PREDIGT
IM GOTTESDIENST MIT DER KANTATE IV
DES WEIHNHACHTSORATORIUMS VON J. S. BACH
AM DIENSTAG, DEN 26.12.2017
(ZWEITER WEIHNACHTSFEIERTAG)
IN DER STADTKIRCHE IN SCHWETZINGEN
26.12.2017
Liebe Gemeinde!
„Die vierte! Das ist doch die, die nie aufgeführt wird.“ Diesen Satz habe ich gleich ein paar Mal gehört, als ich erzählt habe, worum’s heute geht in diesem Gottesdienst. Kein Zweifel – ich gönne es dieser vierten Kantate aus Bachs Weihnachtsoratorium, dass sie heute ganz allein im musikalischen Zentrum steht. Ohne die Konkurrenz der fünf anderen.
Die vierte ist die häufig übersehene Kantate. Das Kuckuckskind in der Reihe der Kantatengeschwister – zumindest was die Aufführungen anbelangt. Die vierte Kantate wird immer ausgelassen, wenn nicht ohnedies alle sechs musiziert werden. Keine festlichen Trompeten, dafür aber doch Hörner. Keine Pauken. Dafür eindrückliche Klänge, weich und verhalten.
Die vierte ist die Kantate des Neujahrstages! Und in diesem Jahr sind verhaltene Klänge mindestens genauso angebracht wie damals zu Bachs Zeiten. Beim Jahreswechsel von 1734 auf 1735. In Sachsen herrschte einigermaßen Stabilität. Aber Armut war ein Thema. Und die nächsten Kriege vor der Haustür. Nein, das war keine Beschwichtigungsmusik. Kein musikalisches Opium für das Volk. Es war Ausdruck der Hoffnung, einer möge sich an die Spitze derer stellen, die auf eine bessere Zukunft hoffen. Auf den Kurfürst und Thronfolger hoffte man. Aber Bach und viele andere hofften viel mehr noch auf Gott.
Und so hat Bach gerade im Weihnachtsoratorium ein ums andere Mal Musik, die ursprünglich dem sächsischen Kurfürsten oder Mitgliedern seiner Familie gewidmet war, für seine geistliche Musik weiterverwendet. Der Eingangschor der vierten Kantate stammt ursprünglich aus der Geburtstagskantate für den Kurprinzen, geschrieben im Jahr 1733, also ein Jahr vor der ersten Aufführung des Weihnachtsoratoriums. Was für diesen irdischen Fürstenspross gilt, muss doch noch viel mehr gelten für den Friedefürst der Weihnacht – so ähnlich wird Bach sicher gedacht haben.
Nur die drei Texte des Liederdichters Johann Rist hat Bach in dieser Kantate eigens vertont. Johann Rist war im 17. Jahrhundert der bekannteste Liederdichter neben Paul Gerhard. (Auch der Text des Chorals, den wir vorhin gehört haben, das „Brich an, du schönes Morgenlicht, stammt von Johann Rist).
Den Schlusschoral der vierten Kantate aus Bachs Weihnachtsoratorium haben sie sicher auch noch im Ohr. Die längst vorhandene Melodie hat Bach durch eine neue ersetzt. Aus sechs Zeilen besteht der Text. Und jede Zeile beginnt mit dem Namen Jesus. Dem Namen dessen, um den es eben geht an Weihnachten.
Jesus richte mein Beginnen,
Jesus bleibe stets bei mir,
Jesus zäume mir die Sinnen,
Jesus sei nur mein Begier,
Jesus sei mir in Gedanken,
Jesu, lasse mich nicht wanken!
In dieser vierten Kantate geht es also in ganz besonderer Weise um diesen Namen: Jesus! Ihr Thema ist die Namensgebung überhaupt. Nur ein Vers aus dem Weihnachtsbericht des Lukas liegt ihr zugrunde. Viel weniger an biblischem Text als in den fünf anderen Kantaten. Wir hören noch einmal diesen einen Vers, den der Evangelist ja vorhin schon gesungen hat:
Und da acht Tage um waren, dass das Kind beschnitten würde, da ward sein Name genennet Jesus, welcher genennet war von dem Engel, ehe denn er im Mutterleibe empfangen ward.
