Martin Luthers 5 letzte Thesen

26.10.2017
Liebe Synodengemeinde!

Die Sensation ist perfekt! Nur wenige Tage vor dem großen Jubiläum 500 Jahre Thesenanschlag Martin Luthers ist die Nachricht in der Welt. Sie ging bereits an den Ratsvorsitzenden, an unseren Landesbischof und an das ZfK. Die Forschungsstellen für Reformationsgeschichte sind informiert. Die bedeutenden Vertreter der Kirchengeschichtler an den theologischen Fakultäten: Volker Leppin in Tübingen, Thomas Kaufmann in Göttingen, Christoph Strohm in Heidelberg.

Frau Heidbrink hat sofort auf Facebook gepostet und Herr Naefken hat’s längst getwittert. Der Inhalt des sorgsam bedruckten Büttenpapiers war einfach zu brisant. Aber da waren sie nun einmal in der Welt: die fünf letzten Thesen Martin Luthers!

Generationen von Gläubigen wie von Forschern hatten sich schon lange gleichermaßen gefragt: Wie kommt Luther gerade zu 95 Thesen? Eigentlich keine schöne Zahl. Keine Zahl, die mit ihrer Symbolik zum Nachdenken anregt.

Und da nutzt eine Studierende der Theologie bei der Wittenberger Weltausstellung der Reformation in diesem Sommer die Besucherflaute, um etwas zur Vorbereitung für ihr Examen zu tun. Und sie entdeckt zwischen den noch unausgewerteten Dokumenten, die bei der Renovierung der Schlosskirche aufgetaucht waren, dieses gut verschnürte Schriftenbündel. Darauf steht, fast nicht mehr zu entziffern:

Fünf letzte Thesen
zur Ergänzung meiner Thesen gegen den Ablass vom 31. Oktober Anno Domini 1517 – erst 500 Jahre danach zu öffnen.


Das Lied vom Wort: Strophe 1

Ein neues Lied in mir entspringt,
von Lasten, weggenommen.
Du musst nicht! Nein: Du darfst! Es singt
von Freiheit, längst gekommen,
im Wort, das mir träumt,
das Raum gibt und räumt
zur Seite, was mir
den Atem nimmt, und dir.
Ganz neu bin ich geworden!

Die Studentin fasst sich ein Herz und löst die mehrfach um die Blätter gewundenen Bänder. Obenauf liegt ein kurzer, mit Tinte und Feder geschriebener Brief. Sie liest:

„Ihr lieben Christenleut’ die ihr diese Thesen zu Gesicht bekommt. Fünfhundert Jahre schon habt ihr euch an all dem abgearbeitet, was ich euch mit meinen Schriften alles habe an hoffentlich Bedenkenswertem hinterlassen. Manches wird euch nicht schmecken, in manchem habe ich mich geirrt und werde am Jüngsten Gericht einmal auf einen gnädigen Richter hoffen müssen. Zu heftig habe ich bisweilen den Stab über andere gebrochen, ob Bauersleut, Juden und solche, die in Mekka ihren Gott zu finden hoffen.

Längst sucht Gott mich in meinen Träumen heim, so dass ich nicht weiß, was ich das Letzt’ Gericht von mir wird übrig lassen. Wenn aber, was ich doch fest glaube, der Herr Jesus Christus über mich wird Barmherzigkeit walten lassen, so sei’s – so meine Bitte - auch euch ans Herz gelegt, nicht alles von dem zu verwerfen, was ihr in dicken Bänden von meinem Gottes-Gestammel habt übrig sein lassen.

Ein letzt’ gut Werk als Frucht meines Glaubens will ich euch lassen, fünf Sätze vom Wort Gottis, das euch will leben lassen, wenn Ihr’s euch denn recht zu Herzen nehmt. Fünf Sätze, die meine 95 Thesen erst zu einhundert werden lassen, die in ihrer Füll’ all das zusammenfassen, was meinen und euren Glauben ausmacht.

Manches könnt ihr erst verstehen, was zu meinen Lebzeiten den Menschen noch hat dunkel und verborgen bleiben müssen. Diese fünf Sätze fügt flugs zu den 95 anderen hinzu, wenn ihr die denn unter die Leute bringt.


Das Lied vom Wort: Strophe 2

In Bild und Buch, in Klang und Ton
lässt sich dies Wort vernehmen.
Es richt’ mich aus, und seh’ ich schon
der Zukunft schwere Themen,
find’ ich festen Halt,
wag’ ohne Gewalt
den Schritt hin zum Du,
lass’ Böses nicht mehr zu.
Die Welt ist neu geworden!

Satz 96: Wenn ihr denn 417 Jahre nach meinen Thesen erklären werdet: ‚Jesus Christus ist das eine Wort Gottes, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben’ – dann wisst ihr selbst, dass dieser Jesus Christus kein Wort ist wie die Wörter, die ihr sprecht – sondern dass er euch vielmehr zu Gottis Wort wird, indem ihr euch an seinem Leben ausrichtet und an dem, was in den vier Euangelia von ihm an Worten wird berichtet.

