PREDIGT ÜBER MATTHÄUS 21,1-11
GOTTESDIENST ZUM ABSCHLUSS DER SANIERUNGS- UND RENOVIERUNGSARBEITEN IN DER KLEINEN KIRCHE IN KARLSRUHE AM 30. NOVEMBER 2014 (1. ADVENT)

30.11.2014
Liebe Gemeinde!

Bedeutende Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Große Geburtstage zumal. Da wird geplant und eingeladen. Da wird aufgeräumt und alles auf Hochglanz gebracht. Bisweilen wird sogar gleich renoviert und umgebaut. So wie hier in dieser Kleinen Kirche.

Also feiern wir an diesem Ersten Advent. Auch wenn die täglichen Nachrichten, aus Afrika, aus dem Irak und aus Syrien, allemal anderes als Festtagsfreude vermitteln. Wir feiern, Auch wenn in der zurückliegenden Woche mit dem folgenschweren Zusammenprall zweier Straßenbahnen hier in Karlsruhe anderes als Feiern angesagt war.

Es ist - zunächst einmal - die Stadt Karlsruhe, die demnächst groß feiert. Ihren großen, runden Geburtstag im kommenden Jahr. 300 Jahre – das ist ja schon etwas. Wahrhaftig Grund genug, um zu feiern. Grund genug, diese Kleine Kirche wieder groß herauszubringen und ins Licht zu rücken. Ihr gewissermaßen ein neues Kleid anzuziehen. Die Übergabe des neuen Kleides feiern wir heute. Keine Neueinweihung. Sie war ja nie wirklich ihrer Funktion beraubt. Was wir feiern, das ist gewissermaßen das Fest der neuen Schönheit dieser Kirche. Ich freue mich, dass ich mitfeiern kann.

Bedeutende Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Geburtstage zumal. Da wird alles auf Hochglanz gebracht. Und manchmal einfach alles auf den Kopf gestellt. Das gilt auch für den anderen großen, noch größeren Geburtstag. Denn mit dem heutigen Ersten Sonntag im Advent beginnt ein Weg, der zu einem noch ganz anderen Geburtstag hinführt. Mit dem ersten Advent beginnt der Weg nach Weihnachten. Der Weg, der hinführt zum Fest eines großen Geburtstages in der Heiligen Nacht.

Den Beteiligten war das damals nicht bewusst. Nichts hat es da gegeben, das auf einen großen Geburtstag hingedeutet hätte. Im Gegenteil. Das war eine Arme-Leute-Geburt – damals, im Stall von Bethlehem. Zugig stelle ich mir den Stall mit der Krippe vor, nicht so ansprechend gestaltet wie diese Kleine Kirche. Und eingestellt war niemand auf das, was da noch kommen sollte. Pläne für eine Stallsanierung gab es nicht.

Was dann aber geschah, war mehr als ein Arme-Leute-Fest. Engel haben sich eingemischt. Und sogar Könige sollen sich auf den Weg gemacht haben. Das uneheliche Kind eines jungen Mädchens – es hat die Welt am Ende auf den Kopf gestellt. Und tut es eigentlich immer noch – bis heute. Deshalb feiern wir diese Geburt auch „alle Jahre wieder“. Stellen uns auf die Erinnerung an diese Geburt immer neu ein. Deshalb feiern wir Advent.

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Zumal dann, wenn ein Großer sich anschickt, Einzug zu halten. Und die Leute sich nach vorne drängen, um dabei zu sein. Und sie sich schubsen und drängen, um einen Blick zu erhaschen auf diesen einen. Das war damals wirklich der Erste Advent. Das erste große Fest der Erwartung dieses einen.

Und wie schon bei seiner Geburt war es wieder ein Kleine-Leute-Fest. Nicht mehr so im Verborgenen wie knapp 30 Jahre zuvor bei der Geburt. Nicht mehr so unbeachtet wie im Stall von Bethlehem. Dieses Mal spielt die Geschichte in der Metropole, in Jerusalem. Und unter diejenigen, die feiern, haben sich längst auch andere gemischt. Menschen, denen der Trubel um diesen einen unheimlich wird. Menschen, die längst beschlossen haben: Er muss weg!

