„WIR BRAUCHEN NEUE BILDERSTÜRME“
PREDIGT ÜBER DEUTERONOMIUM 5,1-9A
IN DEN GOTTESDIENSTEN AM SAMSTAG, DEN 12. AUGUST 2017 (NEUENDORF) UND AM SONNTAG, DEN 13. AUGUST 2017 (KLOSTER)
(9. SONNTAG NACH TRINITATIS)
IM GEMEINDEZENTRUM IN NEU

13.08.2017
1. Du schufst den Menschen, schufst die Welt,
dem Leben gabst du Raum.
Das Anfangsdunkel ward erhellt
durch deinen Schöpfungstraum.

2. Der Mensch, so sprachst du, der sei mir
ein Ebenbild, mir gleich.
So tragen diese Würde wir,
sind in ihr schön und reich.


Liebe Gemeinde!

Wir brauchen neue Bilderstürme! Bilder habe ich vor Augen, die mir nur allmählich aus dem Kopf gehen. Und die mich nachts in meinen Träumen endgültig einholen. Bildfetzen der Welt, in der ich lebe, wenn ich nicht hier bin. Sitzungsräume. Gremien. Terminvereinbarungen. Entscheidungen und Konfliktlösungen. Pfarrbüros. Menschen voller Ideen. Andere am Rande ihrer Kräfte. Gespräche am Rande. Dankbare Blicke für ein aufmerksames Ohr und ein aufmunterndes Wort. Bilder eines Lebens zwischen Bibel und Laptop.

Man muss nicht Pfarrer sein, um solche Bilder vor Augen zuhaben. Es kann auch der Schreibtisch oder das Klassenzimmer sein. Das Studio oder die Redaktion. Die Werkbank oder das Großraumbüro. Das unfertige Projekt. Der Nachbar mit seinen täglich neuen Beschwerden. Die Kollegin, der einem das Leben schwermacht.

Bilder, die nicht nur ich gerne auch einmal eintausche gegen die Bilder hier auf der Insel. Wasser und Sand. Hafen und Schiffe. Pferdekutschen und Fahrräder. Handys ohne Netz. Galerien und Strandkino. Leben ohne Uhr. Mahlzeiten, die nicht enden wollen. Der Espresso danach.

Auf die Bilder des tagaus tagein Üblichen kann ich gerne einmal verzichten. Manches werde ich irgendwann vermissen. Anderes will ich gerne für immer löschen. Will hier auf Hiddensee der Bildersturm in meinem Kopf inszenieren. Mich von den Bildern hier inspirieren lassen. Wir brauchen neue Bilderstürme!

Bilder, viel schrecklichere Bilder, gibt es, die mich manchmal fast vom Glauben abfallen lassen. Die fast täglichen Berichte von Menschen, die im Mittelmeer um ihr Leben kämpfen. Die einen am Ende erfolgreiche. Andere nicht. Bilder großer Dürren in Afrika. Von Krieg und Gewalt in Syrien. Von willkürlichen Verhaftungen in Venezuela oder in der Türkei. Bilder zweier Staatschefs, des jungen Unberechenbaren und des älteren, der immer wieder einen deal machen will – und die mit Bildern hantieren von einer Welt „voll Feuer und Wut“.

Das sind die Bilder, über die wir auch reden müssen in diesen Tagen – trotz der anderen, schöneren hier auf der Insel. Reden müssen wir auch über den Glauben, der uns an einem Tag durch die Finger rinnt und aus dem wir an anderen Tagen – und gottseidank an viel mehr Tagen - unsere Überlebens-Energie, ja unsere Lebenslust beziehen.

Wo ist Gott? frage ich mich angesichts dieser mich überfordernden Flut an Bildern? Bei denen, die immer oben bleiben? Bei denen, die gerade noch ihre nackte Haut davontragen? Ist Gott auch bei denen, die nicht lebendig ankommen?

Diese Bilder gilt es zu stürmen. Deshalb brauchen wir neue Bilderstürme! Diesen Bildern gilt es ein Ende zu machen. Den öden und sinnentleerten, die gleichgültiges Einerlei ausstrahlen. Viel mehr noch denen, die uns die zersetzende Realität vor Augen stellen. Um Bilder und Bilderverbote soll’s heute in der Tat gehen. Und um die Bilderstürme, die manchen Bildern den Garaus machen wollen. Und auch sollen!