Satz 97: Wenn ihr euch denn auf mich beruft und bekennt, dass ihr sola scriptura – in der Schrift allein - Gottis Wort recht findet, dann meint Schrift nicht allein das gedruckt Wort, sondern jedes Wort, das mir zu Herzen geht, weil Gottis Wort darin sein Wirken entfaltet – ob gedruckt, gesprochen, gesungen oder in euren Kommuniziergeräten zu lesen, die ihr in euren Taschen mit euch tragt. Es muss sich freilich an der Schrift messen lassen, ob dies Wort denn Gott sprechen lässt oder einen der vielen anderen Götzen und Götter, die unter euch ihr Werk tun und deren Wort manchmal so schwer von Gottis Wort zu unterscheiden sind.

Satz 98: Wenn ihr denn von mir gelernt haben wollt, dass mein Satz vom ‚Wort der Schrift allein’ meint, dass nur die Bibel und nicht die traditionsreichen Sätze der Päpste und ihrer viel Konzilien für euer Leben wegweisend seien, so habt ihr recht, was meine Zeit betrifft. Doch seid gewahr: Zu eurer Zeit kann manches Wort aus päpstlichem Mund die Lehr ganz recht verkündigen und den reichen Hansen Angst und der armen Magd Hoffnung machen. Die Freude der Liebe, die Amoris Laetitia könn ein neuer Franziskus, so träum ich’s, auf Petri Stuhl so gut beschreiben, wie’s nur wenige gewagt haben zu tun.

Bei euch sind’s weniger Papst und Konzil denn die vielen Wort, die ihr selber macht und auf die ihr euch verlasst wie der Turmbauer in Jesu Predigt auf dem Berg, der das Fundament nicht prüft und fällt ihm alles über den Haufen. Wenn ihr denen vertraut, die meinen, sie haben Gottis Gewalt und drohen mit Waffen, die die Erd’ aus den Angeln heben und wollen sich selber unsterblich machen – dann seid ihr wie ein Strohfeuer, das in den Himmel lodert und ist doch im Handumdrehen nur noch Asche. Da fahrt ihr besser, wenn ihr das Wort Gottis ausringt wie ein Schwamm und findet den Tropfen, der euer Seel zum Frohlocken und euer Herz zum Glauben bringt.

Satz 99: Wenn ihr dem Wort allein euer Vertrauen schenkt, dann könnt ihr euch dies Wort nicht selber zusprechen. Als verbum externum, als Wort von außen muss es euch treffen, als zugesprochen Wort aus fremdem Mund, damit ihr am Ende nicht euch selber erlegt wie ein Jäger, der sich vor fremdem Getier fürchtet und sich lahme Hirsche in den Wald treiben lässt, nur weil die ihm nicht davonlaufen – und erschießt am Ende sich selbst.

Satz 100: Darum euer Gott, den ihr in seinem Wort findet, ist kein Gott, den ihr euch mit euren Zeichen erschafft oder digital wie ihr das nennt, wie so vieles eben, das euch so gut in Algorithmen fließt. Ganz und gar jenseitig ist euer Gott und doch mitten in euch, ganz analog, wie das bei euch heißt, und hat wirklich Fleisch und Blut, weil er nicht anders unter euch will wahrgenommen und erkannt sein, denn als Schwester oder Bruder – und seien sie noch so ganz anders als ich und mir noch so fremd, dass ich versucht wär’, kein Nächstenlieb’ walten zu lassen – wenn sie nicht alle Gottis Geschöpf wären und ich den in ihnen entdecke, in dem Gott sein Wort allein hat Mensch werden lassen wie ich und du.


Das Lied vom Wort: Strophe 3

Aus Menschenmund trifft mich dies Wort
und kann doch ohne Grenzen
in deiner Ökumene Ort,
die Suchenden beglänzen
mit Zuspruch und Kraft,
die Neues erschafft,
sagt: Mir bist du recht!
Halt dich nur nicht für schlecht,
bist durch Gott neu geworden!

Halt! Die 5 Sätze sind zu Ende. Aber noch nicht der handgeschrieben Brief. Da steht zu guter Letzt noch zu lesen: Genug der gelehrt Sätz’ und Thesen. Geglaubt sei’s und nicht beredet und disputiert und beschrieben, wie ihr das so gerne tut. Darum sei’s mein größter Wunsch nach 500 Jahren, dass ihr ein Kirch’ seid, unterschieden in vielfältig Tradition und wenn’s denn sein muss Organisation, aber einmütig in Glauben, der euch leben lässt wie er mich hat leben lassen, weil ihr ein Wort habt aus Gottis Mund durch seinen lieben Sohn: „damit ihr alle eins seid!“ Sola scriptura – das muss genügen! Meghrbrauchts nicht!

Euer demütiger Mitbruder Martin!

Das Lied vom Wort: Strophen 4+ 5

Dein Wort trifft mich in Vielgestalt
und bleibt für Deutung offen.
Was heut noch gilt, ist morgen alt.
Im Wandel mich lässt hoffen
die Suche nach dir.
Gott, du zeigst dich mir
in menschlichem Sein,
im Fest mit Brot und Wein.
Neu bist du mir geworden!

Sola scriptura! - nur allein
das Wort der Schrift soll gelten!
Es lässt in seinem Anderssein
durchscheinen Gottes Welten
in unsere Zeit,
und macht mich bereit
ganz fest zu vertrau’n
dem, der schon jetzt lässt schau’n
was einst noch werden könnte!

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.