PREDIGT ÜBER JESAJA 58,7-12
FESTGOTTESDIENST ZUM 150. GEBURTSTAG
DER KIRCHE IN WALDANGELLOCH
AM SONNTAG, DEN 2. OKTOBER 2011
(15.S.N.TR./ERNTEDANK)

02.10.2011
Zum 150. Geburtstag ihrer Kirche herzlichen Glückwunsch, liebe Gemeinde. Am 29. September 1861 wurde sie eingeweiht. Es ist gut und richtig, dass sie diesen Geburtstag auch richtig feiern. Selbstverständlich ist das nicht, dass sie mit einem solchen Gotteshaus gesegnet sind. Selbstverständlich war es auch damals – in der Mitte des 19. Jahrhunderts - nicht, dass ihre Vormütter und Vorväter im Glauben das alte Gotteshaus auf dem Friedhof durch dieses prächtige neue ersetzen konnten.

Mit großem Interesse habe ich den kleinen Kirchenführer studiert, den mir Pfarrer Schumacher freundlicherweise hat zukommen lassen. So habe ich mich heute gleich ein bisschen heimisch gefühlt.

1861 ist ein politisch durchaus bemerkenswertes und folgenreiches Jahr. In den USA treten die Südstaaten aus der Union aus und provozieren einen blutigen Bürgerkrieg. Kurz zuvor war Abraham Lincoln zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden. In Preußen wird der spätere Kaiser Wilhelm I. zum König ernannt. Victor Immanuel wird König von Italien. 6 Tage vor der Einweihung ihrer Kirche wird Robert Bosch geboren. Zwei Wochen danach Fritjof Nansen.

Auch im Blick auf die badische Kirchengeschichte ist das Jahr 1861 nicht ohne besondere Bedeutung. Die Landeskirche erhält 40 Jahre nach dem Zusammenschluss von Lutheranern und Reformierten ihre erste Verfassung, ein Vorläufer der heutigen Grundordnung. Ganz besonders bedeutsam ist dabei: Jetzt können auch Kirchenwahlen abgehalten werden.

Und mitten drin im bunten Lauf der Welt- und Kirchengeschichte wird hier in Waldangelloch die neue Kirche eingeweiht. Am 29. September. Am Tag des Erzengels Michael. Und als ob eine Einweihung nicht Anlass genug wäre, werden im selben Gottesdienst auch noch eine Taufe und eine Trauung gefeiert.

Ein Fest des Dankes feiern wir heute im Rückblick auf diese 150 Jahre. Ein Fest des Dankes ist dieser erste Sonntag nach dem Michaelisfest aber jedes Jahr auf’s Neue im Kirchenjahr. Heute ist – unübersehbar – auch Erntedank! Das eine Fest wie das andere – der Geburtstag der Kirche wie das Erntedankfest – sind Anlass, dankbar zurückzuschauen. Und beide bieten zugleich Grund genug, zuversichtlich die Zukunft in den Blick zu nehmen.

Der vorgeschlagene Predigttext für diesen Sonntag findet sich im 58. Kapitel des Jesajabuches. Wenn sie diesen Text jetzt gleich hören, werden sie spüren: Er eignet sich sehr gut sowohl für den einen wie für den anderen Anlass.

7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.
9 Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.


Wozu ist die Kirche gut? Wozu ist es gut, dass es die Kirche überhaupt gibt? Was sind ihre zentralen Aufgaben? Wozu ist nützlich, dass Sie diese Kirche mitten im Dort haben? Der Predigttext könnte uns helfen, eine Antwort zu finden. Er ist aber nicht an eine christliche Gemeinde gerichtet. Und es geht darum auch weder um die Kirche noch um Kirchengebäude.

Wenn dieser Text aber auch zu uns sprechen soll, müssen wir zunächst eine Antwort auf die Frage finden: Warum gibt es die Kirche? Was sind ihre wichtigsten Aufgaben? Drei wichtige Gründe möchte ich nennen.