Hören sie also, was sich damals zugetragen hat auf den Straßen von Jerusalem. Weil große Ereignisse auch damals ihren Schatten vorausgeworfen haben.

Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus 2und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! 3Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen. 4Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: 5„Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.“

6Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, 7und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und er setzte sich darauf. 8Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. 9Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!

10Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: Wer ist der? 11Die Menge aber sprach: Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.


Ein Promi-Empfang wird da beschrieben. Ein VIP – so scheint’s – hält da Einkehr. Noch ohne Kameras und Blitzlichter. Dafür mit Kleidern, ausgebreitet wie ein roter Teppich. Und mit Hosianna-Rufen, die sich wie eine Festtags-Hymne anhören. Unter solchen Umständen tritt dieser Jesus ins Rampenlicht. Und alle, so will es der Text uns glauben machen, alle wollen dabei sein.

Die leisen Zweifel an dieser Darstellung liegen schon im Text selber verborgen. Da gibt es die Menge, die jubelt. Und die den feiert, der in die Stadt einzieht. Das sind die Wissenden. Das sind die, die mit diesem einen große Hoffnungen verbinden. Die ihn auf den Thron hieven wollen.

Aber es sind nicht alle. Da gibt es noch die anderen. Die ganze Stadt, wie es heißt. Das ist gewissermaßen die damalige Öffentlichkeit. Sie nimmt wahr, dass sich da etwas ereignet. Sie nimmt wahr, dass da ein neuer Hoffnungsträger gefeiert wird. Aber diese Menschen sind nicht beteiligt. Es geht sie irgendwie nichts an. Sie teilen weder das Wissen noch die Überzeugung, was diesen einen angeht.

Und sie fragen – so wie die kritische Presse heute zurecht fragen würde: Wer ist der? Wo kommt er her? Was hat er vor? Was ist sein Programm? Wer sind seine Hinterleute? Kann er womöglich gefährlich werden?

Die Antwort der Menge ist vergleichsweise bescheiden. Zumindest verglichen mit dem, was wir in der Kirche von diesem einen bekennen. Den wir Gottes Sohn nennen. Oder den Christus. Oder die zweite Person der Trinität. Nichts von dem ist dabei, wenn die Interviewer ihre Kameras und Mikrophone einpacken. Nur dies: „Das ist Jesus! Der Prophet aus Nazareth.“

Irgendwie scheinen die Leute selber nicht recht zu wissen, wen oder was sie das gerade gefeiert haben. Der Esel, auf dem dieser eine sitzt, das ist seit den Zeiten des Propheten Sacharja ein Erkennungszeichen des Messias. Ein Erkennungszeichen des gottgesandten Königs: „Siehe, dein König kommt zu dir, arm ist er. Und er reitet auf einem Esel!“

Die Kleider breiten die Menschen aus wie für einen König. Ihr Rufen, ihr Hosianna, ihr „Hilf uns doch!“ – es richtet sich an diesen einen. Und darin doch zugleich an Gott.

Und was sagen die Leute: Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth. Weil ihnen dieser Prophet näher ist als irgendeine himmlische Lichtgestalt. Der Prophet aus Nazareth. Das ist die Antwort, die sie mit ihrem Glauben abdecken können. Ohne Dogmatik. Aber mit dem uralten Wissen ihres Glaubens. Ohne den Ballast formelhafter Gelehrsamkeit.

Wer ist der? Ich finde: An dieser Frage kauen wir heute nicht weniger als die Menschen damals. Dietrich Bonhoeffer hat in einem seiner Bücher eine interessante Antwort gewagt. Im Denkhorizont seiner Zeit. Aber in der Botschaft wegweisend bis in die Gegenwart, Er schreibt: „Was heißt es, wenn der Proletarier in seiner Welt des Misstrauens sagt: Jesus war ein guter Mensch? Es heißt, dass man zu ihm kein Misstrauen zu haben braucht. Der Proletarier sagt nicht: Jesus ist Gott. Aber mit dem Wort von dem guten Menschen Jesus sagt er jedenfalls mehr, als wenn der Bürger sagt: Jesus ist Gott.“

Wer also ist dieser? Unsere Antworten laufen jedenfalls ins Leere, wenn sie sich mit zeitlosen Formeln zufrieden geben. So richtig diese da gewesen sind, wo sie ihren Ursprung gehabt haben. Wer ist der? Jede Generation versucht sich neu an einer Antwort. Und manche dieser Antworten kommen nicht einmal als gesprochenes Wort daher. Die Antwort wird ersungen, wie in den altem Liedern, und erbetet. Sie wird ersonnen und sie wird sogar erbaut – mit schnöden Steinen.