Um die Beschneidung und die Namensgebung geht es also. Und die müssen für Bach so wichtig, so zentral gewesen sein, dass er ihnen eine eigene Kantate widmet.
In Schwetzingen trägt vermutlich niemand den Vornamen Jesus. Das ist bei uns in Deutschland ohnedies erst seit 1998 nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt erlaubt. In den ersten zwölf Jahren nach dieser Entscheidung haben sich nur vier Eltern in Deutschland dafür entschieden, ihr Kind Jesus zu nennen. Vielleicht sind es inzwischen ein paar mehr. Aber es ist immer noch die Ausnahme.
In Spanien und in Südamerika ist das ganz anders. Da ist Jesus ein Allerweltsname – wie in Israel vor zweitausend Jahren. Und wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn Maria und Josef ihren Erstgeborenen Jesus nennen. Jeschua. Ins Deutsche vermutlich zu übersetzten mit: Gott ist unser Retter! Das war die ganze Hoffnung vieler Menschen. Arm. Ohne Perspektive. Und unter römischer Besatzung. Auf wen anders als auf Gott sollten sie ihre Hoffnung setzen! Und einer mit dem Namen Jeschua hatte sie schon einmal gerettet. Und als Nachfolger des Mose ins gelobte Land geführt.
Was gibt diesem einen Vers aber soviel Gewicht, dass er der Leitvers einer ganzen Kantate wird? Ich glaube, es ist wirklich die Bedeutung der Namensgebung. Auch wenn es ein Allerweltsname ist. Unser Name macht uns unterscheidbar. Das weiß niemand besser als ich mit meinem besonderen Vornamen, den auch nicht viel mehr Menschen tragen als den Namen Jesus.
Der Vorname – zumal in der Kombination mit dem Nachnamen – macht einen Menschen besonders. Und da es zu Jesu Zeit keine Nachnamen gegeben hat, hat man die Eltern, meist den Vater dazu genannt. Oder den Wohnort. Jesus, Sohn des Josef hat er sicher geheißen. Daran hat damals wohl kaum einer gezweifelt. Oder eben Jesus aus Nazareth. Das wird später als Identifikationsmerkmal an seinem Kreuz hängen.
Dieser eine, Jesus, Sohn des Josef und der Maria, aufgewachsen in Nazareth, er ist schon unterschieden von den vielen anderen, die damals und bis heute diesen Namen tragen. Er ist unterschieden von uns allen, Schließlich ist er der, um den es geht an diesem Fest der Weihnacht, das Christenmenschen feiern seit 2000 Jahren. Er ist der, aus dessen Angesicht uns Gottes Wirklichkeit selber entgegenleuchtet.
Aber dieser eine, Jesus, Sohn des Josef und der Maria, aufgewachsen in Nazareth, er ist uns zugleich ganz nahe. Er will gar nicht unterschieden sein. Genau darum geht es in diesem einen Vers des Lukas. Dieser eine ist nichts anderes als ein Mensch, geboren von einer jungen Frau, aufgewachsen in der Familie eines Wanderhandwerkers, eines Zimmermanns, wie wir gerne sagen, dieser eine kommt zur Welt wie jede und jeder von uns. Als Kind, in Windeln gewickelt und in einen hölzernen Trog gelegt.
Dieser eine bleibt nicht namenlos, er erhält einen Namen wie viele andere Kinder, die zu seiner Zeit geboren werden. Dieser eine wird nach der Tradition der Religion seiner Eltern in das in Geltung stehende Beziehungsmuster zwischen Gott und Mensch ausgenommen. Er wird nach acht Tagen beschnitten, ganz ähnlich wie Kinder bei uns bis in die Gegenwart getauft werden.
Dieser eine, Jesus, Sohn des Josef und der Maria, aufgewachsen in Nazareth, ist ein Mensch wie wir. Verletztlich. Ein unscheinbares Kind armer Leute, zu dem verhaltene Hörnerklänge doch viel besser passen als Pauken und Trompeten. Gerade deshalb ist mir die vierte Kantate so lieb, mit ihrer Musik, die weich und verhalten daher kommt. Und gerade deshalb gönne ich ihr diesen Gottesdienst!
