PREDIGT ÜBER JESAJA 55,1-5 im GOTTESDIENST MIT VERABSCHIEDUNG VON PROF. BERND STEGMANN
ALS REKTOR DER HOCHSCHULE FÜR KIRCHENMUSIK
AM SONNTAG, DEN 30. JUNI 2019 (2. S. NACH TRINITATIS)
IN DER PETERSKIRCHE IN HEIDELBERG

30.06.2019
Liebe Gemeinde!
Summer School ist angesagt. Die achte Auflage der Summer school für Musik und Religion. Klangraum – Raumklang – so lautet in diesem Jahr das Thema. Heute ist Sonntag. Heute wäre im Rahmen der Summer School dann also Sunday School – Sonntagsschule. Sommer-Sonntagsschule für Musik und Religion also.

Die Musik – sie ist prägend und unüberhörbar gewesen in den letzten Tagen und heute Vormittag hier in der Peterskirche. Die Religion – sie könnte in diesem Gottesdienst noch einmal in ganz besonderer Weise ihren Ort haben – zumal jetzt in der Predigt.

Hilfreich könnte da der Predigttext für diesen 2. Sonntag nach dem Trinitatisfest sein. Worte, aus dem 55. Kapitel des Jesaja-Buches. Ein Klangraum ganz besonderer Art ist das, um das Thema der diesjährigen Summer School aufzunehmen. Dort heißt es in den Versen 1-5 in marktschreierischer Sprache:

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben.

Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben.

Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter. Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des HERRN willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.


Und jetzt also: Sunday School Religion: Lesson one – Kapitel 1: Weit ist’s von Babel nach Jerusalem! Der Text, den wir eben gehört haben, ist vermutlich um das Jahr 539 v.Chr. entstanden. Am Ende der großen Verschleppung der Oberschicht Israels nach Babylon. Diese Zeit der Verschleppung ist die traumatisierende Erfahrung der Israeliten schlechthin. Alles, was Menschen sagen und schreiben, alles, was sie tun, es ist vorexilisch oder nachexilisch.

Fern der Heimat entsteht eine neue prägende Identität. Und sie bildet sich in Abgrenzung von einer anderen Identität, in deren Umfeld die Menschen leben. Babel und Jerusalem – das ist allemal eine Alternative wie 500 Jahre später die zwischen Jerusalem und Athen. Oder noch einmal 2000 Jahre später die zwischen Babylon und Berlin. Der Verlust der Heimat ändert den Horizont und die Perspektive.

Im preisgekrönten Buch Babel von Kenak Cusanit wird in Form eines Romans von den Ausgrabungen in Babylon am Anfang des 20. Jahrhunderts berichtet. Die zentrale handelnde Figur ist der Architekt und bedeutende Ausgräber Robert Koldeway. Die Entfernung zwischen Berlin und dem Ruinenfeld zwischen Euphrat und Tigris beträgt viereinhalbtausend Kilometer. Aber Distanzen schrumpfen.

Zitat aus dem Buch: „Koldeway hatte damals über einen Monat gebraucht, um von Babylon nach Berlin zu gelangen, hatte in Aleppo und Konstantinopel Station gemacht, Beirut, Alexandria und Marseille, war tagelang auf dem Liniendampfer der Norddeutschen Lloyd langweiligen Gesprächen mit langweiligen Passagieren aus dem Weg gegangen, um schließlich in Hamburg, das ihm schon etwas hektisch vorgekommen war, in die Eisenbahn zu steigen und an einem Tag des Jahres 1909 mitten in Berlin auf dem Lehrter Bahnhof anzukommen.“

Fast 100 Jahre schon ist das Ischtar-Tor Nebukadnezars II. im Pergamon-Museum in Berlin zu bestaunen. Eine Verschleppung von Steinen, wo Menschen nicht mehr zu verschleppen waren. Deutsche Identität macht sich die babylonische zu Nutzen, um gleichzeitig Machtpositionen über Jahrtausende hinweg festzuschreiben.

