PREDIGT ÜBER HEBRÄER 12,1+2
GEHALTEN IM JUBILÄUMS-GOTTESDIENST
40 JAHRE LUTHERGEMEINDE ETTLINGEN
AM SONNTAG, DEN 11. NOVEMBER 2012
IN DER LIEBFRAUENKIRCHE IN ETTLINGEN-WEST

11.11.2012
Liebe Gemeinde!

Seit 40 Jahren trägt die Luthergemeinde Ettlingen den Namen des großen Reformators. Am heutigen 11. November, am Tauftag Ihres Namenspatrons, feiern Sie das Gedenken an die Gemeindegründung und vor allem an die Namensgebung. Dazu auch von mir die herzlichsten Glückwünsche.

Ich muss ja nicht eigens betonen, dass ich das mit guten Gedanken und mit schönen Erinnerungen tue. Ich war sehr gerne Pfarrer dieser Gemeinde. Und ich freue mich, dass es immer wieder solche Gelegenheiten der Begegnung und des miteinander Feierns gibt.

Einen eigenen kleinen Anlass zum Feiern habe ich heute auch selber. Der 11. November ist mein Ordinationstag. Und da ich damals nicht um halb 5, sondern um 11 Uhr 11 auf der Kanzel gestanden bin, ging es in meiner Predigt um Närrisches, konkret um die Narren in Christus, über die man ja bei Paulus einiges finden kann.

Biblische Zugänge zum Anlass dieses Feststages gibt es mehr als nur einen. Neben dem Datum des 11.11. wäre es das Motiv der 40 Jahre. Nach 40 Jahren Wüstenzeit erreichen die Israeliten das gelobte Land. Nach 40 Tagen strengen Fastens besteht Jesus die große Versuchung. Die Zahl 40 schließt eine Etappe großer Herausforderungen ab. Und erschließt den Zugang zu einer neuen Zukunft.

Das diese auch für die Luthergemeinde gelten möge, ist heute natürlich mein großer Wunsch. Und an Herausforderungen mangelt es keineswegs. Aber heute soll die Erinnerung an Martin Luther Priorität haben. Daher habe ich als Predigttext einen einzigen Vers aus der Lesung aus dem Hebräerbrief ausgewählt, die wir vorhin gehört haben. Dort heißt es:

Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.

Eine Wolke von Zeuginnen und Zeuginnen! Im Hebräerbrief beginnt die Reihe mit Abel, dessen Opfer bei Gott auf Gefallen stößt. Und sie endet bei David, Samuel und den Propheten. Nach hinten ist diese Reihe offen. Und wir können sie verlängern und ergänzen. Und fortsetzen bis in die Gegenwart. Bekannte und unbekannte Namen. Frauen und Männer. Mutig Bekennende und Anhängerinnen und Anhänger voll Furcht und Zittern.

Eine Wolke der Zeuginnen und Zeugen. Die Wolke, das ist der Ort der Erinnerung. Ein Bild für all diejenigen, die für uns Vorbilder im Glauben waren. Und die deshalb nicht vergessen sind. Dem unbekannten Verfasser des Hebräerbriefes war sicher nicht bewusst, dass sein Bild von der Wolke als Ort der Erinnerung zweitausend Jahre später neu Kariere machen würde. Wenn auch mit englischem Namen.

Computer-Daten werden heute in der Cloud gesichert. Die Cloud, die Wolke, das meint auch in der modernen Variante nichts anderes als einen Ort des Gedächtnisses. Die Wolke der Zeuginnen und Zeugen, das ist der Ort, an dem unser Gedächtnis und Gottes Erinnerung sich berühren. Wer aufbewahrt ist in der Wolke, der bleibt bei den Menschen im Gedächtnis, weil Gott keinen Menschen aus der Erinnerung fallen lässt.

Viele Kirchengebäude und Kirchengemeinden sind mit ihren Namen zu Orten des Gedächtnisses geworden: Zu Möglichkeiten, einen Blick in die Wolke der Erinnerung zu werfen. In der Tradition der römisch-katholischen Kirche wurde und wird die Ehre der Namenserinnerung vor allem denen zu teil, die man als Heilige verehrt.

