PREDIGT
ZUR KANTATE 2 DES WEIHNHACHTSORATORIUMS
VON JOHANN SEBASTIAN BACH
AM 26. DEZEMBER 2013 (2. WEIHNACHTSTAG)
IN DER STADTKIRCHE IN SCHWETZINGEN

26.12.2013
Sind sie schon wieder in der Wirklichkeit zurück, liebe Gemeinde! Gerade nach dieser zweiten Kantate braucht es einige Zeit, um die Wirklichkeit um uns herum wieder neu wahrzunehmen. Diese zweite Kantate führt einem ja wahrhaftig vor die offenen Pforten des Himmels.

Das war bei der ersten Aufführung dieser Kantate sicher nicht viel anders. Erstmalig erklang diese Kantate am 26. Dezember 1734 in Leipzig, also vor genau 279 Jahren. Und das gleich zweimal. Am Vormittag und am Nachmittag. Einmal in der Thomaskirche. Zum anderen in der Nikolaikirche.

Die Leipziger Nikolaikirche, das ist die Kirche, die mit ihren Friedensgebeten den Zusammenbruch der DDR eingeleitet hat. Die revolutionäre, alles verändernde Kraft dieser Musik scheint also bis heute in den Mauern dieser Kirche zu stecken.

Wer es einmal mit dem Himmel zu tun bekommen hat, kann hinter diese Erfahrung nicht mehr zurück. Wenn wir aus dem Himmel zurückkommen zu Erde, dann ist alles anders. Nein, nicht die Welt um uns herum. Die ändert sich nicht über Nacht. Anders, neu geworden, sind uns Hoffnungen. Anders, neu geworden, sind unsere Träume. Anders, neu geworden ist auch unser Handeln. Wer aus dem Himmel zurückkommt, den hält es nicht mehr. Wer aus dem Himmel zurückkommt, der macht sich auf den Weg. Und er erkennt: Die Welt um mich herum – sie trägt die Spuren des Himmels an sich – die Welt, wie auch immer sie sich uns zeigt, – sie ist trotz allem nichts anderes als ein Spiegel des Himmels

Das war damals schon so, in den weihnachtlichen Tagen. Maria lässt sich auf das große Abenteuer ein mit diesem Kind, dessen Lebensweg sie noch nicht einmal erahnen kann. Josef übernimmt plötzlich Verantwortung. Steht zu seiner schwangeren Verlobten. Wagt die Flucht, um in Ägypten Asyl zu beantragen.

Und die Hirten: die lassen es gut sein mit ihrem Hirtendienst. Sie machen sich auf, um zu sehen, wovon der Engel gesprochen und gesungen haben. Wenn alles anders wird, muss sich das doch auch in der Musik wiederspiegeln. Und das tut es ja wahrhaftig auch!

Darum ist diese zweite Kantate eine besondere Kantate. Bis auf zwei Arien hat Bach sie neu komponiert. Große Themen sind ohne großen Aufwand eben nicht zu bearbeiten und ins Leben zu ziehen. Und die Kantate hat ein großes Thema! Sie beginnt mit der Sinfonia, die wir auch schon am Beginn des Gottesdienstes gehört haben. Keine andere Kantate im Weihnachtsoratorium beginnt mit einem reinen Instrumentalstück. Es ist überhaupt das einzige Instrumentalstück im gesamten Weihnachtsoratorium. Die anderen fünf Kantaten werden immer vom Chor eröffnet.

In der zweiten Kantate ist eben alles anders. Wenn der Himmel sich zu Wort meldet, ist für die Menschen erst einmal Schweigen angesagt. Die Sinfonia kommt im Gewand einer Hirtenmusik daher. Schon hier klingt also an, dass der Himmel wohl eine Vorliebe für die Hirten hat.

Streicher und Flöten lassen uns die himmlischen Klänge erahnen. Die Oboen erinnern an die Schalmeien, mit denen sich die Hirten die Zeit vertreiben. Himmel und Erde stehen sich noch gegenüber. Das ändert sich dann im Schlusschoral. Dann finden beide endgültig zusammen. Aber so weit sind wir noch nicht.

