PREDIGT ÜBER JOHANNES 16,23B-33
IM GOTTESDIENST AM SONNTAG, DEN 10. MAI 2015 (ROGATE)
IN DER FRIEDENSKIRCHE IN HD-HANDSCHUHSHEIM
10.05.2015
Rogate! – auf deutsch: Betet! heißt dieser heutige Sonntag im Kirchenjahr. Beten kann man schweigend. Beten kann man sprechend - mit eigenen oder geliehenen Worten. Beten kann man auch singend.
Deshalb möchte ich sie einladen, über das Thema Gebet nachzudenken. Und während der Predigt immer wieder in das gesungene Gebet einzustimmen, das wir im Gesangbuch im Lied 171 vor uns haben: Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott! Wir beginnen dieses gesungene Gebet mit der ersten Strophe.
EG 171,1: Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott
Liebe Gemeinde!
„Sei Quelle und Brot in Wüstennot, sei um uns mit deinem Segen!“ Was für eine Bitte! Worte des Gebets – gesungen und in poetischer Sprache!
Beten ist in! Dazu reicht manchmal schon der Gang durch eine unserer Städte. Womöglich auch schon ein Gang durch Handschuhsheim. Bunte Wimpel kann man da auf dem einen oder anderen Balkon flattern sehen. Tibetische Gebetswimpel. Sie flattern im Winde. Und sie stellen zugleich ein öffentliches Bekenntnis der Sympathie für eine Religion dar, die nicht die zu den großen in unserer Region gehört. Aber wo immer der Dalai Lama zu Vortrag Gebet und Gebet einlädt, ist ein übervoller Saal garantiert. Auch ohne, dass ich es empirisch nachweisen könnte – ich bin sicher, bei der Mehrzahl der Mitbetenden und Zuhörenden handelt es sich um getaufte Christinnen und Christen.
Beten ist in! Zu Abertausenden wird längst auch in Deutschland fünfmal am Tag gebet. Zum Freitagsgebet sind die Moscheen auch bei uns voll. An Allah zu glauben ohne zu beten – für einen Moslem ist das nicht vorstellbar. Ich habe unlängst mit einem Banker gesprochen, der erst vor einem Jahr vom Islam zum Christentum konvertiert ist. „Vermissen sie auch etwas von ihrer früheren Religion?“, habe ich ihn gefragt. „Ja natürlich“, sagte er spontan, „ich vermisse die prägende Tagesstruktur der Gebete.“
Beten ist in! Gottseidank auch im Christentum. Zu Hause im stillen Kämmerlein. In Kirchen und öffentlichen Gottesdiensten – wie heute Vormittag. Mit Kerzen, die dem Rahmen die nötige Stimmung verleihen. Mit hoch erhobenen Händen getanzt und mit Worten, gesprochen wie im Rausch. Mit Kruzifix und Rosenkranz wie bei manchen unserer Geschwister aus anderen Konfessionen. Beten, so als wären die Menschen „voll süßen Weins“ – davon wird bereits bei der Schilderung der Pfingstereignisse berichtet. Heute in einer Woche werden wir wieder davon hören.
Beten ist also in! Auch für die Christinnen und Christen in Deutschland. 66 Prozent der Menschen in Deutschland beten gelegentlich oder häufig. 28 Prozent der Menschen geben an, sie stünden in einem ständigen intensiven Austausch mit einem transzendenten Gegenüber.
Im Westen der Republik. So sagen die Umfragen, wird mehr gebetet als in den neuen Ländern im Osten. Frauen beten mehr als Männer. Katholiken beten mehr als Protestanten. Ein Gebet vor dem Essen oder vor dem Schlafengehen wird nur noch von 10 Prozent der Menschen praktiziert.
Beten ist nicht nur in! Beten ist derart tief verankert in der Tradition des christlichen Glaubens und der Kirche, dass man sich diesen ohne das Gebet gar nicht vorstellen kann. Das Beten ist gewissermaßen ein Konstitutivum unseres Glaubens. Die wichtigste Lebens- und Ausdrucksform des Glaubens überhaupt.
