PREDIGT ÜBER LUKAS 19,(37-40)41-47A
IM GOTTESDIENST AM SONNTAG, DEN 9. AUGUST 2015
10. SONNTAG NACH TRINITATIS / ISRAELSONNTAG
WOHNSTIFT AUGUSTINUM IN HEIDELBERG

09.08.2015
Liebe Gemeinde!
Israel und kein Ende! Israel, wenn wir die Tageszeitung aufschlagen. Opfer, Krieg und Gewalt. Solange, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wann das nicht so war.

Israel und kein Ende! Israel, wenn ich mich mit der Geschichte beschäftige. Die Gründung des Staates im Jahr 1948. Davor die bösen Jahre des Nationalsozialismus. Noch davor schon die Idee eines jüdischen Staates von Theodor Herzl. Israel als Gemeinschaft der 12 Stämme. Als Königreich. Neben dem Königreich Juda.

Israel und kein Ende! Auch und gerade in der Theologie. In der Geschichte des Gottesglaubens. Der Gott Israels. Der auch unser Gott ist. Die Bibel Israels, die zu einem Teil unserer Bibel wird. Auch wenn unlängst ein Berliner Theologie-Professor gemeint hat, wir könnten als Kirche auf das Alte Testament verzichten. Wer das tun will, trennt eine lebenswichtige Verbindung. Ohne die Bibel Israels bliebe die Rest-Bibel der Christen ein interessantes, ein lesenswertes Dokument. Aber unser Glaube wäre seines Fundamentes beraubt.

Deshalb auch der Israel-Sonntag. Immer am 10. Sonntag nach dem Trinitatisfest. Begangen seit vorreformatorischer Zeit. In zeitlicher Nähe zum 9. Av, dem Tag, an dem Menschen jüdischen Glaubens der Zerstörung des Tempels gedenken. Dieses Jahr war das nach unserem Kalender am 25. Juli. Seit fast 2000 Jahren gibt es diesen Tempel nicht mehr. Nur noch die Westmauer erinnert an ihn. Die sogenannte Klagemauer.

Israel-Sonntag aber auch wieder in diesem Jahr. Worauf beziehen wir uns, wenn wir von Israel reden? Auf das Israel der Bibel? Auf das Israel der Geschichte? Auf den modernen Staat? Oder sprechen wir von Israel nur in einem theologischen Sinn? Geht es um die Nachkommen derer, die glauben, wie Abraham geglaubt hat?

Das Besondere, wenn wir von Israel reden – das Besondere ist, dass wir das alles nie voneinander trennen können. Reden wir vom einen Israel, schwingt das andere immer mit. Sprechen wir mit der Bibel vom Volk Israel und dem, was wir ihm zu verdanken haben, erinnern andere an das Israel von Benjamin Netanjahu und seiner Politik. Kritisieren wir dieses politisch agierende Israel, werden wir ermahnt, dass es seine Existenz der Vernichtungspolitik unserer Vorfahren verdankt. Und deren Antisemitismus, der sich gespeist hat aus den judenfeindlichen Vorstellungen der Kirche über Jahrhunderte.

Wie in einem Brennglas bündelt sich all das Nachdenken über Israel im Nachdenken über Jerusalem. Jerusalem ist der Schlüssel, um all die Zugänge zur Vielgestaltigkeit Israels zu verstehen. An Jerusalem entscheidet sich, ob wir in diesem Nachdenken über Israel festen Boden unter den Füßen haben. Oder ob wir die Orientierung verlieren. Und in allgemeiner religiöser Beliebigkeit versinken.

Um Jerusalem geht’s auch im heutigen Predigttext. Im Evangelium zu diesem Israelsonntag im Jahr 2015. Um Jerusalem geht’s. Und um die Beziehung Jesu aus Nazareth zu Jerusalem. Hört also, wie im Lukas-Evangelium von dieser besonderen Beziehung Jesu zu Jerusalem berichtet wird!

Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.
Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.
Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht. Und er lehrte täglich im Tempel.


Jesu dritter Aufenthalt in Jerusalem! Zuerst gleich nach der Geburt! Bei der Darstellung im Tempel. Als Simon und Hanna auf ihn aufmerksam werden! Dann als zwölfjähriger Jung-Theologe, der die Gelehrsamkeit zum Staunen bringt. Und eben jetzt. In dem Bericht, um den es heute geht.

Wir können uns Jerusalem aus derselben Perspektive annähern wir Jesus. Vom Ölberg aus. Dreimal schon habe ich selber diesen Weg schon nehmen können. In einem aktuellen Reisebericht beschreibt ein Jerusalem-Reisender unserer Tage diesen Weg mit anschaulichen Worten:

Die Szenerie ist bezaubernd: Der atemberaubende Blick vom Ölberg auf Jerusalem im Morgenlicht, der anschließende Gang den schmalen Weg hinunter, an der Kapelle Dominus Flevit vorbei zum Garten Getsemane, durchs Kidrontal und das Löwentor wieder hinauf in die Stadt. Die Weite des Haram-ash-Sharif (Tempelplatzes) und die Pracht des Felsendoms neben der beeindruckenden Schlichtheit der Al-Aqsa-Moschee. Die gewaltigen Reste der westlichen Tempelmauer. Die Ophel-Ausgrabungen an der Südwestecke mit einer Ladenstraße und zahlreichen Mikwen - die Stadt Jerusalem in ganzer Schönheit. Nur ein wenig weiter gedacht kommen sie unweigerlich: die bangen Fragen nach der Zukunft, die bedrückenden Zeichen spannungsgeladener Gegenwart
Klaus Müller (Materialien zum Israelsonntag 2015) .


