PREDIGT ÜBER LUKAS 9,10-17
GOTTESDIENST 75 JAHRE MARKUSKIRCHE
IN MANNHEIM

14.07.2013
Liebe Gemeinde!

Kraftorte des Glaubens! Und Kraftorte des Lebens. Immer wieder sind wir nach solchen Orten auf der Suche. Kraftorte des Glaubens. Und Kraftorte des Lebens. Immer wieder finden wir sie auch. Gottseidank!

Es gibt ganz unterschiedliche solcher Kraftorte. Die Musik, so wie wir sie hier im Gottesdienst mit der Messe von Franz Danzi hören, kann zu einem solchen Kraftort werden. Ein offenes Gespräch, in dem mir jemand Mut und Wegweisung zuspricht, kann zu einem solchen Kraftort werden. Die Familie und die Gemeinschaft von Menschen, mit denen ich lebe.

Kraftorte, ganz persönliche Kraftorte, es gibt sie überall da, wo wir Menschen leben. In der näheren Umgebung, ein Baum, ein Stück Wiese, ein Berggipfel. Oder zu Hause in der Wohnung oder draußen im Garten – überall kann es den Ort geben, der mir irgendwie bedeutsam, irgendwie heilig ist. An dem ich mich wohl fühle und geborgen. An den ich mich zurückziehe, wenn mir wieder einmal alles zuviel ist. Der ganze besondere Schutz- und Kraftort, an dem ich mich bergen kann.

Solche Kraftorte sind auch unserer Kirchen. Auch diese Markus-Kirche. 75 Jahre wird sie in diesem Jahr alt. Am 24. Juli des Jahres 1938 ist sie durch Oberkirchenrat Bender eingeweiht worden. Geplant vom Architekten Max Schmechel ist diese Markuskirche in nur 8 Monaten fertiggestellt worden. Kürzer als der Zeitraum, in dem ein neuer Mensch heranwächst,. Ein baulicher Kraftakt hat diesen Kraftort erst möglich gemacht.

Zu Ihrem heutigen Jubiläum möchte auch ich Ihnen von Herzen gratulieren. Ganz persönlich. Aber auch im Namen der Evangelischen Landeskirche und des Evangelischen Oberkirchenrates. Möge diese Kirche auch in Zukunft ein Kraftort des Glaubens und Lebens sein!

Zwei Dinge fallen mir spontan ein, wenn ich das Alter ihrer Kirche in den Blick nehme. Zum einen: Mit 75 Jahren ist ihre Kirche ein junges Geschwisterkind in der Schar der Kirchen überhaupt. 75 Jahre – das ist gerade der Durchschnitt der Dauer eines Menschenlebens hier in unseren Breiten. 1000 Jahre und älter sind manche der großen alten Dome und Kathedralen. Aber wenn wir einmal ausrechnen wollten, wieviele Tausend Gottesdienste in diesen 75 Jahren hier gefeiert wurden, wieviele Menschen hier getauft, konfirmiert, getraut wurden, dann würde uns schnell klar, wieviel an Kraft von dieser Kirche ausgegangen ist.

Das zweite: Der Bau ihrer Kirche fällt in eine dunkle Epoche der Geschichte unseres Landes. Die Einweihung findet 5 Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten statt. Und ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Jenes Krieges, der auch von dieser Kirche nur noch die Mauern übrig lassen wird. Düstere, ja dunkle Zeiten waren das. In dunklen Zeiten sind Kraft- und Lichtorte besonders nötig. Zumal dann, wenn man, wie viele Menschen damals, die Kraft aus der Gefühl der nationalen Überheblichkeit schöpfen wollte, anstatt aus dem Wissen um die Würde, Mensch zu sein im Angesicht Gottes.

Kraftort zu sein im Widerstand gegen alle Mächte und alle Möglichkeiten des Zerstörerischen und des Bösen, dazu ist dieser Ort Verpflichtung. Und solche Kraftorte sind heute nicht weniger nötig als vor 75 Jahren. Auch wenn das Böse heute oft in anderen Gewändern daherkommt und andere Masken trägt.

Um einen Kraftort des Glaubens und des Lebens geht es auch im heutigen Predigttext. Und dieser Text passt wunderbar zu diesem Jubiläumsgottesdienst. Hört also auf diesen Text aus dem 9. Kapitel des Lukas-Evangeliums.

Und die Apostel kamen zurück und erzählten Jesus, wie große Dinge sie getan hatten. Und er nahm sie zu sich, und er zog sich mit ihnen allein in die Stadt zurück, die heißt Betsaida. Als die Menge das merkte, zog sie ihm nach. Und er ließ sie zu sich und sprach zu ihnen vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung bedurften. Aber der Tag fing an, sich zu neigen. Da traten die Zwölf zu ihm und sprachen: Lass das Volk gehen, damit sie hingehen in die Dörfer und Höfe ringsum und Herberge und Essen finden; denn wir sind hier in der Wüste. Er aber sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen: Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, dass wir hingehen sollen und für alle diese Leute Essen kaufen. Denn es waren etwa fünftausend Mann. Er sprach aber zu seinen Jüngern: Lasst sie sich setzen in Gruppen zu je fünfzig. Und sie taten das und ließen alle sich setzen. Da nahm er die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel und dankte, brach sie und gab sie den Jüngern, damit sie dem Volk austeilten. Und sie aßen und wurden alle satt; und es wurde aufgesammelt, was sie an Brocken übrig ließen, zwölf Körbe voll.

