PREDIGT
ÜBER LUKAS 11,14-23(24-26)
AM SONNTAG, DEN 12. OKTOBER 2017
(DRITTLETZTER SONNTAG DES KIRCHENJAHRES)
IN DER EVANGELISCHEN STADTKIRCHE IN KARLSRUHE

12.11.2017
Liebe Gemeinde! „Ich liebe den November!“ Meine Tochter sagt das. „Ich liebe seine Dunkelheit“, sagt sie, „weil sie Lichter zum Erstrahlen bringt. Die noch erträgliche Kälte, die die Sehnsucht nach Wärme und Behaglichkeit wachruft. Die sanfte Verhüllung, mit der der Nebel die Wirklichkeit verbirgt.“ Meine Tochter hat womöglich eine besondere Beziehung zum Monat November. Es ist ihr Geburtsmonat.

Ich liebe den November nicht. Es ist der Monat, der mir am wenigsten zusagt. Garstig finde ich ihn oft. Seine Kälte kriecht in jeden Winkel. Kalter Nieselregen, so dass ich am liebsten zu Hause bleibe. Herbststürme, die verhindern, dass ich sorglos spazieren gehe. Der Nebel gibt selbst das Nachbarhaus dem Verschwinden preis. Ungemütlich und fremd kommt mit der November vor. Ich kann auf seine Unbehaglichkeit und seine Befremdlichkeit gut verzichten. Und ich bin jedes Jahr froh, wenn die knackigen Wintertage kommen. Klirrende Kälte. Blauer Himmel. Etwas Schnee vielleicht. Und strahlender Sonnenschein.

Wie es einem mit dem November ergehen kann, so kann es sich auch mit den Predigttexten im November verhalten. Befremdliche Texte am Ende des Kirchenjahres. Ums Ende der Welt geht’s da. Um die Endlichkeit des Menschen. Um die sogenannten letzten Dinge.

Die einen lieben diese Zeit des Kirchenjahres mit ihren besonderen biblischen Bezügen. Und mit den für sie typischen Chorälen. Andere können ihr wenig abgewinnen. Ja sie fürchten sie sogar. Texte, die unbequem und verquer daherkommen. Zumindest beim ersten Lesen und Hinhören. Und deren Türen in unser Leben sich nicht beim ersten Druck auf die Klinke öffnen lassen.

Der für diesen Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres vorgeschlagene Text gehört für mich in diese Kategorie. Ich lade sie ein, sie mitzunehmen in diesen Novembertext. Und mit mir Ausschau zu halten nach Wegen, dieser Zeit und ihren Themen Lebensdienliches abzugewinnen.

Ziehen sie sich warm an und lassen sie sich ein auf diese biblische Novemberwelt! Ich lese aus Lukas 11 die Verse 14 bis 26:

Und Jesus trieb einen Dämon aus, der war stumm. Und es geschah, als der Dämon ausfuhr, da redete der Stumme, und die Menge verwunderte sich. Einige aber unter ihnen sprachen: Er treibt die Dämonen aus durch Beelzebul, den Obersten der Dämonen. Andere aber versuchten ihn und forderten von ihm ein Zeichen vom Himmel. Er aber kannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet und ein Haus fällt über das andre. Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die Dämonen aus durch Beelzebul. Wenn aber ich die Dämonen durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein.

Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. Wenn ein gewappneter Starker seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute. Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. Wenn der unreine Geist von einem Menschen ausgefahren ist, so durchstreift er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet sie nicht; dann spricht er: Ich will wieder zurückkehren in mein Haus, aus dem ich fortgegangen bin. Und wenn er kommt, so findet er es gekehrt und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt sieben andre Geister mit sich, die böser sind als er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie dort, und es wird mit diesem Menschen am Ende ärger als zuvor.


Streit in der Unterwelt, liebe Gemeinde! Streit in der Welt der Dämonen und der bösen Mächte. Streit um die Vorherrschaft. Den Menschen muss es damals so vorgekommen sein. Sie haben sich noch weitaus besser ausgekannt in dieser Welt der dunklen Mächte als wir. Dämonen – manche mit sprechenden Namen wie der eine, der Legion hieß.

Hier heißt er Schweigen. Und wenn er von einem Menschen Besitz ergreift, dann richtet er sich nicht nur ein in diesem Menschen. Er wird zu seiner Weise, in der Welt da zu sein. Schweigt der Dämon, dann schweigt der Mensch.

Jesus bringt einen Menschen zum Sprechen. Holt ihn heraus aus seiner Sprachlosigkeit. Die Aufgabe ist heute nicht überholt. Menschen können sprachlos werden, wenn sie die Wirklichkeit überrollt.