Die evangelische Kirche kennt keine Heiligen. Aber ohne eine große Wolke von Zeuginnen und Zeugen ist auch unser evangelischer Glaube nicht zu denken. Unsere evangelischen Kirchengebäude haben aber zunächst einmal keine Namen getragen. In den ländlichen Regionen, vor allem da, wo es in einem Ort nur eine evangelische Kirche gibt, ist das lange Zeit so geblieben. Da gib es einfach nur die evangelische Kirche in – und dann folgt der Ortsname.

Als es in den größer werden Gemeinden plötzlich zwei oder mehr Kirchen gibt, kommen die Gemeinden um eine Namensgebung nicht mehr herum. Der Pool der Namen, auf die man zurückgreift, ist zunächst sehr überschaubar. Man wollte den eigenen theologischen Prinzipien treu bleiben. Und keine Menschen wegen ihres Glaubens herausheben. Wie schon gesagt. Wir Evangelischen haben ja keine Heiligen.

Die evangelische Hauptkirche, das war meist die Christuskirche. Das kann man auch in unserer Landeskirche in allen größeren Städten feststellen. Die Christuskirchen in Karlsruhe, Freiburg, Mannheim oder Heidelberg haben ihre Namen alle erst gegen Ende des 19. oder am Beginn des 20. Jahrhunderts erhalten. Vorher hat sich das Problem der Namensnennung gar nicht erst gestellt.

Danach folgten die Namen der Evangelisten. Deren Leben lag so weit zurück und ihre Bedeutung war so unbestritten, dass man keine Sorge hatte, Kirchen nach ihnen zu benennen. Ettlingen hat eine Johannes-Kirche. Und in Ihrer Gemeinde war wohl der Evangelist Lukas der große Konkurrent für Martin Luther bei der Namensauswahl.

Aber irgendwann war auch dieser Vorrat erschöpft. Und der Kreis weitete sich. Namen aus dem Kreis der Jünger Jesu werden ausgewählt. Petruskirchen, Jakobuskirchen, Matthäuskirchen werden gebaut.

Ereignisse aus dem Leben Jesu kommen dazu. Etwa in der Namensgebung Auferstehungskirche. Das zentrale christliche Symbol führte zum Bau von Kreuzkirchen. Die Theologie veranlasste den Bau von Trinitatiskirchen. Oder auch von Zionskirchen.

Auch die Erinnerung an bedeutende Ereignisse der Kirchengeschichte half bei der Namenssuche. Etwa bei der Unionskirche in Mannheim, die an die badische Kirchenunion von 1821 erinnert. Oder bei der Namensnennung Konkordienkirche, die man ebenfalls in Mannheim findet. Dieser Name soll auf die ökumenische Verpflichtung zur Einheit verweisen.

Heute ist die Zurückhaltung bei der Namensnennung einer liberalen Großzügigkeit gewichen. Zeuginnen und Zeugen des Glaubens aus allen Epochen der Kirchengeschichte kamen und kommen dazu. Dietrich Bonhoeffer wird da wohl eine Spitzenstellung einnehmen, was die Zahl der nach ihm benannten Kirchen angeht. An Johann Friedrich Oberlin sei erinnert, der der Namenspatron des hiesigen Oberlinhauses war.

Problematische Entwicklungen blieben nicht aus: Dem Landesherren hat man gedankt, indem man Kirchen nach ihnen benannte. Die wohl bekannteste Kirche ist hier die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Zur Karl-Friedrich-Gedächtniskirche in Karlsruhe-Mühlburg ist es aber weit näher.

Gottseidank sind auch Frauen dazugekommen. Da waren uns die römisch-katholischen Geschwister mit der großen Zahl von weiblichen Heiligen weit voraus. Am beliebtesten ist bei uns Evangelischen hier wohl Maria Magdalena. Ein ökumenisches Kirchenzentrum in Freiburg, in dem wir 10 Jahre beheimatet waren, trägt etwa ihren Namen.

Evangelische Marienkirchen gibt es aber nur da, wo diese Kirchen schon vor der Reformation diesen Namen getragen hatten. Es wird höchste Zeit, dass wir als Protestantinnen und Protestanten auch zu Maria, der Mutter Jesu, wieder einen unverkrampften Zugang finden. Martin Luther, ihr Namenspatron, hatte da wenig Probleme. Und dass das Jubiläum einer Luthergemeinde in einer Liebfrauenkirche gefeiert wird, das macht auch unter diesem Vorzeichen durchaus Sinn.