Die Exilierten aus Israel werden für die nur 1.300 km von Babylon nach Jerusalem viel mehr als einen Monat gebraucht haben. Sie nehmen mit, was beweglich ist. Sie gehen zu Fuß, beladen ihre Lasttiere. Und sie lassen sich beflügeln von der Aussicht, alles könnte nur besser werden – ehe sie im Trümmerfeld von Jerusalem ankommen und all ihrer Illusionen beraubt werden – im Kopf die Bilder einer Metropole der Macht. Vor Augen die Realität einer anderen Metropole, die sich vor den Augen ihres Gottes scheinbar hatte schänden und degradieren lassen.

Bleibt als Fazit von Lesson one: Wunsch und Wirklichkeit, Realität und Sehnsucht – soweit liegen sie oft auseinander wie Babylon und Jerusalem in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. Die Glitzerfassaden des Fremden vor Augen, fremd bleibend. Und die Gestaltung der Zukunft als Herkules-Aufgabe. Ausgang ungewiss.

Höchste Zeit für das zweite Kapitel, Lesson two also: Der schöne Schein prägt das Sein! Wir können uns Babylon nicht prächtig genug vorstellen. Paläste, Tempel, nicht zuletzt für Marduk und Ischtar, mehrgeschossige Wohnhäuser, Prozessionsstraßen, Kultur und Konsum in unvorstellbarem Maße, wenn auch nicht für alle.

Babylon hat beinahe alles übertroffen, was die Verschleppten aus Israel aus ihrer Heimat in Erinnerung hatten. Diese Bilder prägen sich ein in ihren Köpfen. Und sie geben die Blaupausen ab für das Neue, den Wiederaufbau, der die politische Agenda der Heimkehrenden bestimmt.

Wer den Blick für die Realitäten nicht verloren hat, weiß: Mit diesen Bildern im Kopf muss das Projekt Wiederaufbau nur scheitern. Jerusalem ist eben nicht Babylon. Und auch Babylon hat am Ende schließlich kleinbei geben müssen. Der Perserkönig Kyros hat der Pracht zwar kein Ende gemacht, sie aber gehörig in die Schranken verwiesen.

Bleibt als Fazit von Lesson two: Der Hang zum Vergleich ist der Feind des Menschenmöglichen. Jerusalem, der Wiederaufbau - das muss ein neues Programm werden. Babylon kann nicht das Maß sein.

Jetzt hilft Kapitel 3, Lesson three unsere Sunday School Religion weiter: Die Gnade des zweiten Programms! Die Blaupause Babylon hat ausgedient. Wasser und Milch, Wein und Brot andere Köstlichkeiten, sie sind schier unbezahlbar für Menschen am Rande des Existenzminimums. Kein Grundeinkommen für alle. Keine Aussicht, die Schere zwischen arm und reich wieder kleiner werden zu lassen. „Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht?“ Mit anderen Worten: Einstweilen geht’s nur ums Überleben. Das, was trägt, das, was Zukunft möglich macht, das speist sich aus anderen Quellen. Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst! Und weiter: Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!

Das zweite Programm, im Hintergrund, das Gottesprogramm, hat nie aufgehört zu laufen. Schon als Fremde im Exil. Und jetzt in Jerusalem erst recht. Allen Katastrophen zum Trotz: Es ist der Glaube an Gott, der Leben erst möglich macht. Der Glaube an Gott, der den Weg von Jerusalem nach Babylon mitgemacht – der geholfen hat, das Exil auszuhalten und zu überleben. Es ist erneut dieser Glaube, der allemal so wichtig ist wie Wasser und Wein, Milch und Brot. Alles, was ihr zum Leben braucht, alles, was Zukunft ermöglicht, das gibt es: Umsonst!

Was sich anhört wie ein Ausschnitt aus dem Kommunistischen Manifest: Abschaffung des Geldes als Zahlungsmittel. Alle Lebensmittel – umsonst! Jeder nach seinen, jede nach ihren Bedürfnissen – es ist in Wirklichkeit der kritische Gegenentwurf des Gottes aus Jerusalem zum Lebensparadigma aus Babylon. Nicht Ischtar und Marduk, nicht der Glanz der Metropole mit ihren Weltwundern macht Zukunft möglich.