Jesus zieht nicht mit bangen Fragen nach Jerusalem. Er wird begleitet vom ohrenbetäubenden Jubel seiner Anhänger. Unmittelbar voraus gehen jene Ereignisse, an die wir in der Kirche am 1. Advent und am Palmsonntag erinnern. Da lesen wir - direkt vor dem Predigttext:

Als er nun hinzog, breiteten sie ihre Kleider auf den Weg. Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!

Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt. Kaum nachvollziehbar ist das. Und doch gehört beides zusammen. Der Jubel der einen. Und das Weinen des anderen.

Jesus auf dem Höhepunkt seiner öffentlichen Wirksamkeit. Empfangen mit den Zeichen des Anbruchs der messianischen Herrschaft. Jesus auf dem Esel, dem Zeichen der so ganz anderen Herrschaft Gottes, die auf Macht und Gewalt verzichtet. Statt des roten Teppichs der Mächtigen die Kleider der armen Leute.

Ja, dieser Jesus ist einer von ihnen. Kein Mitglied der Jerusalemer Oligarchie. Kein Angehöriger der herrschenden Clique. Kein Sympathisant, kein Kollaborateur der römischen Besatzer. Nein, die Leute heben einen der ihren auf den Thron. Einen, der nach Jerusalem reist wie sie. Einen der dort im Tempel seine religiösen Pflichten erfüllt. Kein Großstädter, sondern einer aus der Provinz. Einer aus den verdächtigen Regionen des Landes. „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ (Joh 1,46) Nicht ohne Grund fragt – neugierig geworden - ein gewisser Nathanael so, als ihn die Nachrichten von diesem Jesus erreichen.

Nein, diesem Jesus ist dieses Jerusalem verdächtig. Der Jubel der Anhänger aus dem Kreis der kleinen Leute und die kritische Reaktion der Hüter des rechten Glaubens – sie speisen sich aus derselben Quelle. Der Jubel der Massen bleibt nicht ungehört. Er ruft den Argwohn derer hervor, die für die Rechtgläubigkeit verantwortlich fühlen. Da lesen wir also – in den beiden Sätzen, die dem Predigttext vorausgehen:

Und einige Pharisäer in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.

Die Aufforderung zum Schweigen, das ist die eine Reaktion auf den messianischen Jubel der Massen. Die Reaktion Jesu, von der Lukas berichtet, die Reaktion Jesus – auch sie speiset sich aus derselben Quelle. Aber sie ist von gänzlich anderer Natur. Jesus hält im Abstieg vom Ölberg inne. Und Jesus weint. Die Kirche mit dem Namen „Dominus flevit“ – zu deutsch „Der Herr weinte“ – sie erinnert bis heute an diese Tränen.

Jesus weint über Jerusalem. Es gibt viele Möglichkeiten, dieses Weinen Jesu zu deuten. Unter diesen Möglichkeiten haben lange, viel zu lange, unsägliche Möglichkeiten die Deutung bestimmt. Jesus, so lesen wir’s von den Kirchenvätern bis Luther und darüber hinaus – Jesus weint über den Unglauben der Leute. Über den Unglauben der Juden.

Kein Wunder – so schien es für viele - , dass der römische Feldherr und Kaisersohn Titus 40 Jahre später die Stadtmauern schleift. Im Jahre 70 wird der Tempel fast dem Erdboden gleich macht. Von Flavius Josephus, dem jüdischen Berater des Feldherrn, haben wir ausführliche Berichte über diese Zerstörung. Die Zerstörung Jerusalems als göttliche Strafe. Nur mühsam und nach den schrecklichen Vorkommnissen des Nazi-Zeit nimmt die Christenheit Abschied von dieser Deutung.

Sicher: Jesus weint über Jerusalem. Der Verkünder jüdischer Reformideen weint über die konservative Beharrlichkeit der Tempel-Theologen. Aber es weint ein Jude über den Mangel an innerjüdischer Reformbereitschaft.

Jesus weint. Der Gott-Sucher aus dem Galil, aus Galilä, weint über die Selbstgerechtigkeit derer in der Stadt, die doch soviel Verantwortung für die Zukunft haben. Der Rabbi mit dem Blick für die Zeichen der Zeit ahnt, wohin deren Strategie der Unbeweglichkeit am Ende führt.