Beten ist in. Ja! Aber ist das Beten denn ernsthaft eine Möglichkeit – zumal für uns aufgeklärte und postmoderne Menschen am Beginn des 3. Jahrtausends? Beten – ist das denn die Möglichkeit? So lautet die unausgesprochene Frage hinter diesem Sonntag Rogate – Betet! Und ich möchte nicht zögern, diese Frage mit einem klaren Ja zu beantworten. Beten ist die Möglichkeit. Warum und in welchem Sinn, dazu trägt hoffentlich der Predigttext aus Johannes 16 Erhellendes bei.
Leicht zugänglich ist er nicht, dieser Textabschnitt aus den sogenannten Abschiedsreden Jesu. Gewissermaßen das Vermächtnis Jesu. Gesprochen vor dem verhängnisvollen Gang in den Garten Gethsemane. Sprachlich nicht leicht zugänglich. Theologisch manchmal steil. Manchmal obskur. Und verhüllt.
Ich möchte diesen Text gewissermaßen in nachvollziehbaren Dosen zu uns sprechen lassen. Beginnend mit dem ersten Satz, der in sich wiederum völlig klar ist. Und an den wir dennoch Anfragen stellen müssen.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben. Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei.
Wenn’s so einfach wäre! Wieviel wurde gebetet! Wieviele Bitten ausgesprochen! Ohne Antwort! Und ohne vollkommene Freude! Nach wie vor ertrinken Menschen im Mittelmeer. Werden Menschen gejagt. Gequält. Getötet. Mit dem Ruf nach Gott auf ihren Lippen.
Wieviel wurde gebetet! - und der Riss in der Beziehung ließ sich nicht kitten. Das bedrohte Leben ließ nicht zurückholen. Die Kräfte reihten nicht aus. Und die Hoffnungen sind zerborsten.
Wieviel wurde gebetet! Auch von dem, der uns ermutigt, den Vater zu bitten. Und der stirbt mit den Worten: Mein, Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Beten, das muss noch einmal etwas anderen sein, als eine himmlische Bestellung aufzugeben und auf die Auslieferung zu warten. Kein einklagbarer Rechtsanspruch. Kein Garantie, dass die Erfüllung der Erbetenen die Antwort auf ein Gebet ist.
Wir singen und beten die zweite Strophe:
EG 171,2: Bewahre uns Gott, behüte uns, Gott
„Voll Wärme und Licht im Angesicht, sei nahe in schweren Zeiten!“ Worte des Gebets – gesungen und in poetischer Sprache! Und meistens verbunden mit ganz konkreten Erwartungen. Mit ganz konkreten Hoffnungen. Mit ganz konkreten Vorstellungen, ganz konkreten Bildern davon, wie wir die Welt gerne hätten. Und wo wir uns in dieser Welt gerne selber verorten.
Woher, so frage ich mich, woher kann ich wissen, dass Gott hört, dass ich nicht ins Leere bete, wenn das, worum ich bete, nicht eintrifft? Heißt Beten am Ende nichts anderes als sich durchzuringen in den Willen Gottes. Wie in dem bekannten Diktum von Dietrich Bonhoeffer: Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche. Aber alle seine Verheißungen.
Für viele, die Beten, scheinbar ohne eine Reaktion, muss diese Antwort womöglich bestenfalls besserwisserisch klingen. Und lieblos dazu. Wenn sie nicht lebensgesättigt wäre. Wenn nicht ein Mensch seinen Glauben darauf gegründet hat.
Zwei Wege sehe ich, die hier den Horizont weiten können. Der eine: Mein Beten ist Ausdruck meines Glaubens. Meines Glaubens – wie klein und zweifelnd er auch daherkommen mag. Meines Glaubens, den ich verstehe als ein grundlegenden und allen anderen Aktivitäten, auch den scheinbar frommen vorausgehendes Vertrauen in die Menschenfreundlichkeit Gottes. Nicht das Gebet schafft hier womöglich den Glauben. Sondern der Glaube schafft das Gebet.
Zum anderen : Gott in ohne Frage parteiisch. Gott ist ein Gott der kleinen Leute. Ein Gott, der die Leiden der Sklaven in Ägypten sieht. Und der handelt. Ein Gott, der den Tod dessen sieht, der Mensch sein will, wie Gott den Menschen gemeint hat. Und der am Ende in die todbringenden Ränkespiele der Mächtigen gerät. Und Gott handelt. Und setzt dem Tod das Leben entgegen.