Der Geschichte der Religionen - vor allem der drei monotheistischen Religionen - ist eine Geschichte der Bilderstürme. Der verhinderten und der tatsächlich durchgeführten. Der Anlass dieser Bilderstürme ist ein Abschnitt des Zehnwortes, der Zehn Gebote. Und damit sind wir schon mitten drin im Thema.

Wir brauchen neue Bilderstürmer! Schließlich haben wir den Predigttext eben als Lesung gehört. Mittendrin der Kernsatz: „Du sollst dir kein Bildnis machen!“ In der Version des Buches Exodus, des zweiten Mose-Buches, ist das ein eigenes Gebot. Das zweite Gebot. Nach dem ersten: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Die reformierte Tradition des Protestantismus hat sich dieser Lesart angeschlossen.

Wir finden die Zehn Gebote aber auch im fünften Buch Mose. Daraus haben sie vorhin die heutige Lesung gehört. In dieser Variante ist das Bilderverbot Teil des ersten Gebots. Wie in der lutherischen und der römisch-katholischen Tradition. Es will erläutern, warum Bilder den Glauben an den einen Gott gefährden können.

So oder so: Diese Aufforderung, dieses Bilderverbot, führt mitten in den Kern des Gottesglaubens. Mitten ins Zentrum der Religionen, die einen einzigen Gott verehren. Das Bilderverbot führt mitten hinein in die Frage nach Gott - ob im Christentum, im Judentum oder im Islam.

Das hängt mit der zentralen Bedeutung des Bilderverbots zusammen. Und der Art und Weise, wie Menschen es erfüllt oder es zu umgehen versucht haben. Nicht selten haben sich am Bilderverbot die Geister geschieden. Jan Assmann, der Ägyptologe, Kulturwissenschaftler und kritische Deuter und Begleiter des Eingottglaubens, fragt so in einem bemerkenswerten Vortrag. „Was ist so schlimm am Bilderverbot?“ - Wir singen jetzt erst einmal drei weitere Strophen des Liedes, die Strophen 3 bis 5:

3. An Bilder hast du nie gedacht
durch die man dich erkennt.
Im Zehnwort setzt du voller Macht
der Bilderflut ein End.

4. „Schafft keine Götzen euch aus Holz,
aus Stein und aus Metall.
Begrenzt den eig’nen Schöpferstolz
in eurem Wirken all.

5. Ihr schafft mit eurer Fantasie
ein neues Himmelsheer.
Doch reden diese Götter nie
in Dank, Lob und Beschwer.“


„Was also ist so schlimm am Bilderverbot?“ Und weiter gefragt: Warum lässt manche das zögern, wenn ich sage: Wir brauchen neue Bilderstürme! Als erste Antwort fällt mir vor allem eine ein. Das Bilderverbot ist fast immer mit Gewalt durchgesetzt worden. Deshalb brauchen wir einen neuen Typus von Bilderstürmen. Einen anderen als den des 16. Jahrhundert, als Hitzköpfe der neuen evangelischen Lehre Bilder und Altäre kurz und klein geschlagen haben. Einen anderen als den der Taliban, die 2001 die weltberühmten Buddha-Statuen von Bamiyan zerstört haben.

Das Judentum hat es in gewisser Weise leichter. Das Bilder verbot ist Teil seiner religiösen Identität. Darum halten sich Menschen jüdischen Glaubens meist sehr strikt an das Bilderverbot. Nicht einmal den Namen Gottes, des Ganz-Anderen, darf man aussprechen. Geschweige denn, Gott bildlich darstellen. In manchen Strömungen des Islam wird das Verbot der Darstellung des Propheten ähnlich streng ausgelegt wird. Daran erinnern die heftigen Reaktionen und Demonstrationen nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karrikaturen.

Kein Zweifel also: Das Bilderverbot ist kein akademisches Thema. Es ist angesiedelt mitten in der Bedeutsamkeit des Ein-Gott-Glaubens. Deshalb brauchen wir neue Bilderstürmer!

Was also hat es auf sich mit diesem Satz, mit dieser Aufforderung: „Du sollst dir kein Bildnis machen!“ Egal ob dieser Satz das erste Gebot nur erläutert. Oder ob er als eigenes Gebot verstanden werden will.