Warum eigentlich die Hirten? Warum spielen sie eine so herausragende Rolle im weihnachtlichen Geschehen? Warum sind es Hirten, zu denen sich die Engel auf den Weg machen? Warum sind Hirten das Ziel, wenn sich der Himmel auf die Erde niederlässt – wenn Himmel und Erde sich berühren?

Die gängige Antwort lautet: Die Hirten stehen im Zentrum, weil sie zu den Randgruppen der damaligen Gesellschaft gehörten. Die Hirten, das sind die Außenseiter. Gefürchtet waren die Hirten auf alle Fälle. Ihr Leben draußen vor der Stadt, ihre Unbehaustheit, ihr täglicher Kampf gegen die Mächte der Natur und gegen die Bedrohung durch wilde Tiere – all das machte sie verdächtig. Wer anders als diese wilden Gesellen sollte die erste Adresse abgeben, wenn die Nachricht unter die Leute gebracht werden soll: „Euch ist heute der Retter geboren!“

Aber warum dann nur die Hirten? Jesus selber hat sich auch mit zwielichtigen Menschen umgeben. Aber das waren die verhassten Steuereinnehmer, die Zöllner. Das waren die gefürchteten Lepra-Kranken, die Aussätzigen. Das waren die gemiedenen Prostituierten, die Sünderinnen. Aber sie alle bleiben im weihnachtlichen Geschehen außen vor.

Ich glaube, mit den Hirten hat es noch einmal etwas anderes auf sich. Die Hirten, das sind die Lieblinge Gottes. In den Hirten, wie rauh sie sich auch immer gegeben haben mögen, in den Hirten spiegelt sich etwas wider von der Wirklichkeit Gottes.

Wenn im ersten, im alten Testament ein aussagekräftiges Bild gesucht wird für die Unaussprechlichkeit Gottes, dann ist es das Bild des Hirten. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!“ Sie allen kennen diesen ersten Vers des 23. Psalms. Wenn die Bibel davon spricht, dass es den Menschen an Orientierung mangelt, dann heißt es, „sie gingen in die Irre wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ Wenn im Neuen Testament später der Evangelist Johannes von der besonderen Aufgabe Jesu spricht, lässt es ihn sagen: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe!“

In den Hirten erkennt Gott sich selbst. Kein Wunder, dass im Rezitativ nach dem ersten Teil der Engelsverkündigung plötzlich Abraham erwähnt wird. Abraham war ein Nomade, der mit seinem Vieh von Weide zu Weide zog. Auch Abraham war also ein Hirte. Ihm, dem Hirten Abraham, galt die Segenszusage Gottes zuerst. „Ich will dich segnen. Und du sollst ein Segen sein.

Im Rezitativ haben wir gehört:

Was Gott dem Abraham verheißen,
das lässt er nun dem Hirtenchor erfüllt erweisen,
Ein Hirt hat alles das zuvor
von Gott erfahren müssen.


Abraham war der Urtyp des Menschen, dem Gottes Zuneigung in ganz besonderer Weise gilt: den Hirten! Auf den Federn vor Bethlehem wiederholt sich, was mit dem Hirten Abraham seinen Anfang genommen hat.

Wem anders als erneut den Hirten musste diese Botschaft von einer besseren Welt zuallererst gelten: „Euch ist heute der Retter geboren!“? Wo anders als auf den Hirtenfeldern sollten die Engel ihren großen Chor vom Frieden auf Erden zum ersten Mal erklingen lassen? Wo anders als in einem Viehstall hätte Gott sich zu erkennen geben sollen? Im Choral am Ende der Verkündigung des Engels hört sich das in einfache Worte gefasst so an:

Da Speise vormals sucht ein Rind,
da ruhet itzt der Jungfrau'n Kind.