Und ich bin sicher: Gott sieht auch die, denen heute das Wasser bis zum Hals steht. Die, deren Leben bedroht ist, deren Leben verkauft wird. Deren Leben andere geringschätzen. Und ihm den Garaus machen. Und ich bin auch sicher: Gott handelt! Auch wenn ich’s noch nicht sehe! Gott muss handeln. Wenn er denn Gott ist. Gott muss handeln. Und wenn er keine anderen Möglichkeiten hat als die, die er in unsere Hände gelegt hat.
In den Abschiedsreden aus Johannes 16 heißt es:
Jesus antwortete ihnen: Jetzt glaubt ihr? Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
Wenn ich bete, schaue ich die Welt mit den Augen des Glaubens an. Das mag aufs erste wenig scheinen. Und könnte doch mehr als genug sein. Wenn ich bete, spreche ich vor Gott aus, wie es wirklich um mich steht. Laut oder leise. Zufrieden oder voller Verzweiflung. Voller Erwartung oder als Eingeständnis, dass ich selber keinen Weg mehr sehe.
Gott – darauf muss ich doch vertrauen können – Gott hört. Gott hört mein Fragen und mein Klagen. Gott hört meine Bitten. Und hoffentlich auch immer wieder meinen Dank! Gott hört – und ich hoffe doch auch dann, wenn erst einmal nur die Leere bleibt. „In der Welt habt ihr Angst! Aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden!“
Dass Gott hört – genauer noch, dass ich das glaube - das allein – nur das - erweist mein Beten als sinnvoll. Dass Gott hört, das allein lässt uns Gottesdienst feiern heute Vormittag. Dass Gott hört – und andere, die vor mir, vor uns, geglaubt haben, mit diesem Glauben gelebt, ihn nicht weggeworfen haben, darauf möchte ich meine Glauben gründen. Dass Gott hört, noch ehe ich weiß, was dieses Hören bewirkt, das lässt mich auch singen. Wir singen und beten die dritte Strophe:
EG 171,3: Bewahre uns Gott, behüte uns, Gott
„Sei Hilfe, sei Kraft, die Frieden schafft, sei in uns, uns zu erlösen!“ Was für eine Bitte! Worte des Gebets um Frieden – gesungen und in poetischer Sprache! Worte eines Menschen, der sich nicht abhalten lässt, Gott herauszufordern.
Beten ist die Möglichkeit – das habe ich eingangs gesagt. Leicht ist das nicht. Kann man Beten denn lernen? Die Antwort kann nur lauten. Wahrscheinlich schon! Wie soll ich sonst einen Zugang finden? Für mein Beten gilt, was für alle unsere Tätigkeiten gilt: Sie bedürfen der Einübung und der Übung. Darum, denke ich, kann ich auch das Beten sehr wohl lernen.
Lernen, praktisches Lernen, meint hier, durch Übung in ein Handeln eingeführt zu werden. „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger gelehrt hat.“ Mit dieser Bitte wenden sich die Jünger Jesu an ihren Herrn. Und anstatt ihnen eine Predigt zu halten, lehrt Jesus sie das Vaterunser – zumindest berichten die Evangelisten Matthäus und Lukas davon. Das Vaterunser ist bis heute das bekannteste Gebet der Christenheit – 75 Prozent der Deutschen geben an, dieses Gebet zu kennen.
Der Evangelist Johannes überliefert das Vaterunser nicht. Er berichtet von einem, anderen Gebet Jesu. Aber auch Johannes nimmt die Anhänger dieses Jesus hinein in die Beziehungsgeschichte zwischen diesem Jesus und Gott, den er seinen Vater nennt:
Er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.
Wir sind nicht von Gott verlassen. Uns bleibt die Erinnerung an die Zuwendung Jesu zu denen, die nichts mehr erwartet haben vom Leben. Und bleibt die Erinnerung an das Gebet, das Jesus seine Jünger gelehrt hat. Und bleibt die Erinnerung an den Ostermorgen. Und bleibt – bis heute – die Möglichkeit des Betens.