Zunächst: Eine wichtige Aufgabe der Kirche ist die, Menschen mit Gott in Verbindung zu bringen. Sie mit dem Gottesthema zu infizieren. Die Kirche soll ein Ort des Feierns sein. Des gottesdienstlichen Feierns. Ein Ort für das Fest des Lebens überhaupt. Ein Raum für Spiritualität, wie wir heute gerne sagen. Zugleich ein Ort, an dem sich Menschen angstfrei begegnen können. Wo wir Kirche so verstehen können, wir die Kirche vor Ort zum Fest-Haus.

Die zweite wichtige Aufgabe der Kirche ist die, den Menschen zu helfen, sich selbst und die Welt zu verstehen. Oder noch besser zu verstehen. Den Müttern und Vätern der Reformation war es wichtig, dass die Kinder in die Schule gingen. Dass die Menschen rechnen und schreiben konnten. Dass die Menschen die Bibel lesen konnten - in ihrer eigenen Sprache. Wer glaubt, muss auch Wissen haben. Glaube und Vernunft gehören zusammen. Wo wir die Kirche so verstehen können, wird die Kirche vor Ort zum Lehr- und Lernhaus.

Die dritte zentrale Aufgabe der Kirche besteht darin, für Gerechtigkeit zu sorgen. Die Armen nicht zu beschämen. Den Hungernden etwa zu essen zu geben. Die Mächtigen von ihren hohen Sockeln herunterzuholen. Die Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden. Menschen, die unter Einschränkungen leiden, ein lebenswertes Leben in Geschwisterlichkeit zu ermöglichen. Niemand darf ausgeschlossen bleiben. Mit anderen Worten: Es geht im Grunde um das, was wir heute mit Diakonie umschreiben. Wo wir die Kirche so verstehen, wird die Kirche vor Ort zum Lebenshaus.

Diese dritte Aufgabe hat von Anfang an zum Wesen der Kirche dazu gehört. Aber es ist keine Erfindung der Kirche. Die diakonische Grundhaltung, die Fürsorglichkeit der Stärkeren gegenüber den Schwächeren, sie gehört zum Erbe der Religion Jesu. Auf kein anderes biblisches Buch hat sich Jesus so oft bezogen wie auf den Tei des Jesajabuches, der mit Kapitel 40 beginnt. „Tröstet, tröstet mein Volk!“ heißt es da am Anfang. Viele Israeliten aus der Oberschicht sind vor 50 Jahren nach Babylon verschleppt worden. Jetzt wächst die Hoffnung auf Heimkehr.

Aber das Land ist verkommen. Der Tempel liegt in Trümmern. Da kommt ein Prophet und macht den Menschen Mut. Aber er macht nicht nur Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Er nimmt die Menschen auch in die Pflicht. Er verkündet ein Programm der radikalen sozialen Gerechtigkeit: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Gerechtigkeit – das ist also das erste.

Volle Mägen noch vor dem vollen Tempel! Die Meßlatte der Gerechtigkeit ist hoch gelegt. Aber ebenso die Güte der Welt, die Gott zusagt: „Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“ Das Bild vom bewässerten Garten bleibt nicht ohne Wirkung. Wo die Wüste vorherrschend ist, wird der bewässerte Garten zum Paradies. Das ist schon auf der ersten Seite der Bibel so. Das Paradies ist da,wo es genügend Wasser gibt.

Wie können wir den Weg zurück ins Paradies finden? Wir sind auf dem richtigen Weg dorthin, wo wir uns einsetzen für eine gerechtere Welt. Auf diese Weise geben wir der Erde etwas von ihrer Lebendigkeit zurück. Da gewinnt sie wieder ein Stück ihrer Ähnlichkeit mit diesem paradiesischen Garten.

An Erntedank feiern wir, dass wir im Leben allemal Beschenkte sind. In dem, was wir essen. Aber auch in dem, was unsere Seelen satt macht. Es sind nicht nur die Früchte des Feldes, für die wir dankbar sind. Dankbar sind wir für alle köstlichen Früchte des Lebens, die uns jeden Tag auf’s Neue zufallen. Menschen, die es gut mit uns meinen. Menschen, die ein aufbauendes Wort für uns haben. Menschen, die ihre Stimme erheben für die, die selber keine Stimme mehr haben.