Eine bedeutende Gruppe der Namenspatrone evangelischer Kirchen habe ich bislang übergangen. Nach den biblisch motivierten Namen, aber noch lange vor den Namen modernerer Herkunft, waren die Reformatoren beliebte Namenspatrone. Zuallererst und zuallermeist Martin Luther. Daneben, aber mit deutlichem Abstand Philipp Melanchthon.

Die Reformatoren waren immer unumstrittene Namenspatrone. Ohne ihr Wirken gäbe es diese besondere Tradition des Glaubens in der einen weltweiten Kirche Jesu Christi nicht. Und darum verdanken sich viele Kirchbauten überhaupt erst ihrem Wirken.

Was die Mütter und Väter im Glauben hier in Ettlingen im Jahre 1972 konkret bewogen hat, aus der großen Wolke der Zeuginnen und Zeugen dieser neuen Gemeinde den Namen Martin Luthers zu geben – ich weiß es nicht. Vielleicht wollte man Flagge zeigen als Evangelische im zunächst doch stark katholisch geprägten Ettlingen. Vielleicht war Luthers Name das Ergebnis eines Kompromisses.

Aber nun trägt die Luthergemeinde diesen Namen. Und eigentlich will ein Name doch mehr sein als nur ein Zierrat. Nomen est omen sagt das Sprichwort. Der Name ist Programm.

Bei aller Wertschätzung. Leicht hat es uns dieser Reformator nicht immer gemacht. An ihm kann man sehr schön sehen, warum wir Evangelischen keine Heiligen haben. Licht und Schatten gehören immer zusammen. Auch bei uns Menschen.

Ich erinnere mich an einen Artikel, den ich zu meiner Zeit als Pfarrer dieser Gemeinde über Luthers Wort-Gewalt geschrieben habe. Sein Aufruf an die Fürsten, den Bauernaufstand niederzuwerfen, hat Luther schon heftig in Misskredit gebracht. Maßlos, verletzend und fatal habe ich diese Seite an Luther damals genannt.

Aber die Verdienste überwiegen die dunklen Anteile. Martin Luther gehört in die Reihe der ganz Großen der Geschichte der Kirche. Und muss dazu gar kein Heiliger sein. Gemeinsam mit den Lutherpfarreien in Karlsruhe und Durlach haben wir 1996 mitten unter den Todesanzeigen eine Erinnerungsanzeige in den BNN veröffentlicht. Wir wollen am 450. Todestag zu den Verdiensten des Reformators nicht schweigen.

Martin Luthers Programm lässt sich in drei Sätzen zusammenfassen: Der erste Satz, der er seinen Studenten schon früh mit auf den Weg gab: „Heute habt ihr die Bibel!“ Und nicht den Studenten allein wollte Luther die Bibel mit auf den Weg geben. Sondern allen, die zur Kirche Jesu Christi gehören. Luthers Bibelübersetzung hat Sprachgeschichte geschrieben. Und hat den Besitz der Bibel demokratisiert. Bis heute.

Luthers zweiter Satz: „Alles, was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, es sei schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht.“ Allgemeines Priestertum nennen wir diesen Gedanken. Oder Priestertum aufgrund der Taufe. Einen Unterschied zwischen den Getauften in der Kirche kennt Luther nicht. Kein Bischof, kein Pfarrer kann sich höherer Weihen rühmen. Tatsächlich liegt hier, im Amtsverständnis, der letzte wirkliche ökumenische Stolperstein. Aber auch der wartet darauf, dass wir ihn aus dem Weg räumen.

Luthers dritter Satz: „Auf einmal erkannte ich, dass Gerechtigkeit Gottes eine fremde, mir zugesprochene Gerechtigkeit meint. Da fühlte ich mich so, als sei ich durch die Pforten in das Paradieses selber eingetreten.“ Luther entdeckt für sich die Rechtfertigung allein aus Glauben. Als Theologe der Rechtfertigung hat Luther die Theologie aus den Angeln gehoben. Um nichts weniger geht es ihm als darum als jeden Menschen wissen zu lassen: Du bist Gott recht!“

495 Jahre ist das her, seit Luther seine Erkenntnis in Thesenform an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen hat. Und in einer großen Kampagne bewegt sich die evangelische Kirche auf dieses Jubiläum zu. „Am Anfang war das Wort!“ Das ist das Motto dieser Kampagne. Und die Botschaft dieses Wortes bricht sich Bahn in zentralen Themenjahren. Im Jahr der Taufe im vergangenen Jahr. Dieses Jahr im Jahr der Kirchenmusik. Das kommende Jahr gilt dem Thema der Toleranz. Und dem 450. Geburtstag des Heidelberger Katechismus.