Eine Lernhilfe für das Beten können hilfreiche Rahmenbedingungen sein: bestimmte Zeiten, ein fester Ort, Orientierung an textlichen und inhaltlichen Vorbilder. Das Gebet kann sich an der Tradition orientieren. Es kann aber auch neu entstehen und sich auf die Suche machen nach Worten und nach Klängen einer zeitgemäßen, authentischen persönlichen Frömmigkeitspraxis. Ein Ratschlag des mittelalterlichen Theologen Franz von Sales mag sich zunächst reichlich hoch gegriffen anhören: Aber er trägt seine eigenen Wahrheit in sich. Franz schreibt: Nimm dir jeden Tag eine halbe Stunde Zeit zum Gebet, außer wenn du viel zu tun hast, dann nimm dir eine Stunde Zeit!
Regeln sind Geländer. Regeln sind Lebenshilfen. Und keine Gitter, die uns von der Welt abschotten. Mein Beten darf unseren Glauben nicht einzuengen. Weder zeitlich. Noch inhaltlich. Noch was meinen Glauben ganz grundsätzlich angeht. Ich muss mich also beim Beten nicht selber vorzensieren. Meine Gebete müssen weder theologisch noch politisch korrekt sein. Insofern ist zumindest das persönliche, private Gebet vor der Besserwisserei und der Kritik anderer geschützt.
Zugleich ist unser Beten so zu gestalten, dass es hilfreich unterscheidet. Was kann ich selber tun? Was überschreitet meine Möglichkeiten? Das Gebet kann mich stärken und motivieren. Aber es kann mein Engagement, die Wahrnehmung meiner Weltverantwortung, niemals ersetzen. Ich kann für Aufgaben, die mir aufgetragen sind, nicht Gott verantwortlich machen. Und solche Aufgaben gibt es genug.
Wenn ich bete, suche ich nach Wegen der eigenen Wahrhaftigkeit. Nach Formen, die für mich stimmig sind. Nach Worten, in denen ich mich bergen kann. Nach Vorbildern, die sich für mich als glaubwürdig erwiesen haben.
Und manchmal erkenne ich: Es gibt noch ganz andere Formen des Gebets. Reden, leise murmelnd oder laut jubelnd, ist uns vertraut. Aber auch das singende Beten ist eine Möglichkeit. Und wer weiß, weit mehr noch das Tanzen. Die Kinder haben im Kehrvers des Psalms davon gesungen. Die intensivste Form der Gottesanrede - da ist womöglich das erwartungsvolle Schweigen. Damit Gott Raum hat zu antworten. Amen.
Vorher bleibt uns aber noch einmal das Singen. Wir singen jetzt die vierte Strophe:
EG 171,4: Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott
Deshalb möchte ich sie einladen, über das Thema Gebet nachzudenken. Und während der Predigt immer wieder in das gesungene Gebet einzustimmen, das wir im Gesangbuch im Lied 171 vor uns haben: Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott! Wir beginnen dieses gesungene Gebet mit der ersten Strophe.
EG 171,1: Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott
Liebe Gemeinde!
„Sei Quelle und Brot in Wüstennot, sei um uns mit deinem Segen!“ Was für eine Bitte! Worte des Gebets – gesungen und in poetischer Sprache!
Beten ist in! Dazu reicht manchmal schon der Gang durch eine unserer Städte. Womöglich auch schon ein Gang durch Handschuhsheim. Bunte Wimpel kann man da auf dem einen oder anderen Balkon flattern sehen. Tibetische Gebetswimpel. Sie flattern im Winde. Und sie stellen zugleich ein öffentliches Bekenntnis der Sympathie für eine Religion dar, die nicht die zu den großen in unserer Region gehört. Aber wo immer der Dalai Lama zu Vortrag Gebet und Gebet einlädt, ist ein übervoller Saal garantiert. Auch ohne, dass ich es empirisch nachweisen könnte – ich bin sicher, bei der Mehrzahl der Mitbetenden und Zuhörenden handelt es sich um getaufte Christinnen und Christen.
