soll. Am Ende soll Jesus in flagranti ertappt werden.

Ganz eigentümlich wird die Dynamik der Überführung angehalten. Jesus sitzt gebückt am Boden. Und schreibt in den Sand. Wir können uns die Provokation, die in diesem Verhalten liegt, wohl nicht heftig genug vorstellen. Jesus kümmert sich überhaupt nicht um die, die ihn benutzen wollen für ihre eigenen Zwecke. Demonstrativ spielt er das Spiel des Verderbens nicht mit. Und so misslingt das Vorhaben. Läuft ins Leere. Jesus entzieht sich den Häschern. Bringt die Spirale zum Stillstand.

Diejenigen, die die Frau verurteilen wollen, geben keine Ruhe. Sie wollen wissen, wie Jesus sich positioniert. Und Jesus bleibt ihnen die Antwort nicht schuldig. Doch seine Antwort hat einen anderen, weiteren und weiseren Horizont als die, die man von ihm erwartet. Jesus verweist auf den Weg hinter dem Weg. Weder ein „ihr dürft“. Noch ein „ihr dürft nicht“.

Jesus legt die Tiefenstruktur derer offen, die mit ihrem Urteil schon fertig sind: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“

Die Steinewerfer kommen gehörig aus dem Tritt ihres geplanten Tuns. Kein Aufstand der Rechtgläubigkeit. Jegliches Gerangel bleibt aus. Der erste Stein fliegt nicht. Ebenso wenig wie die weiteren Steine, die dem ersten meist ganz schnell nachfolgen. Der erste Stein, das ist schon der Grenzübertritt. Was dann folgt, das sind die Taten der Nachahmer. Die Taten derer, die sich nach der Masse richten. Die lieber politisch korrekt sein wollen als eigenverantwortlich Orientierung zu bieten.

Der erste Stein schon ist das Todesurteil. Und das Ende der Ermöglichung einer neuen Zukunft für die Frau. Doch der erste Stein fliegt nicht. Ebenso wenig wie weitere Steine.

Die verhinderten Steinewerfer haben zuallererst sich selber einen großen Dienst erwiesen. Die Hinrichtung findet nicht statt. Der Stein, den sie aus der Hand legen, wird zum Startkapital eines neuen Lebens. Zum Grundstock einer besseren Zukunft. Einer Zukunft ohne Rechthaberei und todbringender Moral. Kein: Weil sie schuldig ist, muss sie sterben. Vielmehr: Obwohl wir alle schuldig sind, dürfen wir leben!

Aus den nicht geworfenen Steinen baut sich die Straße in eine neue Zukunft! Die Ankläger sind die ersten, die Gelegenheit bekommen, Buße tun. Noch bevor die Frau dazu Gelegenheit hat. Die Ankläger sind selber als Täter überführt. Aber sie werden vor Schlimmerem bewahrt. Sie finden am Ende hoffentlich den Weg in eine bessere Zukunft

Bleibt die Frau – auch sie ist noch nicht am Ziel. Der Tod bleibt ihr erst einmal erspart. Doch zum Leben ist der Weg noch weit. Jesus nimmt erneut die Beschleunigung aus der Geschichte heraus. Entspricht der abgewendeten Todesdynamik durch sein eigenes Verhalten. Wieder bückt er sich zu Boden. Wieder malt er seine Zeichen in den Sand. Jesus spielt nicht mit. Und ohne ihn können die anderen ihr Spiel auch nicht länger durchhalten.

Und mit einem Mal sind sie gegangen. Zurück bleibt die Frau. Jesus nimmt ihr nicht die Beichte ab. Er weiß, worum es geht. Und die Frau weiß es. Eine Beichte ablegen, das heißt, im Angesicht Gottes der ungeschminkten Wahrheit Raum geben. Die Frau schweigt. Ein beredtes Schweigen. Keinerlei Versuche, sich zu rechtfertigen.

„Sie haben dich leben lassen!“, sagt Jesus. „Dann fang jetzt auch wirklich zu leben an!“ Leben meint Leben in Eigenverantwortung. Leben in Beziehung. Leben, das Beziehungen nicht verletzt. Das Beziehungen nicht enttäuscht und bricht. Leben in Beziehungslosigkeit – das ist Sünde. Leben, das bei sich bleibt; das sich verschließt gegenüber der Quelle unseres Seins – das ist Sünde. Leben, das seinen Sinn darin findet, anderes Leben mit dem ersten Stein bloß zu stellen und zu verletzten - das ist Sünde.

„Du kannst ganz anders leben!“, sagt Jesus zu der Frau. Zerstöre kein Vertrauen mehr. Gewinne neues dazu! Vertraue nicht auf deine Ansichten bei den Menschen. Vertraue auf deine Aussichten bei Gott. Vertraue darauf, dass sich „dein Morgen zu deinen Gunsten ereignet“ (nach W.Krötke).

Was Jesus tut, ist unerhört. Wenn es einen Text gibt im Neuen Testament, der unser Denken und unsere Gewohnheiten aus den Angeln hebt, einen Text, der brisant und gefährlich zugleich ist, dann ist es dieser heutige Predigttext. Und wenn mich jemand fragt, worin denn das Neue und Besondere der Botschaft Jesu liegt, dann verweise ich in meiner Antwort auf diesen Text. Und wenn jemand meint, Christin zu sein oder Christ, das bedeute einfach nur, moralischen Ansprüchen zu genügen, dann ist dieser Text ein Dokument des heftigsten Widerspruchs.

