ALS GOTTES VOLK IN GOTTES HAUS
PREDIGT ÜBER MARKUS 3
IM GOTTESDIENST AUS ANLASS DER WIEDEREINWEIHUNG
DER ANDREAS-KIRCHE IN KELTERN-DIETLINGEN
AM SONNTAG, DEN 18.SEPTEMBER 2011 (13.S.N.TR.)
18.09.2011
Liebe Festgemeinde hier in Dietlingen!
Herzlichen Glückwunsch zur Wiederindienststellung Ihrer Andreaskirche! Frisch renoviert erstrahlt sie in neuen Glanz. Sie führt uns allen vor Augen, was für einen Schatz ihnen ihre Vorväter und Vormütter im Glauben übergeben haben. Ein Haus Gottes mitten unter den Häusern, in denen Sie alle hier leben.
Dass wir Kirchen haben, vielmehr noch: dass wir so wunderschöne Kirchen haben, das ist keine Selbstverständlichkeit. Die ersten Christinnen und Christen hätten sich nicht vorstellen können, dass keine Tausend Jahre später Kirchtürme das Bild unserer Dörfer und Städte prägen.
Es gibt mehr als nur einen Grund dafür, dass die Menschen mit einem Mal begonnen haben, Kirchen zu bauen. Drei Gründe will ich nennen. Der erfreulichste zuerst. Kirchen wurden nötig, weil die Räume in den Häusern nicht mehr ausgereicht haben. Wie in einer Kettenreaktion nahm die Zahl derer, die zur Kirche gehören immer mehr zu. Schon bald wurden größere Räume benötigt.
Ein weiterer Grund kam dazu. Spätestens im vierten Jahrhundert mussten sich die Christinnen und Christen wegen ihres Glaubens nicht mehr verstecken. Die Zeit der Verfolgung hatte aufgehört. Die Zeit der Katakomben- und Untergrundkirchen war vorbei. Gottseidank! Kirchtürme, die sich in den Himmel recken, sie sind bis heute ein unübersehbares und häufig, wie etwa bei einem gotischen Münster, auch ein baulich wunderbar gelungenes Zeichen, das sagen will: Seht her. Es gibt uns. Wir sind da.
Über Jahrhunderte waren es ja die prägenden Kirchengebäude, die den Ansichten unserer Wohnorte ihr besonderes Gesicht gaben. Und das ist der dritte Grund für das Entstehen von Kirchen. Schon von weitem konnte man an der Kirche ablesen, was der Gemeinschaft von Menschen wichtig ist. Dörfer, in deren Mitte eine Kirche steht, Stadtsilhouetten, ganz gleich, ob die von Freiburg mit seinem Münster oder die von Dresden mit der wiedererbauten Frauenkirche, all diese Ansichten zeigen. Die Kirche stand über Jahrhunderte im Mittelpunkt – nicht nur auf dem Stadtplan. Sondern auch in den Herzen. In der Bedeutung, die ihnen für die Menschen zugekommen ist.
Auch heute prägen Kirchen noch viele Ortsansichten. Aber es hat sich Entscheidendes verändert. Die Kirchen stehen da nicht mehr alleine da. Große Wohnblocks und Hochhäuser sind zumindest in den großen Städten dazugekommen. Bürotürme. Bankenpaläste. Wie etwa in Frankfurt. Oder auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Architektonisch häufig bestaunenswerte Wunderwerke. Anziehungspunkte für Touristen.
Zugleich sind das aber auch Beweise der Möglichkeiten menschlicher Schaffenskraft. Schaut her, sagen diese Bauwerke! Zu solcher Größe sind wir fähig. Und plötzlich sehen die Kirchen ganz klein aus im Vergleich zu den Bauwerken dieses Jahrhunderts.
Heute vor einer Woche war es zehn Jahre her, dass in New York die beiden Türme des World Trade Centers in sich zusammengestürzt sind. Die große Betroffenheit war erneut zu spüren. Betroffen sind wir aber nicht nur wegen der 3000 Toten beim Einsturz und den noch viel mehr Toten in den sich anschließenden militärischen Aktionen. Betroffen sind wir, weil da zwei Symbole dieses neuen Selbstbewusstseins in sich zusammengefallen sind. Was menschlicher Geist ersonnen und menschliche Kraft erbaut hatte – menschliche Zerstörungswut und menschlicher Fanatismus haben es in sich zusammenfallen lassen wie ein Kartenhaus. Wie verletzlich sind wir doch in unserem Größenwahn!
Wie gut, dass ihre Kirche überdauert hat. Dass wir Kirchen haben, ist allemal ein Grund zur Dankbarkeit. Sie machen es uns leichter, Gottes Gegenwart zu erfahren und in schönen Gottesdiensten zu feiern. Wie viele Gottesdienste mögen in mehr als fünfhundert Jahren in dieser Andreaskirche gefeiert worden sein? Wie viele Predigten. Wie viele Trauungen und Konfirmationen. Wie viele Worte, mit denen Menschen getröstet wurden.
Unverzichtbar sind Kirchengebäude aber dennoch nicht. Der Tempel Gottes, so haben wir es eben in der Lesung gehört, der Tempel Gottes ist nicht ein Gebäude aus Stein. Der Tempel Gottes, das seid ihr!
Tempel aus Stein und Tempel, gebildet aus der Gemeinschaft derer, die nach Gott fragen und die in ihrem Leben mit Gott rechnen – zwei Weisen, ein Gotteshaus zu verstehe. Zwei Zugänge, die in einem Zusammenhang stehen, aber doch nicht dasselbe meinen. Haus Gottes sind sie beide. Aber zugleich stehen sie in einer Konkurrenz zueinander.
Das eine Haus ist aus Stein und wirklich ein Haus. Das andere ist gewissermaßen ein geistliches Gebäude. Beide gibt es. Aber welcher Tempel, welches Haus Gottes könnte wirklich und zurecht für sich in Anspruch nehmen, das wahre Haus Gottes zu sein?
Um ein ähnliches Verhältnis derselben Begriffe für etwas doch Unterschiedliches geht es auch im Predigttext für diesen 13. Sonntag nach Trinitatis. Wer sind die wahren Verwandten Jesu, wird da gefragt. Wer sind seine Schwestern und Brüder? Ich lese den vorgeschlagenen Predigttext aus Markus 3:
20 Jesus ging in ein Haus. Und da kam abermals das Volk zusammen, so dass sie nicht einmal essen konnten.
21 Und als es die Seinen hörten, machten sie sich auf und wollten ihn festhalten; denn sie sprachen: Er ist von Sinnen. 31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.
32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. 33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? 34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! 35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Wieder eine der Geschichten, in denen Jesus sich als schroff erweist. Als tough, wie man das heute gerne sagt. Mit seiner Mutter hat Jesus schon früher so geredet. In Kana, als der Wein zur Neige ging. „Frau, was habe ich mit dir zu schaffen?“ fragt er da seine Mutter. Und was dann folgte, war ein unübersehbares Zeichen der Fülle und der Kraft des Neuen, als Jesus Wasser in Wein verwandelt.
„Lass die Toten ihre Toten begraben!“, sagt Jesus ein anderes Mal. Zu einem Menschen sagt er das, der bereit ist, alles dran- und aufzugeben. Und ihm nachzufolgen. Er wollte zuvor nur noch seinen Vater beerdigen.
Es ist nicht einfach, diesen Jesus immer zu verstehen. Seinen Geschwistern und seiner Mutter, ihnen wird bei diesem Sohn, bei diesem Bruder so einiges durch den Kopf gegangen sein. Sympathisanten sammelt er um sich. Männer, aber auch Frauen, die mit ihm wohnsitzlos durch Galiläa ziehen. Leute zieht er magisch an. So vielen, dass die Mauern eines Hauses sie nicht mehr fassen können. Ein Verführer der Masse sei er. So sagen seine Gegner. Und zugleich einer, der leichtfertig sein Leben aufs Spiel setzt. Weil er der Obrigkeit zusehends verdächtig wird.
Und Jesu Familie reagiert, wie wir heute auch reagieren würden. „Er ist von Sinnen“, sagen sie. So steht es im Text. Wir würden heute sagen: „Er ist nicht recht bei Verstand. Hat nicht alle Tassen im Schrank. Er spinnt!“ Die Leute bekommen es mit. Und sie sprechen Jesus an.
„Deine Mutter ist da draußen“, sagen sie zu ihm. „Und deine Geschwister. Sie möchten, dass zu ihnen raus kommst.“ Die Leute sind gespannt. Manche wie Schaulustige, die es überall gibt. Andere Vielleicht wollen ihn womöglich warnen. Oder sie wollen sie sehen, wie ernst es ihm ist mit dem, was er da so alles von sich gibt.