Beten ist in! Zu Abertausenden wird längst auch in Deutschland fünfmal am Tag gebet. Zum Freitagsgebet sind die Moscheen auch bei uns voll. An Allah zu glauben ohne zu beten – für einen Moslem ist das nicht vorstellbar. Ich habe unlängst mit einem Banker gesprochen, der erst vor einem Jahr vom Islam zum Christentum konvertiert ist. „Vermissen sie auch etwas von ihrer früheren Religion?“, habe ich ihn gefragt. „Ja natürlich“, sagte er spontan, „ich vermisse die prägende Tagesstruktur der Gebete.“
Beten ist in! Gottseidank auch im Christentum. Zu Hause im stillen Kämmerlein. In Kirchen und öffentlichen Gottesdiensten – wie heute Vormittag. Mit Kerzen, die dem Rahmen die nötige Stimmung verleihen. Mit hoch erhobenen Händen getanzt und mit Worten, gesprochen wie im Rausch. Mit Kruzifix und Rosenkranz wie bei manchen unserer Geschwister aus anderen Konfessionen. Beten, so als wären die Menschen „voll süßen Weins“ – davon wird bereits bei der Schilderung der Pfingstereignisse berichtet. Heute in einer Woche werden wir wieder davon hören.
Beten ist also in! Auch für die Christinnen und Christen in Deutschland. 66 Prozent der Menschen in Deutschland beten gelegentlich oder häufig. 28 Prozent der Menschen geben an, sie stünden in einem ständigen intensiven Austausch mit einem transzendenten Gegenüber.
Im Westen der Republik. So sagen die Umfragen, wird mehr gebetet als in den neuen Ländern im Osten. Frauen beten mehr als Männer. Katholiken beten mehr als Protestanten. Ein Gebet vor dem Essen oder vor dem Schlafengehen wird nur noch von 10 Prozent der Menschen praktiziert.
Beten ist nicht nur in! Beten ist derart tief verankert in der Tradition des christlichen Glaubens und der Kirche, dass man sich diesen ohne das Gebet gar nicht vorstellen kann. Das Beten ist gewissermaßen ein Konstitutivum unseres Glaubens. Die wichtigste Lebens- und Ausdrucksform des Glaubens überhaupt.
Beten ist in. Ja! Aber ist das Beten denn ernsthaft eine Möglichkeit – zumal für uns aufgeklärte und postmoderne Menschen am Beginn des 3. Jahrtausends? Beten – ist das denn die Möglichkeit? So lautet die unausgesprochene Frage hinter diesem Sonntag Rogate – Betet! Und ich möchte nicht zögern, diese Frage mit einem klaren Ja zu beantworten. Beten ist die Möglichkeit. Warum und in welchem Sinn, dazu trägt hoffentlich der Predigttext aus Johannes 16 Erhellendes bei.
Leicht zugänglich ist er nicht, dieser Textabschnitt aus den sogenannten Abschiedsreden Jesu. Gewissermaßen das Vermächtnis Jesu. Gesprochen vor dem verhängnisvollen Gang in den Garten Gethsemane. Sprachlich nicht leicht zugänglich. Theologisch manchmal steil. Manchmal obskur. Und verhüllt.
Ich möchte diesen Text gewissermaßen in nachvollziehbaren Dosen zu uns sprechen lassen. Beginnend mit dem ersten Satz, der in sich wiederum völlig klar ist. Und an den wir dennoch Anfragen stellen müssen.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben. Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei.
Wenn’s so einfach wäre! Wieviel wurde gebetet! Wieviele Bitten ausgesprochen! Ohne Antwort! Und ohne vollkommene Freude! Nach wie vor ertrinken Menschen im Mittelmeer. Werden Menschen gejagt. Gequält. Getötet. Mit dem Ruf nach Gott auf ihren Lippen.
Wieviel wurde gebetet! - und der Riss in der Beziehung ließ sich nicht kitten. Das bedrohte Leben ließ nicht zurückholen. Die Kräfte reihten nicht aus. Und die Hoffnungen sind zerborsten.
Wieviel wurde gebetet! Auch von dem, der uns ermutigt, den Vater zu bitten. Und der stirbt mit den Worten: Mein, Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Beten, das muss noch einmal etwas anderen sein, als eine himmlische Bestellung aufzugeben und auf die Auslieferung zu warten. Kein einklagbarer Rechtsanspruch. Kein Garantie, dass die Erfüllung der Erbetenen die Antwort auf ein Gebet ist.
Wir singen und beten die zweite Strophe:
EG 171,2: Bewahre uns Gott, behüte uns, Gott
„Voll Wärme und Licht im Angesicht, sei nahe in schweren Zeiten!“ Worte des Gebets – gesungen und in poetischer Sprache! Und meistens verbunden mit ganz konkreten Erwartungen. Mit ganz konkreten Hoffnungen. Mit ganz konkreten Vorstellungen, ganz konkreten Bildern davon, wie wir die Welt gerne hätten. Und wo wir uns in dieser Welt gerne selber verorten.
