PREDIGT
ÜBER JEREMIA 23,5-8
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 27. NOVEMBER 2016 (1. ADVENT)
IN DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN RUIT

27.11.2016
Liebe Gemeinde!

Heute beginnt eine neue Zeit! Heute ist der erste Advent. Heute beginnt ein neues Kirchenjahr. Heute beginnt die Zeit, in der wir uns einstellen auf das vor uns liegende Fest der Weihnacht 2016.

Eine neue Zeit - hoffentlich beginnt sie auch für all diejenigen, die Brot für die Welt im Blick hat. Heute beginnt die 58. Aktion von Brot für die Welt unter dem Motto: Satt ist nicht genug.

Um so leben zu können, wie Gott es will, gehört mehr dazu als ein täglich voller Teller. Ein Leben im Frieden gehört dazu. Und ein Leben in Würde. Wir sind weit davon entfernt, dass die Welt so aussieht. Wir sind weit davon entfernt, dass wir auf Brot für die Welt verzichten könnten. Da steht noch etwas aus. Da klafft noch eine gewaltige Lücke zwischen dem, was für viele Menschen die Wirklichkeit ihres Lebens ausmacht. Und dem, wie die Welt sein könnte.

Diese Lücke zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit – die gibt es nicht erst heute. Diese Lücke gehört zu einem Menschenleben wohl dazu. Dazu gehören aber auch die Hoffnungen, wie es gelingen könnte, dieser Lücke den Garaus zu machen.

Und wenn wir es nicht schaffen: Einer müsste doch kommen, der diese Lücke überbrückt. Einen müsste es doch geben, der dafür einsteht, dass Gottes neue Welt nicht ewig auf sich warten lässt.

Auf diesen einen warten wir, um den es geht im Advent. Auf diesen einen warten die Menschen nicht erst seit heute. Auf diesen einen haben die Menschen auch schon gewartet – vor mehr als zweieinhalb Tausend Jahren. Damals, als die Oberen Zehntausend von Jerusalem und der Landschaft darum herum nach Babylon verschleppt worden waren. Im Jahre 587 vor Christus war das.

Einen gab es, der hatte auf dieses Warten eine Antwort. Einen gab es, der den Menschen Hoffnung gemacht hat. Hören sie, mit welchen Worten sich der Prophet Jeremia an seine Landsleute wendet. Wie er ihnen eine neue Perspektive verschaffen will in düsteren Tagen. Wir hören aus Jeremia 23 die Verse 5 – 8:

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.
Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR unsere Gerechtigkeit«.
Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«, sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.


Einen gibt es, liebe Gemeinde! Einen, der die Verhältnisse ändern wird, wenn er kommt. Ein Hoffnungsträger. Einer, der die kleinen Leute im Blick hat. Jeremia, der Prophet, nährt und schürt diese Hoffnung. Doch wir leben in anderen Zeiten!

Einen gibt es, der die Verhältnisse ändern wird. Einen, der die kleinen Leute im Blick hat. Einen, der den Menschen Hoffnung macht. Und diese eine Person, diese eine Partei, wird dann auch gewählt. Dieser eine hat dann die Macht. Überall schießen sie aus dem Boden, diese einen, die mich besorgt stimmen. Ob in den USA oder in Russland. Ob in der Türkei oder in Ungarn. Heute ist die Zeit der Hoffnungsträger mit ihren großen Versprechungen. Heute ist die Zeit des einen, auf den die Menschen ihr Vertrauen setzen. Längst leben wir in anderen Zeiten!

Die Hoffnung zu setzen auf den einen, der’s schon richten wird, liebe Gemeinde, das ist brandgefährlich! Und das nicht erst seit heute. Und nicht erst seit jüngerer Vergangenheit. Auch die Menschen in Israel und Juda haben’s getan. Haben ihrem König vertraut. Und der war schließlich ein Nachkomme des berühmten Ahnherrn David. Des großen Königs der Vorzeit, dem Gott geschworen hatte: Deine Nachkommen sollen König sein.

Es hat den Menschen nichts geholfen. Ausgenutzt wurden sie von ihren Königen. Zu harter Fronarbeit wurden sie verpflichtet. Zu hohen Abgaben. Und zur Unterstützung der militärischen Abenteuer ihrer Könige. Am Ende sind sie alle in der Katastrophe gelandet. Der König wird gefoltert und verschleppt. Und mit ihm die wichtigsten Angehörigen seines Volkes.

Dass der König ein Nachkomme Davids ist – es hat weder ihm geholfen noch seinem Volk. Auf den einen zu hoffen, der aus der Nachkommenschaft Davids stammt, ist vergebliche Liebesmüh. Es sind längst andere Zeiten.

Und da leben die Menschen als Verschleppte in Babylon im Exil. Da trauern sie um die verlorene Zukunft. Und Jeremia, der Prophet, der nicht mit verschleppt wurde, singt weiter die alte Leier. Jeremia singt das Lied vom Nachkommen Davids. Das Lied von der bevorstehenden besseren Welt. Alle Jahre wieder stellen auch wir uns ein auf Weihnachten. Alle Jahre wieder feiern auch wir Advent. Ist das auch jedes Jahr dasselbe? Wir warten auf den einen, der kommt. Und nach Weihnachten ist es auch nicht anders als vorher. Und am 1. Januar beginnt die alte Leier von Neuem.