Was für eine Geschichte! Prallvoll von Energie und Kraft. Beginnend in der Kargheit des Hungers endet sie in der Fülle des Überfließenden. Mehr als genug bleibt am Ende übrig.

Mit dieser Geschichte von der Speisung der Tausende muss den Menschen damals nicht anders gegangen sein. Gleich sechsmal wird sie in nur vier Evangelien erzählt. Das eine Mal sind es Viertausend, das andere Mal Fünftausend, die satt geworden sind. Das eine Mal werden Frauen und Kinder mitgerechnet, das andere Mal nicht. Das eine Mal reichen sieben Brote für alle, das andere Mal wie bei Lukas sind es fünf Brote und zwei Fische. Sieben Körbe sind es beim einen Mal, die übrig bleiben. Zwölf sind es bei dem Bericht des Lukas, um den es heute geht.

Eine Bericht der überfließenden Fülle ist das. Ein Bericht des darüber hinaus. Ein Hinweis auf den Mehrwert des Lebens, mit dem Gott uns Menschen beschenkt.

Es gibt mehrere Wege, uns diesem Bericht der Speisung der vielen anzunähern. So wie es im Leben immer mehrere Wege gibt. Es ist ein Wunder! – könnten wir sagen. Wo unsere Vorräte nichts mehr hergeben und leer geworden sind – da, wo Menschen am Ende sind – da verwandelt sich das Ende in einen Neubeginn. Gott schafft - aus dem Nichts! Nicht anders, wie schon auf der ersten Seite der Bibel.

Es ist ein Wunder! Und mir bleibt nur das Eingeständnis, dass uns dieses Wunder nicht gelingt. Dass alle zwei Sekunden ein Mensch auf dieser Erde an Hunger stirbt. Und das, obwohl wir alle Mittel und Wege hätten, dass alle satt werden. Wenn wir diese denn nur auch alle wollten! Es ist ein Wunder! Das stimmt. Aber es ist dann immer noch nicht unsere – meine Geschichte.

Es ist eine Geschichte des heilsamen Verzichts und des solidarischen Teilens – könnten wir sagen. Weil die einen, die wenig haben – fünf Brote und zwei Fische – weil diese wenigen hergeben, was sie haben. Weil diese wenigen verzichten und teilen, werden am Ende alle satt. Weil die Jünger die Verteilung in die Hand nehmen; weil sie dafür sorgen, dass alle von allem bekommen und nicht die einen zuviel erhalten und die anderen leer ausgehen – deshalb reicht es für alle.

Es ist eine Geschichte des solidarischen Teilens könnten wir sagen. Und hätten nicht einmal Unrecht. Wenn wir all das, was wir haben an Schätzen auf dieser Erde – Rohstoffe und Wissen, Nahrungsmittel und Vermögen – wenn wir uns die Einsicht bewahrten, dass wir’s nicht alles selber erschaffen und erworben haben, sondern dass es uns ein anderer hat gelingen lassen – dann wäre das, was wir haben auf diesem Planeten mehr als genug für alle – wenn wir es denn nur wirklich wollten.

Es ist eine Geschichte der Gottesbegegnung – könnten wir sagen. Und wenn wir den Predigttext nicht anschauen wie ein herausgeschnittenes Bild, sondern wie einen Ausschnitt aus einer großen Collage des Lebens – dann werden wir sehen, dass auch das richtig ist. Dem Text voraus geht nämlich das ungläubige Staunen des Herodes. Herodes, dem weltlichen Machthaber, kommt Erstaunliches zu Ohren. Da zieht einer durch die Lande, der Stumme zum Reden bringt und Blinde zum Sehen. Einer der den Armen Zukunft ansagt und der Kleingemachte wieder aufrichtet.

Wen wundert’s, dass Herodes unruhig wird und fragt: „Wer ist dieser, über den ich solches höre?“ Wer ist dieser? Und die Antwort auf diese Frage ist dann der Bericht von dem, der die Hungrigen satt macht. Und dem das Wenige dafür ausreihend ist.

Und wie zur Bestätigung fragt Jesus gleich in der Fortsetzung des Predigttextes seine Jünger: „Für wen halten mich denn die Leute? Für wen haltet denn ihr mich?“ Und dann folgt die berühmte Antwort des Petrus: „Du bist der Christus Gottes!“ Oder in unserer Sprache: Du bist der, in dem Gottes Gegenwart, ja in dem Gott selber unter uns aufleuchtet.

So verstanden ist dieser Predigttext auch also Antwortgeschichte. Er antwortet auf die Frage, wer denn gemeint ist und um wen es denn geht, wenn Menschen erzählen, diese Geschichte vom wundersamen Sattwerden erzählen.