Jesus weint. Einer vom Rand der damals bekannten Welt, einer aus der ländlichen Provinz, weint über die Stadt, die er für keine zukunftsfähige Lebensform hält. Die Stadt steht damals in keinem hohen Ansehen. Zwei Jahrzehnte später wird in der Offenbarung de Johannes die Stadt Babylon das Sinnbild der Welt ohne Gott. Die Stadt, die nach Gott fragt, ist ein Modell für das Ende der Zeit. Am Ende, im Bild vom neuen Jerusalem, fallen Stadt und Land dann paradiesisch in eins. Aber dieses Happyend, dieses gute Ende ist ferne Zukunft. Nahe Zukunft ist das Verderben derer, die von der Stadt nicht loskommen.

Die beiden größten Theologen der Religion in der Stadt und für die Stadt, das sind, einmal jüdisch und einmal christlich, Paulus aus Tarsus und Martin Luther.

Für Paulus, der lange vor dem stadt-kritischen Lukas schreibt, ist Jerusalem von höchster Bedeutung. Und mehr noch die Metropole des Reichs, nämlich Rom.

Martin Luthers Reformation setzt an den Predigtkirchen der Städte an. Luther begibt sich in den Schutz der Paläste der städtischen Machthaber. Die Reformation beginnt als städtische Reformbewegung.

Ganz anders berichtet hier der Evangelist Lukas. Jesus weint. Einer, der sich Gott ganz nahe fühlt, weint über die Stadt, in der zwar der Tempel steht. In der es aber um Macht geht. In der Gott im Tempel eingesperrt wird, damit man vor den Mauern das Leben selbständig gestalten kann. Kein Wunder, dass Lukas hier seine Version der Tempelaustreibung berichtet. Ohne Gewalt. Ohne das Umstürzen der Tische. Eher aus Betroffenheit. Eher eine Verzweiflungstat des Weinenden, der sich nicht mehr zu helfen weiß.

Jesus weint über Jerusalem. Und er würde auch heute über Jerusalem weinen. Wenn Menschen dort ihren Wohnraum verlieren. Wenn Menschen – wie einst der frühere Ministerpräsident Ariel Scharon im Jahr 2000 - den heiligen Tempelplatz betreten, nur um zu provozieren. Und so die zweite Intifada hervorrufen.

Jesus würde weinen über Jerusalem, wenn Bomben und Gewalt dort ihre sinnlosen Opfer fordern. Jesus würde aber auch weinen über Damaskus und Teheran. Er würde weinen über Washington und Berlin. Jesus würde weinen über Mannheim und Heidelberg. Keine Stadt auf diesem Planeten könnte für sich beanspruchen, Vorläufer, Vorort des himmlischen Jerusalem zu sein!

Doch Jesu Weinen ist ein Weinen, das nicht ein Ende markiert. Es ist ein Weinen, das verlocken will zu einem neuen Anfang. Das Weinen hat eine befreiende, entlastende Wirkung. Zunächst für den, der weint selber. Aber dann auch für die, die nicht verschämt wegsehen. Sondern die sich dem, der weint, empathisch zuwenden.

Jesu Weinen über Jerusalem ist die Chance, später auch dem befreiten Lachen Raum zu geben. Weil die Macht des Bösen irgendwann an ihr Ende kommt. Nicht gleich. Und nicht gleich sichtbar.

Dass Jerusalem ist – dass es überhaupt wieder existiert – mit all den Konfliktherden, aber trotzdem existiert – als große Stadt, mit 600.00 Einwohnern, eingezeichnet in jeden Atlas, das ist auch ein Wunder. Und eine Herausforderung, uns um seinen Frieden zu bemühen.

Dass immer noch Menschen nach Gott fragen. Dass Jerusalem für viele Menschen jüdischen Glaubens die Stadt Gottes ist, dass dort die Westmauer des Tempels noch steht – es ist Ursache von Konflikten wie Grund zum Staunen.

Dass in der Nachfolge dieses Jesus aus der galiläischen Provinz Jerusalem bedeutsam wird auch für die Christenheit dieser Erde – dass sie durch Jesu Tod und Auferstehung von Jerusalem nicht loskommt – es ist Verpflichtung genug. Sich für den Frieden in diesem Jerusalem einzusetzen.

Dass Menschen, die dem Islam angehören, in dieser Stadt eine heilige Stadt sehen, mit der Al-Kasa-Moschee, mit heiligen Städten ihres Glaubens - – es darf doch nicht nur Anlass zu Auseinandersetzungen und Gewalt sein, sondern Ansporn, dem Gott des Friedens Raum zu geben.

Jerusalem – nicht als Symbolstätte entgangener Zukunft, sondern als Keimzelle des Miteinanders der drei Religionen in der Nachfolge Abrahams: Jesus würde uns zum Fest einladen, wenn diese Stadt endlich Züge einer wahrhaft heiligen Stadt an sich trüge. Wenn sie Ausgangspunkt wäre der Wege eines Miteinanders der Menschen. Und der Religionen.

Jesus würde dann nicht nur weinen. Er würde feiern. Und lachen. „Jesus ridet!“ – Jesus lacht. Die Kirche mit diesem Namen wäre erst noch zu bauen. Am Fuße des Ölbergs. Und in den anderen Städten dieser Welt. Für diese Kirche wäre überall Platz. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.