Wenn wir Erntedank feiern, können wir das besser tun, wenn wir auch anderen Grund zum Danken verschaffen. Wenn wir den 150. Geburtstag dieser Kirche feiern, können wir das umso besser tun, wenn wir eine Kirche sind, die austeilt und weitergibt von dem, wovon sie selber lebt.

Hier spricht der Predigtext dann mit einem Mal auch zu uns. Er tut dies mit einem wunderbaren Bild. Für mich eines der schönsten Bilder der Bibel überhaupt. Die, die sich nicht abfinden mit dem Zustand der Wirklichkeit. Die, die sich daran machen, der zerstörten Heimat wieder ihre Schönheit zu verleihen, die bekommen einen Namen. Einen sprechenden Namen: „Die die Lücken zumauern und die Wege ausbessern, dass man da wohnen könne.“

Dieser Name könnte unser aller Name sein. Ja er müsste unser aller Name sein! Die Lücken zuzumauern und die Wege auszubessern – das ist uns aufgetragen. Die Schönheit des Zerbrochenen wiederherzustellen. Und ihm von Neuem seine Würde zu geben. Hinter diese Auforderung konnten die Menschen damals nicht zurück, als sie heimgekehrt sind.

Und ihr Beispiel könnte uns inspirieren, noch viel mehr eine diakonisch geprägte Kirche zu werden. Uns noch viel mehr einzusetzen, dass Menschen zu essen haben. Und ein Dach über dem Kopf. Ich habe mich oft gefragt in diesen letzten Tagen, in denen es um die Höhe des Euro-Rettungschirmes ging: Wie müssen diese Milliarden diejenigen schwindlig machen, die nicht mehr haben als das Allernötigste.

Ich will nicht falsch verstanden werden: Die Entscheidung des Bundstags halte ich für richtig. Aber warum raubt der schwächelnde Euro so vielen de Schlaf? Warum setzt er so heftige Rettungsaktionen in Gang? Bestimmt die Meldungen der Medien? Und die Armut um uns herum, die Flüchtlingsströme weltweit; die Gewalt gegen Romas – sie lässt uns dagegen doch ganz schön ruhig schlafen.

Wessen Wege müssen wir ausbessern? Welche Mauerlücken schließen? Gerade an Erntedank gäbe es Grund, auch darüber nachzudenken. Gerade, wenn eine Kirche Geburtstag feiert, mit intakten Mauern und im Glanz ihrer Schönheit – gerade dann sollten wir uns daran erinnern lassen, welchen Namen wir tragen könnten: „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.“

Dankbarkeit lässt nicht zur Ruhe kommen. Dankbarkeit spornt an, auch anderen Grund zum danken zu verschaffen. Und wo wir Gottes Haus feiern, kommen doch auch wie von selbst diejenigen in den Blick, die kein Dach über dem Kopf haben.

„Habe ich dich gebeten, mir ein Haus zu bauen?“ So fragt Gott den David, der ihm einen Tempel errichten will: Gott hat kein Haus nötig. Gott braucht kein Haus. Wir brauchen dieses Haus, damit wir hören, was Gott uns zuspricht. Und was Gott von uns erwartet. Solche Menschen sollen wir sein, die Lücken zumauern und Wege ausbessern.

Solche Menschen sollen wir sein, die das in diesem Haus auch selber erfahren. Die spüren: In schönen Gottesdiensten werden unsere eigenen Lücken ausgebessert. Da macht Gott die Wege eben, auf denen wir manchmal nur noch mühsam durch’s Leben kommen. Schön, dass wir dieses Haus Gottes haben. Hier in Waldangelloch. Wieviele Lebenslücken werden hier geschlossen worden sein. In schönen Gottesdiensten. In Taufen und Trauungen. In unzähligen Konfirmationen.


Wie gut, dass es diese Häuser Gottes gibt mitten in unserer Welt. Und dass die Menschen jetzt schon feiern können, was in seiner Fülle erst noch aussteht: Es ist Gott, der unsere Lücken ausbessert. Der zurecht bringt, was unansehnlich bleibt in unserem Leben. Es ist Gott, der uns schön macht. Dies lässt uns leben und macht uns dankbar. Dies lässt uns feiern an diesem Erntedanksonntag. Und seit 150 Jahren in dieser Kirche. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.