PREDIGT ÜBER LUKAS 15,1-7
IM GOTTESDIENST ANLÄSSLICH DER WIEDEREINWEIHUNG DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN LINKENHEIM
AM SONNTAG, DEN 2. JULI 2017
(3. SONNTAG NACH TRINITATIS)

02.07.2017
Liebe Gemeinde!

Zu allererst: Herzlichen Glückwunsch! Herzlichen Glückwunsch zur Wiedereinweihung und zur Wiederindienstnahme ihrer wunderschönen Kirche hier in Linkenheim. Ich freue mich sehr, dass ich heute mit ihnen feiern und ihnen die Festpredigt halten darf.

Sie haben jetzt lange auf ihre Kirche verzichten müssen. Fast eindreiviertel Jahre! Dafür erstrahlt sie heute in neuem Glanz. Das war keine Renovierung, wie es sie im Laufe der Geschichte ihrer Kirche immer wieder einmal gegeben hat. Das war eine Art baulicher Reformation ihrer Kirche an Haupt und Gliedern. Außen und innen. Auf dem Dach genauso wie tief im Fußboden.

Wenn ich mir die Bilder in der Festschrift anschaue - ich bin mir sicher, da hat es Phasen gegeben, die waren weit entfernt von der Schönheit, in der sich die Kirche heute wieder darstellt. Und manch einer der Verantwortlichen mag sich klammheimlich gefragt haben, ob das denn alles ein gutes Ende nehmen wird.

Es hat ein gutes Ende genommen – ein sehr gutes sogar! Darüber freue ich mich mit ihnen. Und gratuliere ihnen persönlich und im Namen der Landeskirche.

Ihre Kirche ist ja schon von Weitem nicht zu übersehen. Sie prägt das Ortsbild, wenn man sich ihrem Ort nähert. Und der Turm bildet noch so etwas wie ein unübersehbares Verbindungsglied zwischen Himmel und Erde. Dass die Menschen vor bald eineinhalb Jahrhunderten die Kirche auch baulich und in ihren Ausmaßen so in den Mittelpunkt gerückt haben, das war damals sehr wohl ein Bekenntnis. Ein Bekenntnis aus Stein!

Die Kirche, die alle anderen Gebäude überragt, brachte für die Menschen sichtbar zum Ausdruck: Hier geht es um das Höchste, was für uns Bedeutung hat. Genauer gesagt: Hier geht es um den Höchsten!

Das ist heute längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Wenn ich etwa mit dem Zug - wie erst wieder in der vergangenen Woche - durch Frankfurt fahre, sehe ich, wem die Menschen heute wohl die größte Bedeutung zumessen. Die Bankentürme überragen alle anderen Gebäude. Vor allen anderen mittlerweile das Haus der Europäischen Zentralbank. Mit dem unübersehbaren Euro-Zeichen: Wie wenn es sagen wollte: „Geld regiert die Welt!“

Andere Häuser stehen den Banken in der Höhe kaum nach. Versicherungen. Gewerkschaften. Verbände. Und auch hier schwingt eine Botschaft mit: „Wir sorgen selber erfolgreich für unsere Interessen.“

Andere Städte, wie etwa im Ruhrgebiet, sind von großen Industriegebäuden gekennzeichnet. Auch wenn die alten Schlote und Fördertürme weniger werden. Dafür erheben sich überall die Firmenzentralen mit ihren Logos in den Himmel. Und unüberhörbar senden sie die Botschaft aus: „In der Arbeit und bei uns findet der Mensch zu sich selber.“

Wenn man ihre Kirche betritt, sendet ein ganz anderer seine Signale. Da heißt es: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken!“ Trotz all dem, was all diese Institutionen zum Bestand und zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen: Hier schwingt noch ein anderer Ton mit. Da sind es nicht wir, die liefern müssen. Da nimmt uns ein anderer in den Blick. Liebevoll und jedem einzelnen, jeder einzelnen zugewandt.