Nicht um Bilder an sich geht es. Kaum jemand hat ernsthaft die bildende Kunst an sich verbieten wollen. Es geht um das Bildnis Gottes. Du sollst dir kein „pessel“ machen, heißt es im hebräischen Original. „ Ein „pessel“ ist ein Machwerk. Meist aus Holz geschnitzt. Das andere Mal aus Stein gehauen. Oder aus Metall gegossen.

Nicht um irgendein Machwerk geht es also, sondern um eines, dem göttliche Verehrung zukommt. Wer das Bild eines Gottes herstellt, stellt einen neuen Gott her. Und damit einen Konkurrenzgott zum einen Gott. Wer ein solches „Machwerk“ herstellt, macht Gott Konkurrenz.

Der Klassiker unter den Geschichten, die genau diese Sicht bestätigen, das ist die Erzählung vom Goldenen Kalb. Mose hat den Gottesberg bestiegen, um die Zehn Gebote in Empfang zu nehmen. Doch die Rückkehr des Mose lässt auf sich warten. Aber ohne Mose ist die Verbindung zu Gott nicht möglich. Mose ist der Gottes-Kommunikator.

Da stellen die Menschen ein Tier aus Gold her. eEs sieht aus wie ein junger Stier. Sie umringen ihr Machwerk und singen: „Das ist dein Gott, der dich aus Ägypten befreit hat!“ Wer ein Gottesbild herstellt, dient einem Götzen. Darum brauchten die Menschen schon damals Mose als ihren Bilderstürmer.

Natürlich braucht die Gottesbegegnung ein Medium. Wort, nicht Bild; Hören, nicht Schauen: das sind die Medien der Gottesverehrung und Gotteserkenntnis – um hier die Antwort von Jan Assmann zu zitieren. Das zugewandte, lossprechende Wort, auf das ich so angewiesen bin. Und das ich mir nicht selber sagen kann.

Anders gesagt: Der haptisch erfahrbare, der im Greifen zugängliche Gott, steht immer in Gefahr, ein Götze zu werden. Dies ist der Grund, warum im Christentum das Wort und der Klang in so hohem Ansehen stehen - trotz der Bildergesellschaft, in der wir leben. Warum wir auf Worte der Lesungen und der Predigt hören. Und Choräle und andere Lieder singen.

Dennoch: Dem Bilderverbot kommt heute scheinbar keine große Brisanz mehr zu. Im Gegenteil. Was den Bereich der Kunst angeht, die Situation eher entspannt. Der magische Glaube, das Kunstwerk könne die Rolle einer Gottheit einnehmen, ist längst entzaubert.

Ende gut, alles gut? Also doch kein Bedarf an neuen Bilderstürmern? Ist das Bilderverbot womöglich also nur noch das Problem irgendwelcher fundamentalistischer Randgruppen? Im Islam? Oder auch im Christentum? Mitnichten! Der Ort der Auseinandersetzung hat sich nur verlagert. Es ist nicht mehr die bildliche Darstellung Gottes, die an die Stelle Gottes selber tritt. Aber an Gottes-Dubletten, an Pseudogottheiten, an Lückenfüllern, die den Ort besetzen, den die Gottesstürme freigemacht haben – daran besteht kein Mangel. Im Gegenteil. Darum brauchen wir neue Bilderstürmer.

Einen Schlüssel bietet hier ein Satz Martin Luthers aus seinem Großen Katechismus: „Woran du nun dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott.“ Die Antworten sind so vielfältig wie die Menschen selber.

Trotzdem: Die Antworten auf die Frage, wo Gottes Gott-Sein in Gefahr geraten könnte, haben ein eindeutiges Gefälle. Immer dann, wenn der Mensch in Gefahr gerät, sich selber gottgleich zu gebärden. Immer dann, wenn der Mensch sich auf etwas gründet, dessen Bestand er selber garantieren will. Immer dann, wenn der Mensch auf seiner Suche nach dem transzendenten und zugleich barmherzigen Gegenüber Ausschau hält und nur sich selber entdeckt – immer dann bekommt Gott womöglich Konkurrenz.