Woher, so frage ich mich, woher kann ich wissen, dass Gott hört, dass ich nicht ins Leere bete, wenn das, worum ich bete, nicht eintrifft? Heißt Beten am Ende nichts anderes als sich durchzuringen in den Willen Gottes. Wie in dem bekannten Diktum von Dietrich Bonhoeffer: Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche. Aber alle seine Verheißungen.
Für viele, die Beten, scheinbar ohne eine Reaktion, muss diese Antwort womöglich bestenfalls besserwisserisch klingen. Und lieblos dazu. Wenn sie nicht lebensgesättigt wäre. Wenn nicht ein Mensch seinen Glauben darauf gegründet hat.
Zwei Wege sehe ich, die hier den Horizont weiten können. Der eine: Mein Beten ist Ausdruck meines Glaubens. Meines Glaubens – wie klein und zweifelnd er auch daherkommen mag. Meines Glaubens, den ich verstehe als ein grundlegenden und allen anderen Aktivitäten, auch den scheinbar frommen vorausgehendes Vertrauen in die Menschenfreundlichkeit Gottes. Nicht das Gebet schafft hier womöglich den Glauben. Sondern der Glaube schafft das Gebet.
Zum anderen : Gott in ohne Frage parteiisch. Gott ist ein Gott der kleinen Leute. Ein Gott, der die Leiden der Sklaven in Ägypten sieht. Und der handelt. Ein Gott, der den Tod dessen sieht, der Mensch sein will, wie Gott den Menschen gemeint hat. Und der am Ende in die todbringenden Ränkespiele der Mächtigen gerät. Und Gott handelt. Und setzt dem Tod das Leben entgegen.
Und ich bin sicher: Gott sieht auch die, denen heute das Wasser bis zum Hals steht. Die, deren Leben bedroht ist, deren Leben verkauft wird. Deren Leben andere geringschätzen. Und ihm den Garaus machen. Und ich bin auch sicher: Gott handelt! Auch wenn ich’s noch nicht sehe! Gott muss handeln. Wenn er denn Gott ist. Gott muss handeln. Und wenn er keine anderen Möglichkeiten hat als die, die er in unsere Hände gelegt hat.
In den Abschiedsreden aus Johannes 16 heißt es:
Jesus antwortete ihnen: Jetzt glaubt ihr? Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
Wenn ich bete, schaue ich die Welt mit den Augen des Glaubens an. Das mag aufs erste wenig scheinen. Und könnte doch mehr als genug sein. Wenn ich bete, spreche ich vor Gott aus, wie es wirklich um mich steht. Laut oder leise. Zufrieden oder voller Verzweiflung. Voller Erwartung oder als Eingeständnis, dass ich selber keinen Weg mehr sehe.
Gott – darauf muss ich doch vertrauen können – Gott hört. Gott hört mein Fragen und mein Klagen. Gott hört meine Bitten. Und hoffentlich auch immer wieder meinen Dank! Gott hört – und ich hoffe doch auch dann, wenn erst einmal nur die Leere bleibt. „In der Welt habt ihr Angst! Aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden!“
Dass Gott hört – genauer noch, dass ich das glaube - das allein – nur das - erweist mein Beten als sinnvoll. Dass Gott hört, das allein lässt uns Gottesdienst feiern heute Vormittag. Dass Gott hört – und andere, die vor mir, vor uns, geglaubt haben, mit diesem Glauben gelebt, ihn nicht weggeworfen haben, darauf möchte ich meine Glauben gründen. Dass Gott hört, noch ehe ich weiß, was dieses Hören bewirkt, das lässt mich auch singen. Wir singen und beten die dritte Strophe:
EG 171,3: Bewahre uns Gott, behüte uns, Gott
„Sei Hilfe, sei Kraft, die Frieden schafft, sei in uns, uns zu erlösen!“ Was für eine Bitte! Worte des Gebets um Frieden – gesungen und in poetischer Sprache! Worte eines Menschen, der sich nicht abhalten lässt, Gott herauszufordern.