Dass diese Botschaft hier bei ihnen noch lange unübersehbar und unüberhörbar bleibt, dem sollte die fast zwei Jahre lange Renovierung und Sanierung dienen.

Dabei sind sie ja wahrhaftig nicht die einzige Kirche, die auf ihre grundlegende Sanierung gewartet hat. An Kirchengebäuden haben wir keinen Mangel. Gottseidank! Wir haben immer noch sehr viele. Ihre Pflege und ihr Erhalt stellen uns vor große Herausforderungen. In den einzelnen Gemeinden. In der Landeskirche. Und wo das Land die Baupflicht hat, auch die Verantwortlichen dort.

Mit umso mehr Freude und Stolz können sie heute sagen: Wir sind mit unserer Sanierungsbedürftigkeit wahrgenommen und gefunden worden! Staatliche Baupflicht und landeskirchliche Begleitung, auch in baulichen Fragen, haben der Sanierung unserer Kirche Priorität eingeräumt. Und andere mit deren Kirchen hintenan gestellt. Auch das feiern wir heute miteinander. Und unsere Freude ist ein Abbild der großen Freude Gottes, wenn wir die Botschaft dieser Kirche recht hören.

Wir sind wahrgenommen und gefunden worden! Warum ich das so sage? Das hängt mit dem heutigen Predigttext zusammen. Da geht’s genau auch um die Wahrnehmung des einzelnen. Und die Freude, wenn dieses einzelne, das den Vorzug vor anderen enthält, ganz besonders in den Blick gerät.

Ich lese aus Lukas 15 die Verse 1-10:

Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.


Am Ende gibt es jedes Mal ein Freudenfest, liebe Gemeinde! Über das wiedergefundene Schaf. Über den wiedergefundenen Groschen. Und wenn wir schauen, wie es in der Bibel nach dem Predigttext weitergeht, dann folgt das Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Und auch dessen Heimkehr endet mit einem Fest. Auch wenn der ältere Bruder die Stimmung etwas verdirbt.

Wer findet, der feiert! So ließe sich die Botschaft dieser Gleichnisse am besten und am kürzesten zusammenfassen. Wer findet, der feiert!

Vor weinigen Wochen, beim Evangelischen Kirchentag in Berlin, ist mir dieser Satz in den Sinn gekommen. Im Zusammenhang der Gleichnisse Jesu von der Zuwendung zu den einzelnen. Im Dom habe ich eine Veranstaltung besucht. Jeder Platz war besetzt. Der Referent sprach davon, wie Menschen im Leben ihren Frieden finden können. Die Frau neben mir fängt plötzlich an zu weinen. Ich spreche sie an. „Ich habe meinen Frieden noch nicht gefunden“, sagt sie. „Dabei suche ich schon so lange.“

Sie fängt an, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Und plötzlich ist nur noch die eine im Blick, mitten unter Tausenden. Aus ihren beruflichen Plänen ist nichts geworden. Nach der Wende findet sie in Ostdeutschland keine Arbeit mehr. Im Westen geht sie einer Hilfstätigkeit nach. Eigentlich unter ihrer Würde, sagt sie. Seit kurzem ist sie im Ruhestand.

Wir sprechen lange miteinander. Ganz leise, um die anderen nicht zu stören. Von den Referenten bekomme ich nichts mehr mit. Die Frau hat sich längst beruhigt. Plötzlich steht sie auf, strahlt und sagt: „Das hat mir jetzt gut getan. Ich glaube, ich bin dem Frieden jetzt ein wenig näher gekommen.“ Dann verlässt sie den Dom.

Ihr Strahlen, das war das war ein wenig wie Feiern. Und ich bin sicher: Da war auch im Himmel Freude über die eine, die ihrem Frieden ein Stück näher gekommen ist.

Was für die eine in Berlin der Dom war, das will auch ihre Kirche hier in Linkenheim sein. Und andere Kirchen im Übrigen auch. Ein Ort, an dem der einzelne Mensch im Blick ist. Ein Ort, an dem Menschen ihrem Frieden ein Stück näher kommen. Ein Ort, wo ich loslassen kann, was mir Mühe macht und mich beschwert.