Und darum ist diese Geschichte auch eine Kraftort-Geschichte. Mehr noch: Sie ist vor allem anderen eine Kraftortgeschichte. Auf das Wunder kommt’s am Ende nicht an. Zumindest hier nicht. Und auch nicht auf die Fürsorge für die Hungrigen. Dass die Menschen Hunger haben – davon spricht der Text übrigens mit keinem Wort.

Das Entscheidende ist, dass die Menschen Sehnsucht haben nach der Quelle der Kraft. Dass die Menschen auf der Suche sind, nach dem Menschen, vom dem sie sich Antworten erhoffen. Jesus zieht sich in die Einsamkeit zurück. Doch die Menschen ziehen ihm nach. Die Menschen suchen. Und sie werden fündig. Sie kommen aus der Erfahrung der Kargheit und des Zuwenig. Und sie finden die Körbe der Fülle und des Darüber hinaus.

Darum ist diese Geschichte eine Geschichte der erfüllten Sehnsucht. Eine Geschichte der Verwandlung des Kargen in Fülle. Eine Geschichte der neu geöffneten Augen. Da ist der eine, der nichts hat als die Kraft seines Wortes. Und als sie satt sind, erkennen die Menschen, was Lukas den Petrus aussprechen lässt: Du bist der Christus Gottes!

Eine wunderbare Geschichte für das festliche Jubiläum einer Kirche. Eine wunderbar passende Geschichte für einen Ort, an dem nichts anderes geschehen soll als dass Menschen suchen. Und finden. Und satt werden. „Jesus nahm die Brote, dankte, brach sie und gab sie den Jüngern.“ Genauso lauten die Worte in dieser Kraftort-Geschichte. Jesus nahm, dankte und brach – sie kennen diese Worte. Aus der Feier des Abendmahls. Viele tausendmahl wird in dieser Kirche auch Abendmahl gefeiert worden sein. Mit eben diesen Worten.

Die Kirche, ihre Markuskirche, das ist der Ort, wo diese immer wieder neu zur Erfahrung werden kann. Der Ort des Wunders. Der Ort des solidarischen Teilens. Der Ort der Gottesbegegnung. Ihre Markus-Kirche – ein Kraftort des Glaubens. Und ein Kraftort des Lebens.

Da entsteht nach dem ersten Weltkrieg hier ein neuer Stadtteil. Und als er groß genug ist, bauen die Menschen eine Kirche. Ein Raum der Begegnung der Menschen und ein Raum der Gottesbegegnung zugleich. Kirchen, Kirchengebäude haben eine konzentrierende und orientierende Wirkung für ein neu entstehendes Wohngebiet. Übrigens ist das heute nicht anders. Mit meiner Familie habe ich Freiburg in einem Neubaustadtteil gewohnt. Einem Stadtteil noch mitten im Entstehen. Und neben Schulen und Sportzentrum, neben Bürgerhaus und Straßenbahn war die Kirche ein Ort der neu entstehenden Identität. Ein Kraftort des Lebens. Und eben auch ein Kraftort des Glaubens.

Jedes Kirchengebäude ist ein steinerner Hinweis, dass wir’s nicht einfach alleine vermögen. Dass uns ein anderer das Brot bricht. Und austeilt. Und dass es das Leben gut mit uns meint. In Kargheit. Und in Fülle. Jedes Kirchengebäude erinnert uns daran, dass wir leben von dem, was uns unsere Altvorderen überlassen und übergeben haben. Im Guten gilt das. Aber auch im weniger Guten. Um nicht zusagen im Bösen. Und darum sollte jedes Entscheidung, die wir treffen, im Kleinen und im Großen, hier vor Ort und in der großen Politik sich diese Frage zuallererst stellen: Was bleibt davon übrig für die, die nach uns kommen? Lasten oder Körbe, gefüllt mit dem, was wir weiterzugeben haben.

Ihre Vorfahren hier haben Ihnen diese Markus-Kirche weitergegeben. Mit der damit verbundenen Verantwortung der Baulast. Aber auch mit dem großen Auftrag, Menschen satt zu machen: mit schönen Gottesdiensten. Mit dem gesprochenen und dem gesungenen Wort. Aber allemal mit der Zusage: „Sie aßen und wurden alle satt. Und es war noch genug übrig“.

Hegen und pflegen sie diesen Kraftort des Glaubens. Hegen und pflegen sie all die anderen Kraftorte, die sie leben lassen. Bleiben sie gewahr, dass ihnen die großen Fragen des Lebens nicht erspart bleiben: Woher komme ich? Und wohin gehe ich? Warum ich? Und wie lange noch? Wer tröstet mich, wenn ich traurig bin. Wo kann ich meinen Dank aussprechen, wenn mir etwas gelungen ist?

Wie gut, dass es diese Orte gibt, wo das Brot geteilt wird. Und wo die Lieder der Hoffnung gesungen werden.

Wie gut, dass wir immer wieder entdecken: Gott ist in unserer Mitte. Weil Gott will, dass wir genug haben. Und satt werden. Das lasst uns weitersagen. Auch im 76. Jahr dieser Markuskirche. Und noch lange darüber hinaus. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.