Jesus geht nicht nach draußen. Und er bittet seine Mutter und seine Geschwister auch nicht herein. Er macht einfach weiter. Mögen wir in der Kirche bis heute den Wert der Familie hochhalten. Dieser Jesus, der war bestimmt kein Familienmensch. Als Zwölfjähriger schon nicht, als er sich einfach absetzt und im Tempel mit den theologischen Fachleuten diskutiert. Auch hier nicht. Als er seine Familie ganz schön abserviert.
Er schaut sich um. „Ihr, die ihr mir hier zuhört! Ihr, die ihr euch Gedanken macht über den Willen Gottes, ihr seid meine Mutter. Ihr seid mir Schwester und Bruder.“ Nicht nur Tempel Gottes also. Sondern auch Schwester und Bruder dessen, aus dessen Leben uns Gottes Gegenwart entgegenleuchtet.
Wir sollten noch einmal genauer hinschauen. Ich glaube nicht, dass Jesus seine Familie gering geschätzt hat. Um seine Mutter sorgt er sich noch, als sie unter dem Kreuz steht. Es geht um anderes. Es geht darum, wem unsere letzte Loyalität gehört. Es geh darum, auf welche Bindungen wir uns verlassen, wenn wir von allen guten Geistern verlassen sind.
Blut mag dicker sein als Wasser. Und die Verwandtschaft wichtiger als Geschäftsinteressen und Vitamin B. Aber wenn’s drauf ankommt im Leben, wenn wir gefragt sind, was unser einziger Trost im Leben und im Sterben ist, wie es im Heidelberger Katechismus heißt, dann ist es gut, wenn uns noch andere Bande halten als die Familienbande. Dann ist es gut, dass wir noch eine andere Familie haben.
Vor vielen Jahren habe ich einmal eine alte Frau getauft. Eine Woche vor ihrem 87. Geburtstag. Einige Monate zuvor war ihr Mann gestorben. Der Grund dafür, sich taufen zu lassen, hat sie in die Worte gefasst: „Ich will irgendwo dazugehören. Ich brauche eine große Familie.“
Die Familie Gottes. Wir alle gehören also zu dieser großen Familie Gottes. Weil Gott uns für wert hält, seine Kinder zu sein. Es geht nicht einfach um Verwandtschaft. Es geht um Beziehung. Um eine Beziehung, die trägt. Eine Beziehung, auf die wir uns verlassen können. „Ihr seid meine Schwester und meine Brüder. Ihr seid meine Mutter!“
Würdigung ist das. Und Auftrag zugleich. Als Schwestern und Brüder sind wir auch für einander verantwortlich. Weltweit. In der Nachbarschaft. Aber nicht nur. Im selben Dorf. Ganz sicher, Aber eben auch weltweit. Dass wir Schwestern und Brüder sind, das ist der wahre Grund aller Ökumene.
Damit wir aber nicht heimatlos werden, dafür sind Kirchen eine große Hilfe.
Bergende Orte sollen Kirchen sein. Orte, an denen Menschen Schutz finden. In Siebenbürgen habe ich vor einigen Wochen einige Kirchenburgen besucht. Die ältesten schon 800 Jahre alt. In diese Kirchenburgen konnten sich ganze Ortschaften mit Mensch und Tier zurückziehen, wenn sie von Feinden bedroht waren.
Kirchen sind aber nicht nur Burgen, die wir verschließen. Kirchen sind auch Orte, an denen wir gestärkt werden. Orte der Einkehr. Für Leib und Seele. Orte, an die wir andere einladen. An denen wir Nestwärme verspüren können. An denen wir Feste feiern. An denen wir den Mut haben, Neues kennen zu lernen. Auch neue Menschen, die auch zur Familie gehören. Und von denen wir vorher noch nicht begegnet sind. Gerade weil sie Schutzräume und Gastlokale sind, gerade deshalb sind Kirchen offene Orte.
Es ist wichtig, solche Orte mit Liebe zu pflegen. Baulich, so wie sie es eben getan haben. Aber auch mit der Kraft unserer Zuwendung und Liebe.
Liebe Gemeinde in Dietlingen: Ich wünsche ich ihnen neue und schöne Erfahrungen an diesem Ort der Bewahrung und des Schutzes. An diesem Ort der Einkehr. An dieser Herberge auf dem Weg. Als Gottes Volk sind sie in Gottes Haus willkommen. Als Gottes Volk können sie sich hier Schwester und Bruder sein.