Wer Zukunft bauen will, muss sie auf Vertrauen gründen. Auf das Vertrauen, dass die Geschichte des Gottesglaubens weitergeht. Über Babylon und über die Trümmer von Jerusalem hinweg: „Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen!“

Die königliche Linie der Herrschenden aus der Dynastie Davids wird nicht von Neuem ins Recht gesetzt. Nicht länger also begründet Macht den Zukunftsglauben. Stattdessen lautet das Stichwort: Umsonst. Gratis. Aus Gnade, um es in die vertrauten Sprachspiele des Protestantismus zu übersetzen. Nicht umsonst hängen gratis und gratia aufs Engste miteinander zusammen. Und dass der solus Christus dann doch auch aus der Linie der Nachkommen Davids stammen soll – es ist ein Angebot, uns einzubinden in die Geschichte derer, die auf das Gottesprogramm, die auf den Gottesglauben setzen.

Bleibt das Fazit von Kapitel 3, Lesson three also: Der Blick hinter die Kulissen lohnt. Gott bleibt allemal gestaltend beteiligt im Spiel des Lebens.

Zur Quadratur des Hoffnungskreises gehört ein viertes Kapitel, Religion, Lesson foursteht noch aus: Dieser Glauben lässt Mauern in sich zusammenfallen. Die Grenze zwischen Babylon und Jerusalem verschwindet. Der Weg schrumpft auf eine erträgliche Entfernung.

Jetzt spätestens kommt die Musik ins Spiel. Musik in vielerlei. Gestalt. Auch in der Gestalt der Angebote der Hochschule für Kirchenmusik. Der Dienste, der Verdienste von Prof. Stegmann und all den anderen Dozierenden. Der Weg in die Zukunft führt über das Hören. „Hört auf mich! Neigt eure Ohren!“ Das Wort der Gnade – es wird zum Vielklang. Ein Klangraum des Glaubens.

Die einzelne Stimme des Predigers in der Wüste zwischen Babylon und Jerusalem – sie wandelt und weitet sich zur grandiosen Polyphonie der Hoffnung auf Zukunft. Ein Raumklang der Hoffnung!

Musik ist es, die entgrenzt wie kaum etwas anderes. Musik ist es, die die „Völker ruft, die du nicht kennst!“ Musik ist es, die Babylon und Jerusalem einander so nahe bringt wie Babylon und Berlin und Babylon und Heidelberg. „Wohlan, kommt her. Alle!“

Und das Fazit von Kapitel 4, Lesson four, es lautet: Worte werden zum Klangraum des Unfriedens. Sie bereiten den Krieg. Zumindest manchmal. Töne bereiten den Frieden. Ermöglichen einen Klangraum der Zukunft. So hoffe ich jedenfalls. Weil sie dem „ich zuerst“ den Kampf ansagen. Weil sie das „ich allein“ ad absurdum führen. Weil sie das „Du gehörst nicht dazu!“ der Lächerlichkeit preisgeben.

„Kommt her und hört! Kommt her und macht mit!“ Die Straßen Babylons sind längst in Trümmer gefallen. Auf den Straßen Jerusalems herrscht viel zu oft Gewalt. Bis auf diesen Tag. Auf den Straßen Berlins schaut die Hoffnung auf tragenden Grund hinter den prächtigen Glitzerfassaden hervor. Wohlan kommt und hört! Wohlan brecht euer Schweigen! Fallt ein in die Hoffnungs-Gesänge Gottes.

Alles, was ihr zum Leben braucht – ihr sollt keinen Mangel leiden. Alles, was eurem Leben Grund gibt: Wohlan kommt und lasst euch beschenken. Alles, was euch zum Singen bringt, darauf vertraut. Darauf baut. Umsonst. Gratis. Aus Gnaden. Um Gottes und um uns Menschen willen.

Wenn uns das nicht zum Singen und zum Musizieren bringt – was ! Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.