Ich denke an den Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil. In seinem Buch „Die Erfindung des Lebens berichtet er von seiner Kindheit. Seine Mutter hatte das Sprechen eingestellt. Der Verlust von vier Kindern hatte ihre Lebenslust und ihre Sprechfähigkeit buchstäblich zum Verstummen gebracht. Sie war in eine Art Schweige-Koma gefallen. Und – was fast noch schlimmer war - ihr einziger noch verbliebener Sohn kann sich diesem Schweigen nicht entziehen. Wird ab dem dritten Lebensjahr in dieses Schweigen hineingenommen. Er bleibt stumm - bis zu seinem siebten Lebensjahr.

Sein Vater kommt diesem Dämon auf die Spur. Und am Ende können beide ihr Schweigen brechen. Mutter und Sohn! Wenn ich die Bücher von Ortheil lese, kann ich nur erahnen, welche Mächte im Spiel sein müssen, um eine derart gewaltige Spracheenergie unter Verschluss zu halten.

Zur Zeit Jesu sehen die Menschen tatsächlich böse Mächte im Spiel. Dämonen. Und wer ihnen ein Ende bereitet, muss mit stärkeren Mächten im Bund sein. Gewissermaßen mit dem Ober-Dämon. Denn nur der kann ihnen den Garaus bereiten. Jesus – so folgern sie - sitzt mit bösen Mächten in einem Boot. Auch der Ober-Dämon hat einen Namen: Beelzebub nennen sie ihn. Wörtlich: Herr der Fliegen. Der Misthaufen ist sein Lebensraum. Beelzebub, ursprünglich wohl eine Philistergottheit, deren verballhornter Namen ursprünglich „erhabener Herr“ bedeutet.

Und die irritierte Menge fordert Jesus heraus. „Wenn Du nicht mit bösen Mächten im Spiel bist,“, sagen sie, „dann weis’ das bitte nach. Zeig’ uns, mit wem du im Bund bist.“ Die berühmte Zeichenforderung. Ein ums andere Mal. Wer den Lauf der Dinge unterbricht, und sei’s zum Guten, der muss sich legitimieren. Muss sich reinwaschen vom Verdacht, sein Spiel mit der falschen Seite zu treiben.

Interessant, wie Jesus sich einlässt auf die Argumentation derer, die ihm auf die Schliche kommen wollen. „Ihr denkt, ich sei mit Beelzebub im Bund! Gut! Aber auch der Oberdämon hat nur begrenzte Macht. Der Ober-Oberdämon kann ihn wieder aushebeln. Und wenn er’s alleine nicht schafft, dann kommen sie zu siebt!“ Nein, das ist keine Lösung! Weil sie keine Sicherheit bietet. Am Ende gibt es immer einen, der noch stärker ist.

Und mit einem Mal geht im Novembertext die Sonne auf. Es gibt eine Alternative zum Oberdämon. Nämlich die Verweigerung der Anerkenntnis seiner Wirklichkeit. Der Ausstieg aus diesem Denken! Diesem Denken in Analogie zur Welt. Diesem Denken in Machtstrukturen. In oben und unten. In sich Wehren. Und Gegenhalten. Und Übertrumpfen. „Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist das Reich Gottes gekommen.“ Kein geistliches Body-Building also. Der kleine Finger reicht.

Einfach aussteigen aus diesem unsäglichen Denken. Und aus diesem bösen Machtspiel. Einfach das Schweigen brechen. Das eigene zuerst. Und damit auch das Schweigen der anderen. Wie der Vater des kleinen Hanns-Josef Ortheil. Wie der Hashtag „me too“ auf Twitter, der öffentlich macht, was unter dem Deckel bleiben sollte. Wie die Organisation “breaking the silence“ in Israel, die Vergehen gegen die Menschenfechte in Militäreinsätzen offenlegt. Wie die 15jährige Schülerin aus Dresden, die einen Klassenkameraden anzeigt, weil er ein ums andere unerträgliche Nazisprüche von sich gibt. Wie Jesus, der mit dem Stummen spricht und sein Schweigen löst.

Der kleine Finger, das eine mutige Wort reicht aus. Und die Welt der Dämonen erweist sich als Scheinwelt. Der Nebelschleier über den Dämon Schweigen und seinen Ober-Dämon Beelzebub wird einfach weggezogen. Und es kommt zum Vorschein, was sie sind, nämlich nicht einmal ein Hauch. Einfach ein Nichts.

Im Reich Gottes kommen diese dämonischen Ränkespiele ein für alle Mal an ihr Ende. Ein ganz kleiner Anfang reicht aus. Das kleine Zutrauen, das dem großen den Weg bahnt. Das kleine Lächeln, das den finsterem Gegenblick in sich zusammenfallen lässt. Das kleine, lösende Wort, das am Ende himmlische Klänge vernehmbar macht.