Darum gibt es heute Grund genug zum dankbaren Feiern. Und es lässt uns singen. Amen.
Herzlichen Glückwunsch zur Wiederindienststellung Ihrer Andreaskirche! Frisch renoviert erstrahlt sie in neuen Glanz. Sie führt uns allen vor Augen, was für einen Schatz ihnen ihre Vorväter und Vormütter im Glauben übergeben haben. Ein Haus Gottes mitten unter den Häusern, in denen Sie alle hier leben.
Dass wir Kirchen haben, vielmehr noch: dass wir so wunderschöne Kirchen haben, das ist keine Selbstverständlichkeit. Die ersten Christinnen und Christen hätten sich nicht vorstellen können, dass keine Tausend Jahre später Kirchtürme das Bild unserer Dörfer und Städte prägen.
Es gibt mehr als nur einen Grund dafür, dass die Menschen mit einem Mal begonnen haben, Kirchen zu bauen. Drei Gründe will ich nennen. Der erfreulichste zuerst. Kirchen wurden nötig, weil die Räume in den Häusern nicht mehr ausgereicht haben. Wie in einer Kettenreaktion nahm die Zahl derer, die zur Kirche gehören immer mehr zu. Schon bald wurden größere Räume benötigt.
Ein weiterer Grund kam dazu. Spätestens im vierten Jahrhundert mussten sich die Christinnen und Christen wegen ihres Glaubens nicht mehr verstecken. Die Zeit der Verfolgung hatte aufgehört. Die Zeit der Katakomben- und Untergrundkirchen war vorbei. Gottseidank! Kirchtürme, die sich in den Himmel recken, sie sind bis heute ein unübersehbares und häufig, wie etwa bei einem gotischen Münster, auch ein baulich wunderbar gelungenes Zeichen, das sagen will: Seht her. Es gibt uns. Wir sind da.
Über Jahrhunderte waren es ja die prägenden Kirchengebäude, die den Ansichten unserer Wohnorte ihr besonderes Gesicht gaben. Und das ist der dritte Grund für das Entstehen von Kirchen. Schon von weitem konnte man an der Kirche ablesen, was der Gemeinschaft von Menschen wichtig ist. Dörfer, in deren Mitte eine Kirche steht, Stadtsilhouetten, ganz gleich, ob die von Freiburg mit seinem Münster oder die von Dresden mit der wiedererbauten Frauenkirche, all diese Ansichten zeigen. Die Kirche stand über Jahrhunderte im Mittelpunkt – nicht nur auf dem Stadtplan. Sondern auch in den Herzen. In der Bedeutung, die ihnen für die Menschen zugekommen ist.
Auch heute prägen Kirchen noch viele Ortsansichten. Aber es hat sich Entscheidendes verändert. Die Kirchen stehen da nicht mehr alleine da. Große Wohnblocks und Hochhäuser sind zumindest in den großen Städten dazugekommen. Bürotürme. Bankenpaläste. Wie etwa in Frankfurt. Oder auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Architektonisch häufig bestaunenswerte Wunderwerke. Anziehungspunkte für Touristen.
Zugleich sind das aber auch Beweise der Möglichkeiten menschlicher Schaffenskraft. Schaut her, sagen diese Bauwerke! Zu solcher Größe sind wir fähig. Und plötzlich sehen die Kirchen ganz klein aus im Vergleich zu den Bauwerken dieses Jahrhunderts.
Heute vor einer Woche war es zehn Jahre her, dass in New York die beiden Türme des World Trade Centers in sich zusammengestürzt sind. Die große Betroffenheit war erneut zu spüren. Betroffen sind wir aber nicht nur wegen der 3000 Toten beim Einsturz und den noch viel mehr Toten in den sich anschließenden militärischen Aktionen. Betroffen sind wir, weil da zwei Symbole dieses neuen Selbstbewusstseins in sich zusammengefallen sind. Was menschlicher Geist ersonnen und menschliche Kraft erbaut hatte – menschliche Zerstörungswut und menschlicher Fanatismus haben es in sich zusammenfallen lassen wie ein Kartenhaus. Wie verletzlich sind wir doch in unserem Größenwahn!