Beten ist die Möglichkeit – das habe ich eingangs gesagt. Leicht ist das nicht. Kann man Beten denn lernen? Die Antwort kann nur lauten. Wahrscheinlich schon! Wie soll ich sonst einen Zugang finden? Für mein Beten gilt, was für alle unsere Tätigkeiten gilt: Sie bedürfen der Einübung und der Übung. Darum, denke ich, kann ich auch das Beten sehr wohl lernen.
Lernen, praktisches Lernen, meint hier, durch Übung in ein Handeln eingeführt zu werden. „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger gelehrt hat.“ Mit dieser Bitte wenden sich die Jünger Jesu an ihren Herrn. Und anstatt ihnen eine Predigt zu halten, lehrt Jesus sie das Vaterunser – zumindest berichten die Evangelisten Matthäus und Lukas davon. Das Vaterunser ist bis heute das bekannteste Gebet der Christenheit – 75 Prozent der Deutschen geben an, dieses Gebet zu kennen.
Der Evangelist Johannes überliefert das Vaterunser nicht. Er berichtet von einem, anderen Gebet Jesu. Aber auch Johannes nimmt die Anhänger dieses Jesus hinein in die Beziehungsgeschichte zwischen diesem Jesus und Gott, den er seinen Vater nennt:
Er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.
Wir sind nicht von Gott verlassen. Uns bleibt die Erinnerung an die Zuwendung Jesu zu denen, die nichts mehr erwartet haben vom Leben. Und bleibt die Erinnerung an das Gebet, das Jesus seine Jünger gelehrt hat. Und bleibt die Erinnerung an den Ostermorgen. Und bleibt – bis heute – die Möglichkeit des Betens.
Eine Lernhilfe für das Beten können hilfreiche Rahmenbedingungen sein: bestimmte Zeiten, ein fester Ort, Orientierung an textlichen und inhaltlichen Vorbilder. Das Gebet kann sich an der Tradition orientieren. Es kann aber auch neu entstehen und sich auf die Suche machen nach Worten und nach Klängen einer zeitgemäßen, authentischen persönlichen Frömmigkeitspraxis. Ein Ratschlag des mittelalterlichen Theologen Franz von Sales mag sich zunächst reichlich hoch gegriffen anhören: Aber er trägt seine eigenen Wahrheit in sich. Franz schreibt: Nimm dir jeden Tag eine halbe Stunde Zeit zum Gebet, außer wenn du viel zu tun hast, dann nimm dir eine Stunde Zeit!
Regeln sind Geländer. Regeln sind Lebenshilfen. Und keine Gitter, die uns von der Welt abschotten. Mein Beten darf unseren Glauben nicht einzuengen. Weder zeitlich. Noch inhaltlich. Noch was meinen Glauben ganz grundsätzlich angeht. Ich muss mich also beim Beten nicht selber vorzensieren. Meine Gebete müssen weder theologisch noch politisch korrekt sein. Insofern ist zumindest das persönliche, private Gebet vor der Besserwisserei und der Kritik anderer geschützt.
Zugleich ist unser Beten so zu gestalten, dass es hilfreich unterscheidet. Was kann ich selber tun? Was überschreitet meine Möglichkeiten? Das Gebet kann mich stärken und motivieren. Aber es kann mein Engagement, die Wahrnehmung meiner Weltverantwortung, niemals ersetzen. Ich kann für Aufgaben, die mir aufgetragen sind, nicht Gott verantwortlich machen. Und solche Aufgaben gibt es genug.
Wenn ich bete, suche ich nach Wegen der eigenen Wahrhaftigkeit. Nach Formen, die für mich stimmig sind. Nach Worten, in denen ich mich bergen kann. Nach Vorbildern, die sich für mich als glaubwürdig erwiesen haben.
Und manchmal erkenne ich: Es gibt noch ganz andere Formen des Gebets. Reden, leise murmelnd oder laut jubelnd, ist uns vertraut. Aber auch das singende Beten ist eine Möglichkeit. Und wer weiß, weit mehr noch das Tanzen. Die Kinder haben im Kehrvers des Psalms davon gesungen. Die intensivste Form der Gottesanrede - da ist womöglich das erwartungsvolle Schweigen. Damit Gott Raum hat zu antworten. Amen.
Vorher bleibt uns aber noch einmal das Singen. Wir singen jetzt die vierte Strophe:
EG 171,4: Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott