PREDIGT
IM GOTTESDIENST 75 JAHRE LUTHERKIRCHE
AM SONNTAG, DEN 28. NOVEMBER 2010 (1. ADVENT)
IN BRUCHSAL

28.11.2010
Alles Gute zum neuen Jahr, liebe Gemeinde! Zumindest in der Kirche können wir uns heute schon mit diesem Satz ansprechen. Mit dem 1. Sonntag im Advent beginnt das neue Kirchenjahr. Advent und Weihnachten, Passion und Ostern, Pfingsten und Trinitatis. 19 Sonntage nach Trinitatis werden wir im neuen Kirchenjahr zählen. So wenige wie sonst nie. Aber Ostern feiern wir auch erst 25. April. Später geht es gar nicht.

So nehmen wir auch dieses neue Kirchenjahr wieder zum Anlass, einen Gang durch die zentralen Themen des Glaubens und der Kirche zu machen. Unser Gaube lebt von hilfreicher Wiederholung. Er ist geradezu darauf angewiesen. Die Erinnerung durch das „alle Jahre wieder“ des Kirchenjahres ist ein Projekt der Vergewisserung im Glauben. Und mit dem heutigen Sonntag beginnen wir eben liturgisch einen neuen Lauf des Kirchenjahres.

Alles Gute zum neuen Jahr möchte ich ihnen aber auch aus einem anderen Grund wünschen. Mit diesem 1. Advent beginnt bei ihnen hier auch ein besonderer Jahreslauf. Ein Jahr der Erinnerung an den Bau dieser Lutherkirche, die im kommenden November 75 Jahre alt wird.

Im Internet habe ich mir einige der historischen Aufnahmen angeschaut. Spatenstich. Grundsteinlegung. Festumzug. Glocken. 75 Jahre ist für eine Kirche eigentlich noch kein Alter. Manche Kirchen sind über 1000 Jahre alt. Und Trotzdem: Was hat sich in diesen 75 Jahren alles ereignet? Politisch. Aber auch in der Kirche. Die mächtigste Veränderung liegt schon Jahrzehnte zurück. Der 2. Weltkrieg und seine gerade auch hier in Bruchsal erlebte zerstörerische Kraft. Die Schuld der Verstrickung in die menschenverachtende Politik der Nazis. Aber auch der Übergang von der Zeit des Dritten Reiches in die neue Gestalt der Landeskirchen und die EKD der Nachkriegszeit.

Gegenwärtig haben wir in unserer Kirche wieder eine Zeit großer Veränderungen. Dieses Mal nicht aus politischen Katastrophen geboren. Sondern als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen. Und in diesem andauernden Prozess des sich ständig Wandeln-Müssens und auch des sich Wandeln-Wollens sind 75 Jahre schon eine lange Zeit. Darum gratuliere ich ihnen von Herzen zu ihrem Jubiläum. Und ich wünsche ihnen ein Jahr voll guter Erfahrungen im Rückblick auf dieses Drei-Viertel-Jahrhundert!

Wenn wir in der Kirche feiern, kommt der Musik eine zentrale Bedeutung zu. Das ist auch heute so. Eine wunderschöne Kantate von Johann Sebastian Bach haben wir eben gehört, liebe Gemeinde. Und diese Kantate ist allein schon eine so intensive Form der Verkündigung, dass es einer Predigt eigentlich gar nicht mehr bedarf.

Die Kantate hat alles, was eine gute Predigt ausmacht. Sie bezieht sich in vielfacher Weise auf die Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes. Sie bringt ihr Thema in verständlicher und wohltuende Weise zum Ausdruck. Sie ist viel weniger eine monologische Veranstaltung wie das Predigten meist sind. Das singen im Chor alle gemeinsam. Das wechseln sich Solistinnen und Solisten in der Weitergabe der Botschaft ab. Da wird nichts dem Zufall überlassen. Da gehen Proben voraus und am Ende eine Generalprobe. Eigentlich fehlt dem Gottesdienst nichts.

Aber ich möchte heute trotzdem predigen. Weil auch die Predigt zur Tradition dieser Kirche gehört. Tausende von Predigten werden in diesen bisher 74 Jahren in dieser Kirche gehalten und gehört worden sein.

Aber die Predigt wird sich natürlich vor allem auf diese Kantate von Johann Sebastian Bach beziehen. Am 3. Dezeber 1724 ist sie in Leipzig zum ersten Mal aufgeführt worden. Als vor 286 Jahren. Dass wir sie heute immer noch kennen und aufführen und sie uns auch zu Herzen gehen lassen, auch das ist ein Zeichen dafür, dass unser Glaube Geschichte hat. Dass er Geschichte macht und schreibt. Und dass er am Ende auch Geschichte überdauert.

Aber wir können auch noch weit zurück hinter Johann Sebastian Bach. Das Thema der Kantate bezieht sich auf den Choral „Nun komm, der Heiden Heiland!“. Am Anfang und am Schluss werden die erste und die letzte Strophe dieses Chorals auch gesungen. Der Dichter dieser Strophen ist der Namensgeber ihrer Kirche: Martin-Luther. Mit dem Bezug auf ihn haben wir uns noch einmal zwei Jahrhunderte zurückbewegt. Denn er hat seinen Choral im Jahre 1524 gedichtet. Also zweihundert Jahre bevor Bach die Kantate zur Uraufführung gebracht hat.

Doch noch lange nicht genug. Martin Luther hat den Text nicht frei erfunden. Er hat einen alten lateinischen Choral ins Deutsche übertragen. „Veni redemptor gentium!“ Dieser Choral stammt von Ambrosius, dem großen legendären Bischof von Mailand. Er hat ihn im Jahre 386 nach Christus geschrieben. Also vor 1624 Jahren. Ambrosius ist eine der prägenden Gestalten der Alten Kirche. Er hat Augustinus für den christlichen Glauben gewonnen. Und er hat ihn auch getauft.

Augustinus, der auch am Übergang vom 4. zum 5. Jahrhundert gewirkt hat, ist für die Geschichte unseres Glaubens von einer Bedeutung, die wir gar nicht hoch genug würdigen können. Ohne ihn sähe diese Kirche anders aus. Er ist, wie ein Biograph aus dem letzten Jahrhundert geschrieben hat, „der einzige Kirchenvater, der bis auf diesen Tag eine geistige Macht geblieben ist.“

Und so hat uns eine Kantate von Johann Sebastian Bach auf ganz schnellem Weg in die Anfänge der Kirche zurückgeführt. Wir alle haben Teil und sind Teil einer großen Geschichte des Glaubens. Das ist der wahre Grund, warum wir uns immer wieder unserer Wurzel vergewissern. Und warum sie mit recht auch das 75jährige Jubiläum ihrer Kirche feiern.

Der Choral „Nun komm, der Heiden Heiland“ war über lange Zeit der Adventschoral schlechthin. Im Vorgängergesangbuch vor unserem heutigen war er noch die Nummer 1. Das war kein Zufall. Mit dem ersten Lied ist auch eine programmatische Aussage verbunden. Wer das erste Lied aufschlägt, soll sofort erfahren, worum es geht. Es ist der Türöffner und der Appetitanreger des Singens.

Der Text dieses Chorals ist theologisch sehr anspruchsvoll. Die ganze Geschichte der Menschwerdung Gottes in wenigen Strophen. Im neuen Gesangbuch hat ein anderes Lied diese Funktion übernommen. Das Lied, das wir heute auch als erstes gesungen haben. Das Lied „Macht hoch die Tür!“ Es ist gefälliger. Fordert uns nicht so heraus. Spart den Gott aus, der uns im mer wieder auch ins Fragen und ins Zweifeln bringt. Der es uns nicht immer so leicht macht. Die Geschichte des Gesangbuches und seiner Lieder ist selber ein hoch spannendes Unternehmen. Und es zeigt auf, dass auch der Glauben und die Theologie Moden unterliegen.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es eine bedeutende Feststellung, dass die Kantate von Bach schon fast 300 Jahre zum Boten der adventlichen Botschaft von der Erwartung der Menschwerdung Gottes wird.

Und ganz leicht ist die Kantate nicht zu verstehen. Sprachmuster aus vergangener Zeit. Nicht immer und für alle leicht zu verstehen: Schätze des Himmels, göttliches Manna, nicht befleckte Keuschheit, der Held aus Juda. All das bedarf heute der Übersetzung:

• das göttliche Manna bezieht sich auf die Elemente des Abendmahls. Brot und Weil als wahre Lebensmittel, als Speise, die uns nährt und von der wir leben können.

• die unbefleckte Keuschheit lässt das Thema der Jungfrauengeburt anklingen. Aber Vorsicht: Hier geht es um Theologie und nicht um Biologie. Gott gibt sich zu erkennen, aber abseits der Welt der Männer und Macher, ohne die Dynastien der Mächtigen. Das Kind einer einfachen jungen Frau wird zum Hoffnungsträger der Menschen. Nicht das, was andere sich ausdenken in den Zirkeln der Machthaber. Gott – zu erkennen in einem Kind, das ist das wahre Geheimnis der Weihnacht.

• Und der Held aus Juda, der einbricht in unsere Lebenswirklichkeit – das ist der Hinweis auf den, der zur Welt kommt in Bethlehem, einer kleinen Stadt in Judäa. Helden haben damals in Rom Geschichte geschrieben. Im Zentrum des Reiches. Nicht in einem unbedeutsamen Hinterhof. Doch genau von da aus entfaltet der Held aus Juda seine Wirkung. Und Bachs Hörer hat am 1. Advent gewiss noch das Johannes-Evangelium in den Ohren geklungen, das gerade ein halbes Jahr davor, ebenfalls 1724, entstanden ist. „Der Held aus Juda siegt mit Macht!“ wird da gesungen, dort aber nicht zur Beschreibung der Geburt, sondern zur Deutung des Todes Jesu. Anfang und Ende, Geburt und Tod, Krippe und Kreuz, sie gehören zusammen, um das Leben und die Bedeutung Jesu zu verstehen.

Insofern bereitet der Advent nicht nur auf das Fest der Weihnacht vor. Er will uns darauf vorbereiten, unser ganzes Leben neu verstehen zu können. Unser Leben sehen zu können in einem ganz neuen Licht:

Die Dunkelheit verstört uns nicht;

und sahen dein unendlich Licht.

So haben Sopran und Alt in ihrem Duell gesungen. Advent meint eben nicht die Vorweihnachtszeit. Advent ist in einem ganz radikalen Sinn Anti-Zeit. Umkehr-Zeit. Eine Zeit der Übung. Eine Zeit, es einmal mit dem radikalen Perspektivwechsel zu versuchen. Uns nicht von unserer Ansicht bei den Menschen her in den Blick zu nehmen. Sondern aus der Aussicht, die wir bei Gott haben.

Denn die Menschwerdung Gottes hat nur ein Ziel. Sie will uns selber dazu verhelfen, Mensch zu werden. „Mach’s wie Gott – werde Mensch!“ so lautet ein etwas saloppes Sprichwort unserer Tage. „Mach’s wie Gott – werde Mensch!“ Genau darum geht es: Und einzulassen auf die Möglichkeiten des Menschseins, uns nicht zu übernehmen, sondern dem zu vertrauen, von dem die Kantate singt:

Sei geschäftig,

das Vermögen in uns Schwachen

stark zu machen.

„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Diesen Satz des Paulus können wir hier eindeutig heraushören. Und ihn in weihnachtlichem Sinn deuten: Schwach wie ein Kind. Aber voll Glauben, dass wir gerade auch in unserer Schwäche stark sein können. Gefährdet wie ein schutzloser Säugling. Und doch gerade in dieser Angreifbarkeit glaubwürdig. Geboren in einer Absteige. Und doch gerade dadurch der Hoffnungsträger derer, die an den Rändern unserer Gesellschaft leben.

Darum liebe ich den Advent. Er gibt mir Raum, mich auszurichten auf das Leben im Größeren. Der Advent sagt nicht: So ist es! Er sagt: Lass zu, dass es anders sein könnte, als es dir recht ist. Und dass gerade das für dich gut ist.

Darum ist der Advent die barmherzigste Zeit des Jahres. Er eröffnet uns den Raum, noch einmal neu zu beginnen. Das ist ja der tiefere Sinn des Kirchenjahres. Er macht Türen auf, an die wir noch gar nicht gedacht haben. Weil wir Gott nicht finden in den Konsumtempeln unserer Städte, sondern unter den Wellblechdächern der Habenichtse und hinter den Tüen derer, denen der Glaube abhanden gekommen ist.

Der Advent erschlägt uns noch nicht mit dem Tutti des himmlischen Festgesangs der Engel. Er lässt die himmlischen Töne noch verhalten erklingen. Damit wir uns einhören können in die Größe der Geschichte, die an Weihnachten ihren Ausgang nimmt.

Der Advent ist die Zeit, in der auch die Esel zu ihrem Recht kommen und in ihren Möglichkeiten wertgeschätzt werden. Im Evangelium vom Einzug Jesu auf einem Eseln wurden wir daran erinnert. Der Advent ist die Zeit, in der wir plötzlich die Hirten wieder entdecken. Raue Gesellen ohne festen Wohnsitz. Menschen, die sonst niemand auf der Rechnung hat. Der Advent, das ist auch die Zeit, in der wir beginnen, die Zeichen der Zeit zu deuten – so wie die himmelskundigen Magier aus dem Osten, die sich auf den Weg machen, um sich von diesem Kind neu ausrichten und orientieren zu lassen.

Nun komm, der Heiden Heiland. Die Heiden, das sind nicht auch Esel und Hirten. Die Heiden, das sind aber einfach die Ungläubigen. Aus der Sicht der Welt zur Zeit der Geburt Jesu waren das die nichtjüdischen Völker.

Die Heiden, das sind also diejenigen, die vorher noch nicht zum Gottesvolk gehört haben. Und die Gott am Ende noch auf ganz anderen Wegen finden als den uns vertrauten.

2000 Jahre dauert diese Geschichte, die mit dem Kind in der Krippe seinen Anfang nahm. 75 Jahre dieses Weges wurde in dieser Lutherkirche gefeiert. Freud und Leid. Advent und Weihnachten. Passionszeit und Ostern. 75 Jahre wurde hier regelmäßig Gottesdienst gefeiert. Und wurden sicher auch Oratorien und Kantaten aufgeführt.

Das ist Grund genug, uns dankbar zu freuen und zu feiern! Was wollen wir denn noch mehr? Dass wir uns einstellen auf das, was jenseits unseres eigenen Vermögens liegt, das ist das Thema der nächsten Wochen des Advents. Dass wir uns freuen auf jenes Licht, dem keine Finsternis standhalten kann. Und dass uns dieses Kind herausreißt aus dem Trott des Weiter so. Und uns den Himmel entdecken lässt mitten auf Erden.

Dann kommt auch alles Predigen an sein Ende. Und uns bleibt – wie am Ende der Kantate – nur noch das gesungene Gotteslob. Und am Ende womöglich nur noch das erwartungsvolle Schweigen. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.