Wie gut, dass ihre Kirche überdauert hat. Dass wir Kirchen haben, ist allemal ein Grund zur Dankbarkeit. Sie machen es uns leichter, Gottes Gegenwart zu erfahren und in schönen Gottesdiensten zu feiern. Wie viele Gottesdienste mögen in mehr als fünfhundert Jahren in dieser Andreaskirche gefeiert worden sein? Wie viele Predigten. Wie viele Trauungen und Konfirmationen. Wie viele Worte, mit denen Menschen getröstet wurden.
Unverzichtbar sind Kirchengebäude aber dennoch nicht. Der Tempel Gottes, so haben wir es eben in der Lesung gehört, der Tempel Gottes ist nicht ein Gebäude aus Stein. Der Tempel Gottes, das seid ihr!
Tempel aus Stein und Tempel, gebildet aus der Gemeinschaft derer, die nach Gott fragen und die in ihrem Leben mit Gott rechnen – zwei Weisen, ein Gotteshaus zu verstehe. Zwei Zugänge, die in einem Zusammenhang stehen, aber doch nicht dasselbe meinen. Haus Gottes sind sie beide. Aber zugleich stehen sie in einer Konkurrenz zueinander.
Das eine Haus ist aus Stein und wirklich ein Haus. Das andere ist gewissermaßen ein geistliches Gebäude. Beide gibt es. Aber welcher Tempel, welches Haus Gottes könnte wirklich und zurecht für sich in Anspruch nehmen, das wahre Haus Gottes zu sein?
Um ein ähnliches Verhältnis derselben Begriffe für etwas doch Unterschiedliches geht es auch im Predigttext für diesen 13. Sonntag nach Trinitatis. Wer sind die wahren Verwandten Jesu, wird da gefragt. Wer sind seine Schwestern und Brüder? Ich lese den vorgeschlagenen Predigttext aus Markus 3:
20 Jesus ging in ein Haus. Und da kam abermals das Volk zusammen, so dass sie nicht einmal essen konnten.
21 Und als es die Seinen hörten, machten sie sich auf und wollten ihn festhalten; denn sie sprachen: Er ist von Sinnen. 31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.
32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. 33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? 34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! 35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Wieder eine der Geschichten, in denen Jesus sich als schroff erweist. Als tough, wie man das heute gerne sagt. Mit seiner Mutter hat Jesus schon früher so geredet. In Kana, als der Wein zur Neige ging. „Frau, was habe ich mit dir zu schaffen?“ fragt er da seine Mutter. Und was dann folgte, war ein unübersehbares Zeichen der Fülle und der Kraft des Neuen, als Jesus Wasser in Wein verwandelt.
„Lass die Toten ihre Toten begraben!“, sagt Jesus ein anderes Mal. Zu einem Menschen sagt er das, der bereit ist, alles dran- und aufzugeben. Und ihm nachzufolgen. Er wollte zuvor nur noch seinen Vater beerdigen.
Es ist nicht einfach, diesen Jesus immer zu verstehen. Seinen Geschwistern und seiner Mutter, ihnen wird bei diesem Sohn, bei diesem Bruder so einiges durch den Kopf gegangen sein. Sympathisanten sammelt er um sich. Männer, aber auch Frauen, die mit ihm wohnsitzlos durch Galiläa ziehen. Leute zieht er magisch an. So vielen, dass die Mauern eines Hauses sie nicht mehr fassen können. Ein Verführer der Masse sei er. So sagen seine Gegner. Und zugleich einer, der leichtfertig sein Leben aufs Spiel setzt. Weil er der Obrigkeit zusehends verdächtig wird.
Und Jesu Familie reagiert, wie wir heute auch reagieren würden. „Er ist von Sinnen“, sagen sie. So steht es im Text. Wir würden heute sagen: „Er ist nicht recht bei Verstand. Hat nicht alle Tassen im Schrank. Er spinnt!“ Die Leute bekommen es mit. Und sie sprechen Jesus an.
„Deine Mutter ist da draußen“, sagen sie zu ihm. „Und deine Geschwister. Sie möchten, dass zu ihnen raus kommst.“ Die Leute sind gespannt. Manche wie Schaulustige, die es überall gibt. Andere Vielleicht wollen ihn womöglich warnen. Oder sie wollen sie sehen, wie ernst es ihm ist mit dem, was er da so alles von sich gibt.