Solche weihnachtlichen Klänge – ich finde, wir haben sie bitter nötig. Dieses Kind in der Krippe, es ist ein unüberhörbares Gegenzeichen gegen viele Mächtige dieser Tage. Laut und ichbezogen kommen sie daher, ohne Einfühlungsvermögen und nur auf die Ausweitung ihrer Macht konzentriert. Sie faseln von Europa und meinen ihre eigene kleine Welt, die sie angeblich in Sicherheit bringen wollen. Sie halten in Brüssel die Hand auf. Und zu Hause lassen sie ihre Türen zu, wenn andere um Einkehr bitten - wie Maria und Josef in Bethlehem. Sie sprechen von Entlastung der kleinen Leute und entlasten ihr eigenes Vermögen in Milliardenhöhe. Sie geben vor, den Frieden zu suchen, und stürzen Jerusalem in Unfrieden. Ein solches Denken, so habe ich unlängst gelesen, das sei Ausdruck eines Versicherungsglaubens. Ausdruck einer Haltung, die nichts anderes im Sinn hat als die Absicherung dessen, worauf ich meine, ein Recht zu haben.
Bach lässt in seiner vierten Kantate einen Verunsicherungsglauben besingen. Einen Glauben, der einem Gang übers Wasser gleicht. Und der doch viel tiefer ins Zentrum dessen führt, was Leben wirklich meint.
Vom Versicherungsglauben zum Verunsicherungsglauben! So kurz also ist der Weg von Bachs ungehörter vierter Kantate zu den Unerhörtheiten der Gegenwart. Und ich wage mir kaum vorzustellen, welche Sorgen sich der sächsische Starkomponist Johann Sebastian Bach um das Sachsen der Gegenwart machen würde. Und mit welchen Kantaten er Einspruch einlegen würde, wenn die Botschaft dieses einen, Jesus, Sohn der Maria und aufgewachsen in Nazareth, mit einem Mal in ihr Gegenteil verkehrt wird.
Diese leise vierte Kantate, sie ist in manchem mutiger als die festlichen Kantaten, die ihr vorausgehen und nachfolgen. Aber wenn man hört, mit welch musikalischer Lust Bach in den letzten beiden Kantaten den König Herodes in die Irre führen lässt, dann kann man schon ahnen, wo Bachs Sympathien liegen: Bei dem Gott, der sich nicht zu schade ist, Mensch zu werden in einem Kind. Und bei den Menschen, die Gott da suchen, wo dieser Jeschua, dieser „Gott rettet“, einen ganz anderen Gott aufscheinen lässt, als den Gott, der mit den Mächtigen zu Tisch sitzt.
Es ist so unglaublich, dass auch ich zu dieser so ganz anderen, weihnachtlichen Perspektive auf Gott finden kann. Dass uns ein Gott aufleuchtet, der uns einen Namen gibt, damit „Gott ist unser Retter“ zu unser aller Namen wird. Dass uns ein Gott aufleuchtet, der uns einbindet in die Lebensumstände der Wirklichkeit um uns herum. Der uns singen lässt in Synagogen und Kirchen, in Tempeln und Moscheen.
Aber genauso wichtig ist es, dass mir in dieser so unendlich irdischen weihnachtlichen Geschichte immer wieder Engel begegnen. Dass ich hinter den vielen Lichtern das eine Licht erahne, dass die Welt in ein neues Licht rückt. Dass ich mir sicher sein kann, dass Gottes Geist jeden Ungeist am Ende zum Schweigen bringt. Dass ich weiß, dass sich hinter jeder Menschengeschichte eine Gottesgeschichte verbirgt.
Wie gut, dass es die zweite Geschichte meines Lebens gibt. Und dass diese meine zweite Geschichte am Ende immer gut ausgeht. Wie gut, dass sich in dieser oft übersehenen, viel zu wenig musizierten vierten Kantate des Weihnachtsoratoriums die ganze Weihnachtsgeschichte verbirgt.