Es lohnt sich, noch einmal in den Jeremia-Text zu schauen. Ist es wirklich dasselbe Lied, das Jeremia singt – das Lied vom kommenden Hoffnungsträger? Das Lied vom Nachkommen Davids?

Es ist ein neues Lied, liebe Gemeinde! Ein Lied mit ungehörten Tönen. Ein Lied mit einer anderen Botschaft als der vertrauten. Der neuen König, er ist ganz anders. Ein Anwalt von Recht und Gerechtigkeit wird er sein. Und einer, der die Menschen sicher wohnen lässt. Der neue König – er ist nicht mehr wie die alten. Die Zeiten werden sich ändern – gottseidank!

Dieser König setzt nicht nur auf seinen eigenen Möglichkeiten. Bei diesem König ist Gott im Spiel. Es ist keiner der alten Namen, die er trägt. Dieser König ist ein Bekenntnis. Schon im Namen, den er trägt. Denn der wird lauten: „Der Herr, unsere Gerechtigkeit.“

Der neue König regiert an Gottes Statt. Und er lässt die Menschen die Menschenfreundlichkeit Gottes erfahren. Wenn Menschen an ihren eigenen Grenzen stoßen, dann ist Gott noch lange nicht am Ende. Es reicht nicht ausreicht, seinen Stammbaum auf David zurückzuführen, wenn Gott selber nicht mit im Spiel ist. Jeremia näht eine alte Hoffnung. Aber er füllt sie mit neuem Leben. Und gibt Gott auch einen neuen Namen.
Gott heißt nicht länger nur „der, der uns aus Ägypten in die Freiheit geführt hat.“ Gottes Name wird auch sein „der, der uns aus der Verbannung wieder in die Heimat geführt hat.“ Gott ist nicht nur der, der gehandelt hat in grauer Vorzeit. Gott handelt auch in der Gegenwart. In damaliger Zeit, indem er die Rückkehr aus der Verbannung ankündigt.

Doch Gottes Geschichte mit den Menschen geht weiter. Gott ist der, der es nicht aushält in himmlischer Abgeschiedenheit. Gott ist der, der sich einmischt. Und der allen Ränkespielen des Bösen ein Ende macht. Kein Wunder, dass den Menschen die Worte des Jeremia in den Sinn kommen, als sie Jesus aus Nazareth begegnen. Kein Wunder, dass auch wir an diesen einen denken in jedem Advent, wenn wir die alten Worte des Jeremia lesen und hören.

Gottes Geschichte mit den Menschen geht weiter. Damals nach der Rückkehr aus dem Exil. Damals im Stall vor den Toren von Bethlehem. Gottes Geschichte mit uns schreibt sich weiter in jedem Menschenleben. Und Gottes Namen sind so, dass auch ich mich in ihnen wiederfinde. Und jede und jeder von ihnen genauso.

Gott ist der, der mich leben lässt. Jeden Tag aufs Neue. Gott ist der, mir das rechte Wort schenkt hat, als alles in Sprachlosigkeit abzurutschen droht. Gott ist der, der mir diesen einen Menschen geschickt hat, als ich meinte, ich hätte niemanden auf meiner Seite.

Aber auch der ist Gott, der die Fahne des Friedens hisst, als alle nur noch auf Bomben gesetzt haben. Und der dennoch die Teller füllt, auch wenn die Dürre alle Ernte zerstört. Und Gott ist der, der uns sicher wohnen lässt. Damals zur Zeit des Jeremia haben die Menschen sich das gewünscht. Und sie wünschen es sich heute nicht weniger. In Aleppo. Und überall, wo der Krieg die Menschlichkeit erstickt.

Namen der Hoffnung auf Gott sind das. Und Namen Gottes selber. Seit jenem ersten Advent können wir es wissen: Gott ist sich nicht zu schade, auch unsere Namen zu tragen. Den meinen und den ihren. Gott wird Mensch, damit wir menschlicher miteinander umgehen.

Noch ist das oft mehr Wunsch als Wirklichkeit. Noch ist die Welt nicht so, als dass wir den einen nicht mehr nötig hätten. Darauf genau warten wir im Advent. Genau diesen einen feiern wir an Weihnachten. Nicht einen weiteren Nachkommen auf Davids Thron feiern wir. Nicht einen, der uns unredliche Hoffnungen macht wie diese politischen Heilsbringer, mit denen alles nur noch schlimmer würde.

Wir warten auf den, in dem Gott selber sich einmischt. Wir warten auf den, der uns hilft, diese Lücke auszuhalten, die sich immer noch auftut zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Knapp vier Wochen zeit haben wir jetzt, dieses Warten zu üben. Ehe wir dann feiern, dass Gott längst im Kommen ist. Klein und in einem Kind. Und doch groß. Und voller Hoffnung, dass die Welt sich verwandelt.

Siehe, es kommt die Zeit! So hat Jeremia seine Worte begonnen. Siehe kommt die Zeit – das ist auch die Botschaft des Advent. Ehe sie abgelöst wird vom Bekenntnis: Siehe, jetzt ist längst wahr, worauf wir hoffen.

Das lasst uns feiern. Im Advent und an Weihnachten. Und schon jetzt am Tisch des Herrn. Die Türen stehen weit offen. Das Warten hat ein Ende. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.