Der Widerspruch ist nicht aus der Welt zu schaffen. Der Streit in der Welt der Dämonen zeigt doch Wirkung. In den bösen Verwicklungen und unheiligen Ränkespielen dieser Welt. Nicht durchgehaltenes Vertrauen. Zerbrechende Beziehungen. Tückische Krankheiten. Die ungebrochene Macht des Todes.

Mit dem kleinen Finger ist da das Reich Gottes nicht herbeizuschnipsen. Und dass dem Bösen Realität zukommt, wird niemand ernstlich leugnen. Ist die Novemberwelt also unser Schicksal? Entgehen können wir ihr nicht. Aber das Böse ist niemals die eigentliche Bestimmung eines Menschenlebens. Und es entspringt in aller Regel keinen Handlungsstrategien finsterer Dämonen – selbst dann, wenn es uns so vorkommt. Selbst dann nicht, wenn wir keine andere Erklärung haben.

Von Jesus sind auch andere Sätze zum Reich Gottes überliefert als der aus Lukas 11. „Es kommt nicht so“, sagt Jesus ein ander Mal, „dass wir sagen könnten, hier ist es oder da! Es ist gegenwärtig – schon jetzt.“ Aber nicht so, dass es unsere Wirklichkeit allein bestimmt.

Unser Leben verwirklicht sich in einem Zwischenraum. Es wird gelebt im Spannungsfeld zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“. Noch ist das Reich Gottes erst so etwas wie die Perspektive, unter der wir unser Leben sehen. Und unter die wir unser Leben stellen. Im Kleinen lässt es sich wahrnehmen. Eher als Ausnahmefall denn als Regel. In dem einen, der seine Sprache wiederfindet. Im Wort das ich mutig ergreife zugunsten eines anderen. In der kleinen Initiative, die sich für gerechte Produktionsbedingungen einsetzt. In Kundgebungen zugunsten eines ernsthaften Klimaschutzes wie gestern in Bonn. Im Verzicht, dem bösen Wort ein weiteres entgegenzusetzen. In der Hand, die beim Sterben eine andere hält.

Nicht wegschnipsen lässt sich, was uns am Leben hindert. Aber manchmal vielleicht doch wegglauben. Aber gerade nicht, indem ich auf die Möglichkeiten der Macht setze. Ein Finger reicht manchmal dafür schon aus.

Aber verurteilt dazu, untätig zu sein, bin ich dennoch nicht. Und die Auseinandersetzung mit den Kräften, die dem Leben im Wege stehen, ist manchmal ohne Streit nicht zu haben. Es müssen sich gar nicht die Dämonen mit Beelzebub streiten. Ich selber kann dem Streit auch nicht immer entgehen. Niemand unter uns kann das.

„Streit!“ – mit einem Ausrufezeichen dahinter, so lautet das Motto der diesjährigen Friedensdekade. Sie beginnt mit dem heutigen Sonntag. Seit 1980 gibt es diese zehn Tage. Sie rücken in besonderer Weise Themen in den Mittelpunkt, die mit der Sorgen um den Frieden im Zusammenhang stehen.

„Streit!“ – das diesjährige Thema - meint nicht ein nörgelndes Querulantentum. Es zielt auch nicht auf einen Machtkampf der finsteren Mächte der Dämonen untereinander wie im Predigttext. „Streit!“ meint hier die Bereitschaft zur ehrlichen Klärung unterschiedlicher Positionen. Solcher Streit ist unvermeidbar und hilfreich zugleich. Er klärt, was sich sonst in anderer Weise sein Recht verschafft.

„Wer nicht mit mir ist, wer nicht auf meiner Seite steht“; heißt es im Predigttext, „der steht auf der anderen Seite!“. Schroff hört sich dieser Satz an. Aber nicht immer kommen wir um klare Alternativen herum. „Streit!“ – das Motto der diesjährigen Friedensdekade - spricht ein wichtiges Thema an. Und in diesem Prozess der Klärung kann sich die Temperatur dann manchmal auch schon in Richtung Gefrierpunkt bewegen. Und es kann schon dauern, bis sich die letzten Nebel verzogen haben. Das sind dann eben die gefürchteten Novemberzeiten. Aber es geht wohl nicht ohne, wenn wir dem Reich Gottes Raum verschaffen wollen.

Man muss diese Novembertage deshalb immer noch nicht lieben. Aber unter der Perspektive, dass diese Tage nicht die letzten Tage sind, sind sie auf alle Fälle leichter zu ertragen. Zumal am Ende nicht nur ein neuer Frühling winkt, sondern das Reich Gottes. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.