Aber eben auch das andere: Ein Ort, an dem gefeiert wird. Ein Ort, der ein Spiegelbild des Himmels sein will. Ein Ort, der die Botschaft aussendet: Wir feiern, weil du wichtig bist. Für feiern, dass es dich gibt. Und immer wieder feiern wir auch, indem wir Brot und Wein miteinander teilen. Und so zur Gemeinschaft, zur Gemeinde werden.

Christliche Gemeinde lässt den einzelnen nicht in der großen Masse verschwinden. Die Ideologien, die der Masse den Vorzug vor dem einzelnen geben, haben die Menschen immer nur ins Unheil geführt. Wir Deutschen haben da unsere eigene leidvolle Erfahrung. Weltanschauungen, die Menschen pauschal eingruppieren – in Einheimische und Ausländer, in Weiße und Farbige, in Heteros und Gleichgeschlechtliche, in Christen und Nichtchristen – und die dann den einen den Vorzug vor den anderen geben, die verraten die Botschaft, die Jesus mit diesen Gleichnissen verbindet.

Fromme und weniger Fromme gibt es da. Und als Jesus sich mit denen zum Feiern hinsetzt, die zu den weniger Frommen gehören, da proben die anderen den Aufstand. „Was, mit denen trifft er sich! Mit denen sitzt er an einem Tisch!“

In diesen Aufstand der vermeintlich Frommen hinein, erzählt Jesus seine beiden Lern-Geschichten. Es gibt sie gar nicht, diese beiden Schubladen. Es gibt immer nur jeweils besondere, einzelne Menschen. Und die, mit denen wir mehr Mühe haben, die hat Jesus uns besonders ans Herz gelegt. Weil sie Gott besonders am Herzen liegen.

Das mag uns manchmal Mühe machen. Und manche von uns mögen dann auch murren wie die Schriftgelehrten, denen Jesus diese Geschichte erzählt. Aber Leben in der Nachfolge dieses Jesus, führt immer zu Fest der Suchenden. Nur wer auf de Suche bleibt, auch auf der Suche nach Gott, nur wer auf dieser Suche bleibt, kann am Ende auch fündig werden. Und kann am Ende dann auch feiern.

Immer wieder entdecke ich die mürrischen und fragenden Gesichter des älteren Bruders aus dem Gleichnis vom Verlorenen Sohn - auch unter uns in der Kirche. Viel zu oft erahne ich die Worte: „Wir sind doch immer auf der richtigen Seite gewesen, Gott. Warum lädst du denn die anderen zum Fest?“

Doch eingeladen sind wir alle. Zum Feiern. Auch in dieser Kirche. Ein Gotteshaus ist sie. Aber nicht, weil alle, die diese Kirche aufsuchen, Gottes längst habhaft sind. Ein Gotteshaus ist diese Kirche, weil Gott in sein Haus einlädt. Das ist allemal Grund genug, dafür zu sorgen, dass dieses Gotteshaus auch ein schönes Haus ist.

Eingeladen sind wir alle. Wie wir alle Suchende sind. Gottsucherinnen und Gottsucher. Ein Leben lang. Immer wieder aufs Neue.

Eingeladen sind wir alle. Nur wenn wir suchen, werden wir auch finden. Und wenn wir Gott suchen, werden wir entdecken, dass Gott sich längst hat finden lassen. In dem einen, in dem Gott wurde wie wir. In Jesus aus dem Nazareth, seinem Christus, dem wir Schwester und Bruder werden können. Und dessen einladende Worte dieser Kirche ihr besonderes Gepräge geben.

Wo gefunden wird, wird dann auch gefeiert. Schön, dass dies jetzt auch wieder in dieser Kirche geschehen kann. Darüber freuen sie sich hier in Linkenheim. Darüber herrscht Freude auch im Himmel. Da bin ich mir ganz sicher. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.