Ich kann mich mit meiner ureigenen Lebensgeschichte gut aufgehoben wissen in der Geschichte, die Gott für mich schreibt. Und ich vertraue darauf, dass beide Geschichten – irgendwann – in eine zusammenfallen. Das lasst uns feiern. Nicht nur an Weihnachten. Amen.
„Die vierte! Das ist doch die, die nie aufgeführt wird.“ Diesen Satz habe ich gleich ein paar Mal gehört, als ich erzählt habe, worum’s heute geht in diesem Gottesdienst. Kein Zweifel – ich gönne es dieser vierten Kantate aus Bachs Weihnachtsoratorium, dass sie heute ganz allein im musikalischen Zentrum steht. Ohne die Konkurrenz der fünf anderen.
Die vierte ist die häufig übersehene Kantate. Das Kuckuckskind in der Reihe der Kantatengeschwister – zumindest was die Aufführungen anbelangt. Die vierte Kantate wird immer ausgelassen, wenn nicht ohnedies alle sechs musiziert werden. Keine festlichen Trompeten, dafür aber doch Hörner. Keine Pauken. Dafür eindrückliche Klänge, weich und verhalten.
Die vierte ist die Kantate des Neujahrstages! Und in diesem Jahr sind verhaltene Klänge mindestens genauso angebracht wie damals zu Bachs Zeiten. Beim Jahreswechsel von 1734 auf 1735. In Sachsen herrschte einigermaßen Stabilität. Aber Armut war ein Thema. Und die nächsten Kriege vor der Haustür. Nein, das war keine Beschwichtigungsmusik. Kein musikalisches Opium für das Volk. Es war Ausdruck der Hoffnung, einer möge sich an die Spitze derer stellen, die auf eine bessere Zukunft hoffen. Auf den Kurfürst und Thronfolger hoffte man. Aber Bach und viele andere hofften viel mehr noch auf Gott.
Und so hat Bach gerade im Weihnachtsoratorium ein ums andere Mal Musik, die ursprünglich dem sächsischen Kurfürsten oder Mitgliedern seiner Familie gewidmet war, für seine geistliche Musik weiterverwendet. Der Eingangschor der vierten Kantate stammt ursprünglich aus der Geburtstagskantate für den Kurprinzen, geschrieben im Jahr 1733, also ein Jahr vor der ersten Aufführung des Weihnachtsoratoriums. Was für diesen irdischen Fürstenspross gilt, muss doch noch viel mehr gelten für den Friedefürst der Weihnacht – so ähnlich wird Bach sicher gedacht haben.
Nur die drei Texte des Liederdichters Johann Rist hat Bach in dieser Kantate eigens vertont. Johann Rist war im 17. Jahrhundert der bekannteste Liederdichter neben Paul Gerhard. (Auch der Text des Chorals, den wir vorhin gehört haben, das „Brich an, du schönes Morgenlicht, stammt von Johann Rist).
Den Schlusschoral der vierten Kantate aus Bachs Weihnachtsoratorium haben sie sicher auch noch im Ohr. Die längst vorhandene Melodie hat Bach durch eine neue ersetzt. Aus sechs Zeilen besteht der Text. Und jede Zeile beginnt mit dem Namen Jesus. Dem Namen dessen, um den es eben geht an Weihnachten.
Jesus richte mein Beginnen,
Jesus bleibe stets bei mir,
Jesus zäume mir die Sinnen,
Jesus sei nur mein Begier,
Jesus sei mir in Gedanken,
Jesu, lasse mich nicht wanken!
In dieser vierten Kantate geht es also in ganz besonderer Weise um diesen Namen: Jesus! Ihr Thema ist die Namensgebung überhaupt. Nur ein Vers aus dem Weihnachtsbericht des Lukas liegt ihr zugrunde. Viel weniger an biblischem Text als in den fünf anderen Kantaten. Wir hören noch einmal diesen einen Vers, den der Evangelist ja vorhin schon gesungen hat:
Und da acht Tage um waren, dass das Kind beschnitten würde, da ward sein Name genennet Jesus, welcher genennet war von dem Engel, ehe denn er im Mutterleibe empfangen ward.
Um die Beschneidung und die Namensgebung geht es also. Und die müssen für Bach so wichtig, so zentral gewesen sein, dass er ihnen eine eigene Kantate widmet.