Was für ein Gegensatz! Was findet da zusammen, wenn Himmel und Erde sich berühren! Der irdische Stall und der himmlische Saal. Das Eilen der Hirten und das Ruhen des Kindes! Gottes Ehre in der Höhe. Der ersehnte Frieden auf der Erde.

Der große Chor der himmlischen Heerscharen wird zum Höhepunkt der Entfaltung und Darstellung der himmlischen Pracht. Wie die Engel da zum Singen verlockt werden, entrückt einem nahezu aus den Niederungen unseres Alltags. Der Himmel fängt an, der Erde ein neues Gesicht zu verleihen. Seit der Geburt dieses Kindes kommen Himmel und Erde nicht mehr voneinander los. Die Erde, sie wird zum Spiegelbild des Himmels.

Der Schlusschoral der Kantate lädt ein zum Fest. Zum Fest dieses neuen Miteinander. Ich hoffe, sie haben diesen Choral noch in Erinnerung. Zum einen die vertraute Melodie des Liedes „Vom Himmel hoch, da komme ich her!“ Und dazwischen jeweils der unüberhörbare Anklang an die Sinfonie vom Anfang.

Die Flöten und Oboen, die himmlische und die irdische Melodie geben sich jetzt aber nicht mehr mit dem distanzierten Gegenüber zufrieden. Jetzt schwingen sie sich in einer Parallelbewegung im Oktavabstand unentwirrbar hinein ins weihnachtliche Geschehen. Jetzt sind Himmel und Erde nicht mehr von einander zu trennen.

Unübersehbar spiegelt sich der Himmel auf der Erde. Im Eilen der Hirten, dieser Lieblinge Gottes, kommt der Gesang der Engel unüberhörbar ans Ziel. Jetzt ist wirklich Weihnachten! Gerade heute. Am zweiten Weihnachtstag.

Wenn der Himmel die Erde berührt, spiegelt sich eine neue Wirklichkeit wider. Wenn der Himmel die Erde berührt, kommt Gott zu sich selbst. Wenn Gott sich einmischt in die Welt, da kann er nur Mensch werden. Da wird er selber zum Hirten.

Da wird Gott zum Menschen, der auch in seiner Bedürftigkeit sein Ebenbild bleibt. „Ich bin hungrig gewesen und hatte Durst. Ich war im Gefängnis und hatte keine Kleider am Leib.“ Jesus erzählt von diesen Menschen in einem Gleichnis. Und am Ende heißt es: „Was ihr diesen Schwestern und Brüdern habt angedeihen lassen, das habt ihr mir getan.“

Vielleicht käme Gott heute in einem Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer zur Welt. Denn wie die Hirten sind auch die Flüchtlinge Lieblinge Gottes. Und das neugeborene Kinde wurde schon bald selber zum Flüchtling auf dem Weg nach Ägypten. Die Engel würden die Menschen in ein Flüchtlingslager nach Lampedusa schicken. Oder irgendwo an die syrischen Grenzen. Vom Frieden auf Erden würden sie auch dort den Menschen singen. Und von einem Leben in Sicherheit und in Geschwisterlichkeit. In Gerechtigkeit und erfüllter Sehnsucht nach Heimat.

Und nicht anders als die Hirten damals – nicht anders als wir heute würde das Lager erfüllt sein von jenen weihnachtlichen Gesängen, mit denen auch die Kantate endet:

Wir singen dir in deinem Heer
aus aller Kraft Lob, Preis und Ehr,
daß du, o lang gewünschter Gast,
dich nunmehr eingestellet hast.


Der Himmel hat Eingang gefunden auf der Erde. Die Erde – sie wird zum Spiegelbild des Himmels. Die Bewegung des großen Hirten kommt in den kleinen Hirten ans Ziel: Gott wird Mensch. Und wir Menschen erkennen uns erneut als Gottes Ebenbild. Das verändert die Welt. Und lässt uns singen. Und es lässt uns noch einmal Weihnachten feiern. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.