Jedes Kirchengebäude ist gewissermaßen ein Ort des Antwortversuches. In gewisser Weise sogar ein solcher Antwortversuch selber. Auch diese Kleine Kirche. Wer ist der? – haben die Menschen vor knapp 300 Jahren gefragt. Und mit dem Bau einer ersten Holzkirche an diesem Ort geantwortet. Es war eine von mehreren Antworten – damals gebaut in der Sprache der reformierten Minderheit. Mit ihrer gegenüber der lutherischen so anderen Abendmahlslehre. Mit Bezugnahme auf andere prägende Gestalten aus der Reihe der Altvorderen aus reformatorischer Zeit. Eine Kirche - zuallererst gebaut als Geschenk an eine reformierte Schwiegertochter. Glaube – wie so oft verwurzelt, wie so oft Fleisch und Stein geworden in den Strukturen einer Familiengeschichte.

Wer ist der? – So haben sich die Menschen ein halbes Jahrhundert später erneut gefragt – und die baufällig Holzkirche durch einen Neubau ersetzt. Wer ist er? – so hat man sich nicht nur in Karlsruhe gefragt, als wieder ein halbes Jahrhundert später reformiert und lutherisch Glaubende sich verbinden. Und der neue – unierte – Glaube hier Einzug hält.

Wer ist der? – so fragen wir uns bis heute. Und haben in gemeinsamer Anstrengung – auch finanzieller Art - diesem Ort des Nachfragens seine teilweise verlorengegangene Schönheit wiedergegeben. Wer ist der, dessen Weg auf einem Esel über die Kleider der Menge führt? Über Zustimmung und Ablehnung, über Gottesschweigen und Gottesrede, über Tod und Auferstehung bis in die Mitte dieser Stadt Karlsruhe – auch wenn diese selber schon wieder 300 Jahre alt ist.

Der ist er, der uns den Weg zu Gott offenhält! Der ist er, in dem Gott uns zum Greifen nah wird, in dem Gott Hand und Fuß bekommt. Der ist er, der der Welt ein neues Gesicht gibt und Menschen zum Singen bringt, die eigentlich keinen Anlass dazu hätten. Der ist er, der Menschen aufrichtet und ihren Mut weckt, dem Bösen zu widersprechen und zu widerstehen.

Der ist er, dem Barmherzigkeit wichtiger ist als der ordnungsgemäße Gang der Dinge. Der ist er, der unserer Sehnsucht Raum lässt, die Dinge mögen sich zum Guten wenden. Ja, der zugleich selber dieses erhoffte Gute mehr verkörpert als alle anderen.

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, habe ich eingangs gesagt. Das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Große Ereignisse strahlen mit ihrem Licht auch hinterher. Und schon gar große Geburtstage. Sie lassen sich schmecken und sehen. Sie lassen sich hören und feiern. Und so feiern wir dieses Fest der Kleinen Leute, das alles auf den Kopf stellt. Wir feiern, dass Gott Kleine groß und Große Klein werden lässt.

Wir feiern es in dieser wunderschönen Kleinen Kirche mit ihrem großen Auftrag. Wir lassen uns vernehmen. Und finden eine Antwort, wenn wir gefragt werden: Wer ist der, um dessetwillen euch diese Kleine Kirche so viel wert war und wert ist? So dass wir heute das Fest ihrer neuen Schönheit feiern können.

Es ist der, dem die Engel schon bei seiner Geburt gesungen haben. Der, in dem Himmel und Erde aufs Neue zusammenkommen. Den suchen wir an diesem Ort. Auf ihn warten wir im Advent. Und ich bin sicher: Er lässt sich finden: in den weihnachtlichen Tagen, auf die wir zugehen. Und immer wieder neu. Den finden wir. Auch in dieser Kleinen Kirche, in der Menschen Gottes Nähe erfahren und feiern. Auch heute – an diesem Ersten Advent 2014. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.