In Schwetzingen trägt vermutlich niemand den Vornamen Jesus. Das ist bei uns in Deutschland ohnedies erst seit 1998 nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt erlaubt. In den ersten zwölf Jahren nach dieser Entscheidung haben sich nur vier Eltern in Deutschland dafür entschieden, ihr Kind Jesus zu nennen. Vielleicht sind es inzwischen ein paar mehr. Aber es ist immer noch die Ausnahme.
In Spanien und in Südamerika ist das ganz anders. Da ist Jesus ein Allerweltsname – wie in Israel vor zweitausend Jahren. Und wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn Maria und Josef ihren Erstgeborenen Jesus nennen. Jeschua. Ins Deutsche vermutlich zu übersetzten mit: Gott ist unser Retter! Das war die ganze Hoffnung vieler Menschen. Arm. Ohne Perspektive. Und unter römischer Besatzung. Auf wen anders als auf Gott sollten sie ihre Hoffnung setzen! Und einer mit dem Namen Jeschua hatte sie schon einmal gerettet. Und als Nachfolger des Mose ins gelobte Land geführt.
Was gibt diesem einen Vers aber soviel Gewicht, dass er der Leitvers einer ganzen Kantate wird? Ich glaube, es ist wirklich die Bedeutung der Namensgebung. Auch wenn es ein Allerweltsname ist. Unser Name macht uns unterscheidbar. Das weiß niemand besser als ich mit meinem besonderen Vornamen, den auch nicht viel mehr Menschen tragen als den Namen Jesus.
Der Vorname – zumal in der Kombination mit dem Nachnamen – macht einen Menschen besonders. Und da es zu Jesu Zeit keine Nachnamen gegeben hat, hat man die Eltern, meist den Vater dazu genannt. Oder den Wohnort. Jesus, Sohn des Josef hat er sicher geheißen. Daran hat damals wohl kaum einer gezweifelt. Oder eben Jesus aus Nazareth. Das wird später als Identifikationsmerkmal an seinem Kreuz hängen.
Dieser eine, Jesus, Sohn des Josef und der Maria, aufgewachsen in Nazareth, er ist schon unterschieden von den vielen anderen, die damals und bis heute diesen Namen tragen. Er ist unterschieden von uns allen, Schließlich ist er der, um den es geht an diesem Fest der Weihnacht, das Christenmenschen feiern seit 2000 Jahren. Er ist der, aus dessen Angesicht uns Gottes Wirklichkeit selber entgegenleuchtet.
Aber dieser eine, Jesus, Sohn des Josef und der Maria, aufgewachsen in Nazareth, er ist uns zugleich ganz nahe. Er will gar nicht unterschieden sein. Genau darum geht es in diesem einen Vers des Lukas. Dieser eine ist nichts anderes als ein Mensch, geboren von einer jungen Frau, aufgewachsen in der Familie eines Wanderhandwerkers, eines Zimmermanns, wie wir gerne sagen, dieser eine kommt zur Welt wie jede und jeder von uns. Als Kind, in Windeln gewickelt und in einen hölzernen Trog gelegt.
Dieser eine bleibt nicht namenlos, er erhält einen Namen wie viele andere Kinder, die zu seiner Zeit geboren werden. Dieser eine wird nach der Tradition der Religion seiner Eltern in das in Geltung stehende Beziehungsmuster zwischen Gott und Mensch ausgenommen. Er wird nach acht Tagen beschnitten, ganz ähnlich wie Kinder bei uns bis in die Gegenwart getauft werden.
Dieser eine, Jesus, Sohn des Josef und der Maria, aufgewachsen in Nazareth, ist ein Mensch wie wir. Verletztlich. Ein unscheinbares Kind armer Leute, zu dem verhaltene Hörnerklänge doch viel besser passen als Pauken und Trompeten. Gerade deshalb ist mir die vierte Kantate so lieb, mit ihrer Musik, die weich und verhalten daher kommt. Und gerade deshalb gönne ich ihr diesen Gottesdienst!