Jede Konkretisierung steht hier in der Gefahr, dass sie allzu platt daherkommt. Oder dass man als nörglerischer Kulturpessimist endet. Alles, was der menschliche Verstand ersinnt, ist zunächst neutral. Ist weder gut noch schlecht. Es kommt immer darauf an, was wir daraus machen. Welche Bedeutung es für uns hat. Es kommt darauf an, dass der Mensch im Mittelpunkt bleibt. Es kommt darauf an, dass es die Bilder einer lebenswerten Zukunft sind, die unser Verhalten leiten. Deshalb brauchen wir neue Bilderstürmer.

Wir singen die Strophen 6 bis 8 des Liedes:

6. Die falschen Bilder reißt du ein,
bleibst doch nicht spurenlos.
Der Mensch allein soll Bild dir sein.
Das ehrt ihn, macht ihn groß.

7. Du bist in mancherlei Gestalt
Gott nicht für uns allein.
Vor keinen Grenzen machst du halt,
lässt dich auf Vielfalt ein.

8. In vielen Sprachen rühmt man dich,
mit Namen ohne Zahl.
Dass du im Schwang’ bist, zeiget sich
von neuem jedes Mal.


Bilder, Ideen, Überzeugungen, Ängste, Fanatismen – der Glaube an den einen Gott erträgt viel. Aber irgendwann müssen wir uns immer entscheiden. Freiheit und Unfreiheit – das geht am Ende nicht zusammen. Das sind am Ende klare Alternativen.

Wie wir zu einer rechten Entscheidung bei der Suche nach diesem Gott finden? So schwierig ist das gar nicht. Kein Bild führt uns diesen Gott, um den es geht, glaubwürdiger vor Augen als der Mensch. Der Mensch, der seine Alltagsgeschäfte unterbricht und sich eine Unterbrechung auf Zeit gönnt. Der Mensch, der hierher nach Hiddensee fährt. Oder an die Nordsee. In den Schwarzwald oder die Alpen. Der Mensch, dem es gelingt, am vertrauten Ort zu Hause sein Leben ein Stück weit von Neuem zu beginnen. Der Mensch, der den zerstörerischen alten Bildern den Laufpass gibt. Sie im Bildersturm der eigenen Verwandlung zu neuen Hoffnungs-Bildern werden lässt.

Der Glaube an den einen Gott führt uns zum Menschen. Zum bedürftigen, zum verletzlichen oder eben auch zum hoffenden, zum vertrauensvollen, mir zugewandten Menschen. Wo immer ich dem Menschen ins Angesicht schaue, sehe ich Gott selber in die Augen. Gerade auch in dem, aus dessen Angesicht uns Gottes Gegenwart entgegenleichtet.

Als Suchende, als Menschen Suchende und als Gott Suchende, kommen wir voneinander nicht los. Uns eint das Wissen um die Vorläufigkeit der Welt im Aufruhr und der brüchigen Strukturen, in denen wir unser Leben gestalten. Uns beflügelt die Hoffnung, dass wir Menschen zu einem neuen Miteinander finden. Und zu einer neuen Ethik, die uns davor bewahrt, in die begrenzte und nicht immer lebensdienliche Einsicht unserer alten Bilder zu fallen.

Gott ist Gott. Und der Mensch ein Mensch. Ein Du sind wir einander und ein Gegenüber. Dies ins Leben zu ziehen, in ein gedeihliches, zukunftsoffenes Miteinander über alle Grenzen hinweg und in ein zuversichtliches Gottvertrauen – dass entzieht allen falschen Bildern den Boden. Es verleiht unserem Glauben den nötigen Atem. Gibt uns den genügend Spielraum zum Leben. Und es macht die Bilderstürmer am Ende arbeitslos. Wie gut, denke ich, dass diese Sommerwochen auf Hiddensee uns Gelegenheit geben, davon schon ein wenig mehr zu spüren. Amen.

Jetzt singen wir noch die beiden letzten Strophen:

9. Als Gott, der ohne Bild geglaubt,
bleibst fremd du uns und nah,
hast Wunder uns zu tun erlaubt,
die vorher niemand sah.

10. Am Ende erst kommt dann ans Licht
dein’ Schönheit unverhüllt,
wenn sich ohn’ Bild in freier Sicht
was wir geglaubt, erfüllt.


Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.