Die Schriftgelehrten und Pharisäer – sie handeln nicht im Affekt. Sie haben das Recht auf ihrer Seite. Das Gesetz, als dessen Quelle sie auf Gott selber verweisen. Nichts Geringeres können wir dem Jesus des Predigttextes nachweisen, als dass er das geltende Recht aus den Angeln hebt. Es kann, es darf doch nicht sein, dass da einer kommt, der all das aus niederreißt, was seit Generationen unser Zusammenleben ordnet.

Auch Recht bewahrt nicht immer vor der Erfahrung, dass wir uns ungerecht behandelt fühlen. Aber wir haben dazu keine Alternative. Eine Gesellschaft ist nur lebensfähig, wenn sie ihr Zusammenleben ordnet. Wenn sie sich Regeln gibt. Und wenn sie die Einhaltung dieser Regeln auch einfordert.

Und doch legt Jesus gegen dieses Recht seinen Einspruch ein. Er tut das immer wieder. Er erzählt von Menschen, die für eine Stunde Arbeit gleich entlohnt werden wie andere für einen ganzen Tag. Er bricht mit dem Prinzip, dass wir unsere Freunde lieben und unsere Feinde hassen sollen. „Liebet eure Feinde!“ – dieses Programm macht er zu unserem Auftrag. Und auch hier bricht er mit dem überkommenen Rechtssystem. Jesus tut das nicht, weil er die Strafe für zu grausam hält. Oder weil er den Vertrauens- und Beziehungsbruch der Frau klein reden will.

Jesus bricht mit dem überkommenen Denken, weil wir im Blick auf unsere Gottesbeziehung alle in einem Boot sitzen. Und weil damit jeder Stein, den wir werfen, auf uns zurückfällt.

Können wir so leben, liebe Gemeinde? Können wir mit einem Blankoscheck die Dauerbegnadigung zum Grundprinzip unseres Verhaltens machen? Um ganz ehrlich zu sein: Ich glaube das nicht. Was Jesus in dieser Geschichte macht, wie er sich gegenüber den Anklägern und gegenüber der Frau verhält, das ist eine prophetische Zeichenhandlung. Ein ins Leben gezogenes Gleichnis. Eine Vorwegnahme der Zukunft unter den Bedingungen der angebrochenen Herrschaft Gottes. Kein Rezept für unser Verhalten. Kein Außerkraftsetzen unserer rechtlichen Ordnungen.

Aber Vorsicht! Wenn das Verhalten Jesu eine Vorwegnahme der Zukunft beschreibt, muss es doch auch eine Brücke geben. Eine Brücke von unserer Weise, zu leben und die Welt zu gestalten, hin zu dem, was Jesus im Gespräch mit der Frau vorlebt.

Es muss Orte geben, wo die vorweggenommene Zukunft schon Gegenwart ist. Die Kirche müsste ein solcher Ort sein, liebe Gemeinde. Die Kirche muss ein Ort sein, wo Gnade vor Recht ergeht. Nicht nur in Worten auf der Kanzel. Sondern auch im alltäglichen Umgang mit einander. Vergebung und Neuanfang - das ist nicht ein Programm für Sonntagsreden. Ein Programm nur für die Predigt. Wir müssen das im Einzelfall immer wieder auch vorleben. Durch die Art und Weise, wie wir unser Recht zur Gnade hin dehnen.

Leicht ist das nicht. Denn die Kirche schillert immer hin und her zwischen dem, was sie um Gottes Willen sein soll. Und dem, was sie ist, weil auch sie nicht ohne Ordnungen und Regeln auskommt. Aber anwenden müssen wir dieses Recht im Wissen, dass es um des Menschen willen formuliert ist. Und nicht umgekehrt. Dass die gegenwärtige Ordnung eine Ordnung des Übergangs ist. Und allemal nur eine vorläufige. Weil wir uns immer auf dem Weg befinden. Hin zu einer neuen Welt. Einer Welt im Angesicht Gottes.

Noch einmal möchte ich auf das Thema dieser Predigtreihe zu sprechen kommen: Buße und Beichte. Die Beichte, sie ist im tiefsten Sinn ein Zeichen dieses Übergangs. Hin zu dieser neuen Welt Gottes. Beichte, das meint: Ich setze mich im Angesicht Gottes der Wahrheit über mich aus. Und ich höre den Zuspruch des neuen Lebens. Ich lasse mich freisprechen durch das erlösende Wort: Dir sind deine Sünden vergeben!

Der Zuspruch in Gottes Namen als Zuspruch der Freiheit. Als Zuspruch einer ganz neuen Weise des Seins. Der Zuspruch einer Zukunft in Freiheit.

Denn Gängeln ist Gottes Sache nicht. Gott geht gnädig mit uns um, damit wir einander gnädig sein können. Voller Hoffnung dürfen wir uns dieses Wort der Lossprechung immer neu zusagen lassen. Und so der „Zukunft das Wort geben.“ (W.Krötke) Einer Zukunft, die Jesus beschreibt mit den Worten: „Ich bin gekommen, damit ihr das Leben habt. Leben in Fülle. Für immer.“

Für Sakineh Mohammadi Aschtiani im Iran gilt das. Und für alle anderen Opfer von Unrecht und Willkürherrschaft. Deswegen setzen wir uns zu Recht dafür ein, dass Frau Aschtiani und alle anderen bewahrt bleiben vor den Grausamkeiten ihrer Richter. Und es gilt am Ende für uns alle.

Lassen wir noch einmal den Predigttext zu Wort kommen: „Hat dich niemand verdammt?“, fragt Jesus die Frau. Sie antwortete: „Niemand.“ Und Jesus sagt zu ihr: „So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr!“

Mehr als das, was Jesus dieser Frau sagt, muss auch uns nicht gesagt werden. Jesu Antwort genügt, um zu leben. Amen.





Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.