Solche weihnachtlichen Klänge – ich finde, wir haben sie bitter nötig. Dieses Kind in der Krippe, es ist ein unüberhörbares Gegenzeichen gegen viele Mächtige dieser Tage. Laut und ichbezogen kommen sie daher, ohne Einfühlungsvermögen und nur auf die Ausweitung ihrer Macht konzentriert. Sie faseln von Europa und meinen ihre eigene kleine Welt, die sie angeblich in Sicherheit bringen wollen. Sie halten in Brüssel die Hand auf. Und zu Hause lassen sie ihre Türen zu, wenn andere um Einkehr bitten - wie Maria und Josef in Bethlehem. Sie sprechen von Entlastung der kleinen Leute und entlasten ihr eigenes Vermögen in Milliardenhöhe. Sie geben vor, den Frieden zu suchen, und stürzen Jerusalem in Unfrieden. Ein solches Denken, so habe ich unlängst gelesen, das sei Ausdruck eines Versicherungsglaubens. Ausdruck einer Haltung, die nichts anderes im Sinn hat als die Absicherung dessen, worauf ich meine, ein Recht zu haben.
Bach lässt in seiner vierten Kantate einen Verunsicherungsglauben besingen. Einen Glauben, der einem Gang übers Wasser gleicht. Und der doch viel tiefer ins Zentrum dessen führt, was Leben wirklich meint.
Vom Versicherungsglauben zum Verunsicherungsglauben! So kurz also ist der Weg von Bachs ungehörter vierter Kantate zu den Unerhörtheiten der Gegenwart. Und ich wage mir kaum vorzustellen, welche Sorgen sich der sächsische Starkomponist Johann Sebastian Bach um das Sachsen der Gegenwart machen würde. Und mit welchen Kantaten er Einspruch einlegen würde, wenn die Botschaft dieses einen, Jesus, Sohn der Maria und aufgewachsen in Nazareth, mit einem Mal in ihr Gegenteil verkehrt wird.
Diese leise vierte Kantate, sie ist in manchem mutiger als die festlichen Kantaten, die ihr vorausgehen und nachfolgen. Aber wenn man hört, mit welch musikalischer Lust Bach in den letzten beiden Kantaten den König Herodes in die Irre führen lässt, dann kann man schon ahnen, wo Bachs Sympathien liegen: Bei dem Gott, der sich nicht zu schade ist, Mensch zu werden in einem Kind. Und bei den Menschen, die Gott da suchen, wo dieser Jeschua, dieser „Gott rettet“, einen ganz anderen Gott aufscheinen lässt, als den Gott, der mit den Mächtigen zu Tisch sitzt.
Es ist so unglaublich, dass auch ich zu dieser so ganz anderen, weihnachtlichen Perspektive auf Gott finden kann. Dass uns ein Gott aufleuchtet, der uns einen Namen gibt, damit „Gott ist unser Retter“ zu unser aller Namen wird. Dass uns ein Gott aufleuchtet, der uns einbindet in die Lebensumstände der Wirklichkeit um uns herum. Der uns singen lässt in Synagogen und Kirchen, in Tempeln und Moscheen.
Aber genauso wichtig ist es, dass mir in dieser so unendlich irdischen weihnachtlichen Geschichte immer wieder Engel begegnen. Dass ich hinter den vielen Lichtern das eine Licht erahne, dass die Welt in ein neues Licht rückt. Dass ich mir sicher sein kann, dass Gottes Geist jeden Ungeist am Ende zum Schweigen bringt. Dass ich weiß, dass sich hinter jeder Menschengeschichte eine Gottesgeschichte verbirgt.
Wie gut, dass es die zweite Geschichte meines Lebens gibt. Und dass diese meine zweite Geschichte am Ende immer gut ausgeht. Wie gut, dass sich in dieser oft übersehenen, viel zu wenig musizierten vierten Kantate des Weihnachtsoratoriums die ganze Weihnachtsgeschichte verbirgt.
Ich kann mich mit meiner ureigenen Lebensgeschichte gut aufgehoben wissen in der Geschichte, die Gott für mich schreibt. Und ich vertraue darauf, dass beide Geschichten – irgendwann – in eine zusammenfallen. Das lasst uns feiern. Nicht nur an Weihnachten. Amen.