Jesus geht nicht nach draußen. Und er bittet seine Mutter und seine Geschwister auch nicht herein. Er macht einfach weiter. Mögen wir in der Kirche bis heute den Wert der Familie hochhalten. Dieser Jesus, der war bestimmt kein Familienmensch. Als Zwölfjähriger schon nicht, als er sich einfach absetzt und im Tempel mit den theologischen Fachleuten diskutiert. Auch hier nicht. Als er seine Familie ganz schön abserviert.
Er schaut sich um. „Ihr, die ihr mir hier zuhört! Ihr, die ihr euch Gedanken macht über den Willen Gottes, ihr seid meine Mutter. Ihr seid mir Schwester und Bruder.“ Nicht nur Tempel Gottes also. Sondern auch Schwester und Bruder dessen, aus dessen Leben uns Gottes Gegenwart entgegenleuchtet.
Wir sollten noch einmal genauer hinschauen. Ich glaube nicht, dass Jesus seine Familie gering geschätzt hat. Um seine Mutter sorgt er sich noch, als sie unter dem Kreuz steht. Es geht um anderes. Es geht darum, wem unsere letzte Loyalität gehört. Es geh darum, auf welche Bindungen wir uns verlassen, wenn wir von allen guten Geistern verlassen sind.
Blut mag dicker sein als Wasser. Und die Verwandtschaft wichtiger als Geschäftsinteressen und Vitamin B. Aber wenn’s drauf ankommt im Leben, wenn wir gefragt sind, was unser einziger Trost im Leben und im Sterben ist, wie es im Heidelberger Katechismus heißt, dann ist es gut, wenn uns noch andere Bande halten als die Familienbande. Dann ist es gut, dass wir noch eine andere Familie haben.
Vor vielen Jahren habe ich einmal eine alte Frau getauft. Eine Woche vor ihrem 87. Geburtstag. Einige Monate zuvor war ihr Mann gestorben. Der Grund dafür, sich taufen zu lassen, hat sie in die Worte gefasst: „Ich will irgendwo dazugehören. Ich brauche eine große Familie.“
Die Familie Gottes. Wir alle gehören also zu dieser großen Familie Gottes. Weil Gott uns für wert hält, seine Kinder zu sein. Es geht nicht einfach um Verwandtschaft. Es geht um Beziehung. Um eine Beziehung, die trägt. Eine Beziehung, auf die wir uns verlassen können. „Ihr seid meine Schwester und meine Brüder. Ihr seid meine Mutter!“
Würdigung ist das. Und Auftrag zugleich. Als Schwestern und Brüder sind wir auch für einander verantwortlich. Weltweit. In der Nachbarschaft. Aber nicht nur. Im selben Dorf. Ganz sicher, Aber eben auch weltweit. Dass wir Schwestern und Brüder sind, das ist der wahre Grund aller Ökumene.
Damit wir aber nicht heimatlos werden, dafür sind Kirchen eine große Hilfe.
Bergende Orte sollen Kirchen sein. Orte, an denen Menschen Schutz finden. In Siebenbürgen habe ich vor einigen Wochen einige Kirchenburgen besucht. Die ältesten schon 800 Jahre alt. In diese Kirchenburgen konnten sich ganze Ortschaften mit Mensch und Tier zurückziehen, wenn sie von Feinden bedroht waren.
Kirchen sind aber nicht nur Burgen, die wir verschließen. Kirchen sind auch Orte, an denen wir gestärkt werden. Orte der Einkehr. Für Leib und Seele. Orte, an die wir andere einladen. An denen wir Nestwärme verspüren können. An denen wir Feste feiern. An denen wir den Mut haben, Neues kennen zu lernen. Auch neue Menschen, die auch zur Familie gehören. Und von denen wir vorher noch nicht begegnet sind. Gerade weil sie Schutzräume und Gastlokale sind, gerade deshalb sind Kirchen offene Orte.
Es ist wichtig, solche Orte mit Liebe zu pflegen. Baulich, so wie sie es eben getan haben. Aber auch mit der Kraft unserer Zuwendung und Liebe.
Liebe Gemeinde in Dietlingen: Ich wünsche ich ihnen neue und schöne Erfahrungen an diesem Ort der Bewahrung und des Schutzes. An diesem Ort der Einkehr. An dieser Herberge auf dem Weg. Als Gottes Volk sind sie in Gottes Haus willkommen. Als Gottes Volk können sie sich hier Schwester und Bruder sein.
Darum gibt es heute Grund genug zum dankbaren Feiern. Und es lässt uns singen. Amen.