Am Anfang war das Wort! Dieses Motto war zugleich das Leitwort der Synode der EKD, die in der vergangenen Woche am Timmendorfer Strand getagt hat. Martin Luther, da bin ich sicher, er würde sich verwundert die Augen reiben, wenn er mitbekäme, was für ein Aufwand da betrieben wird. Er wäre auch dagegen, dass eine Gemeinde seinen Namen trägt. Martin Luther wollte kein Held sein und kein Heiliger. Nichts anderes wollte er sein, als ein Prediger des Evangeliums von der Rechtfertigung aus Glauben.

Der Rückblick auf 40 Jahre Luthergemeinde ist kein Blick auf 40 Jahre, in denen es nur stetig aufwärts gegangen wäre. Christin zu sein und Christ, das ist ohnedies keine Aufwärtsbewegung, sondern eine Annäherungsbewegung. Eine Annäherung an die, mit denen wir als Schwestern und Brüder gemeinsam Kirche sind. Und manche der Enttäuschen und der Kränkungen auf dem Weg durch diese 40 Jahre habe ich selber wahrgenommen. Anders entzieht sich meiner Kenntnis.

Doch 40 Jahre Luthergemeinde, das waren allemal und zuallererst Jahre, die den dankbaren Rückblick rechtfertigen. Vieles, was Mut gemacht hat. Viele Aufbrüche. Große und Kleine. Gruppen und Kreise unterschiedlichster Ausrichtung. An einen Kreis wird ja die Verabschiedung von Frau Czychi gleich erinnern. Projekte im Dienst an den Menschen, zu denen auch der Gemeindebrief gehört, den ich immer mit großer Aufmerksamkeit lese.

Und nicht zuletzt auch die ökumenischen Annäherungen, die mir in bester Erinnerung sind. Die Gastfreundschaft, die sie hier in Liebfrauen erleben, sie ist ein Projekt, am dem der liebe Gott sicherlich seine Freude hat. Konfessionen haben schließlich die Menschen erfunden. Und der liebe Gott wird es uns nicht abnehmen, die Grenzen auf dem Weg zu Einheit durchlässig er und am Ende dann auch überflüssig zu machen. Es ist darum auch unsere Aufgabe, die Einheit der Kirche nicht aus dem Blick zu verlieren.

Und nun – im 41 Jahr mit seinem Namen? Kommt jetzt der Aufbruch ins gelobte Land? Ja, aber anders als wir es uns vielleicht eingestehen wollen. Das gelobte Land finden wir als Kirche – und finden Sie als Luthergemeinde - nirgends anders als da, wo der Satz gilt: „Mein Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ Das ist ja die Jahreslosung für dieses Jahr 2012.

Und dieser Einsatz für die Schwachen – es ist ein Einsatz im Sinne Martin Luthers. „Denn“, so schreibt Luther einmal, „Gott liebt uns nicht, weil wir schön sind. Sondern wir sind schön, weil Gott uns liebt.“ Und diese Schönheit zu entdecken, diese Schönheit um Gottes willen, darauf kommt es auch in Zukunft an. Und Sie wissen alle hier besser als ich, wer auf unsere Solidarität und auf unsere Unterstützung als Kirche ganz besonders angewiesen ist. Gerade hier vor Ort

Heute – und schon dieses ganze Wochenende - ist aber erst einmal das Feiern angesagt. Im dankbaren Rückblick für diese Wolke der Zeuginnen und Zeugen. Den Zeugen und Namenspatron Martin Luther. Die zahleichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter all die Jahre hindurch. Und alle, die zu dieser Luthergemeinde gehört haben und gehören.

Nichts Besseres kann uns geschehen, als dass wir alle unseren Platz in dieser Wolke der Zeuginnen und Zeugen finden.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.