Brauchen wir nach der Corona-Krise denn unsere Kirchen noch?
Erste Überlegungen zu den Konsequenzen der positiven Erfahrungen mit online-Gottesdiensten
Online-Gottesdienste sind ein „Erfolgsmodell“
Noch ist der Shutdown nicht zu Ende. Bereits seit dem 17. März gilt auch für die Kirchen in Baden-Württemberg ein Versammlungsverbot. Gottesdienste können seitdem nicht mehr wie gewohnt in Kirchen gefeiert werden. Das war aber nicht das Ende des gottesdienstlichen Feierns. An gottesdienstlichen Angeboten besteht weiterhin kein Mangel. Auch Karfreitag und Ostern sind nicht ausgefallen – im Gegenteil!
Kaum war das Faktum des Versammlungsverbotes in der Welt, war der Kreativität der Kommunikation des Evangeliums keine Grenze mehr gesetzt. In unterschiedlichster Form haben Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakoninnen und Diakone, Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker, nicht selten unterstützt von Menschen, die mit hoher Kompetenz in den sozialen Medien unterwegs sind, Ideen entwickelt, als hätten sie auf diese Gelegenheit nur gewartet.
Ich habe ganz unterschiedliche Weisen des Bemühens wahrgenommen, mit den Menschen in Kontakt zu kommen, denen das kommunikative Bemühen der Kirche gilt. Es waren und sind dies:
Print
1. Die traditionelle Print-Gemeindebrief
2. In die Briefkästen eingeworfene Predigten oder gar Predigtsammlungen (zum Teil mit beigelegten CDs), geistlichen Worte und Formulare für häusliche Andachten
3. In offenen Kirchen ausgelegte Texte
Audio
4. Telefonandachten
5. Audio-Andachten und -Ansprachen (meist über Internet-Links abrufbar)
Visuell
6. Vorab aufgezeichnete Gottesdienste, teilweise aus verschiedenen Bild- und Tonquellen zusammengestellt, manchmal mit Kirchen-Innen- bzw. -Außenansichten als Hintergrund
7. Live gestreamte Gottesdienste, die auch danach noch zum Download bereitstehen.
Daneben gibt es Kombinationen unterschiedlichster Spielart, Texte, die man sich von der Website der Gemeinde herunterladen kann, nicht selten auch Liedblätter, die zu den Gottesdiensten heruntergeladen werden können.
Schon jetzt stellt sich Fragen: Sind das alles vorübergehende Lösungen, die aus der Not geboren werden? Wird auf diese Weise nur beschleunigt, was in wesentlich langsamerem Tempo ohnedies und nach Überwindung unterschiedlichster Bedenken ohnedies gekommen wäre? Was wird nach dem Exit aus dem gegenwärtigen Zustand bleiben? Können wir – um es etwas provokativ und pointiert zu formulieren – die meisten unserer Kirchen verkaufen, mit Ausnahme der Kirchen, die sich für die Feier von online-Gottesdiensten eignen?
Letzteres wird sicher nicht der Fall sein! Dennoch möchte ich nachfolgend einige meiner Gedanken und Erfahrungen insbesondere mit den Online-Gottesdiensten in Thesen reflektieren. Ich selber habe bisher Erfahrungen mit drei Varianten von online-Gottesdiensten sammeln können: Zum einen mit einem Gottesdienstformat, das mit einem durchaus ansehnlichen technischen Standard gemeindlich gefeiert und gestreamt wurde. Zum zweiten mit einem Gottesdienstprojekt, das mit verstärktem Einsatz im Bereich der Produktion und Vorbereitungsaufwand für die Landeskirche insgesamt verbreitet wurde; zum dritten mit einem ähnlichen Projekt, das aber zugleich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen live gesendet worden ist.
Natürlich ist der Erprobungszeitraum noch zu kurz, um hier auf abgesicherter Basis zu Bewertungen zu kommen. Ich kann auch nicht auf Befragungen von Userinnen und Usern zurückgreifen. Dennoch sehe ich durchaus Linien, an denen entlang auch noch vertiefte Auswertungen vorgenommen werden können. Zehn davon möchte ich nachfolgend etwas vertiefen und damit einen Beitrag für die noch ausstehende weitere Debatte leisten!
Thesen
1. Qualitätsmäßig anspruchsvolle Online gefeierte Gottesdienste sind nicht einfach „Abfilmungen“ des normalen und vertrauten Gottesdienstformats. Sie sind eigens für diesen Anlass komponierte Inszenierungen, die ausdrücklich von den für die Zuschauenden entstehenden Bildern bestimmt sind. Insofern ist der leere Kirchenraum eher sekundär, er muss nicht einmal gezeigt werden. Entsprechende Hinweise auf diesen leeren Raum, die bei den ersten solchen Gottesdiensten zum Begrüßungsstandard gehört haben, sind im weiteren Laufe der Sonn- und Feiertag zusehends verschwunden. Mit mehreren Kameras und einem vorbereiteten Drehbuch lassen sich etwa Details im Kirchenraum mit Wort und Musik interpretierend verbinden. Ähnliches gilt für Tanz und dramatisierende Elemente. Charlotte Magin, Helmut Schwier u.a. haben dafür schon vor Längerem in ihrem Buch „Kanzel, Kreuz und Kamera“ Wesentliches dafür benannt und reflektiert.
2. Online-Gottesdienste werden von nicht wenigen Gemeindegliedern durchaus als Alternative zu den derzeit nicht möglichen Gottesdiensten in kirchlichen Räumen wahrgenommen und gefeiert. Viele schaffen sich zu Hause eine angemessene Teilhabe- und Mitfeiersituation mit Kerzen, schön gerichtetem Tisch etc. und singen auch die Lieder mit. Es bleibt offen, ob diese Bereitschaft eine nachhaltige ist oder ob sie mit zunehmender Dauer des Shutdowns abflacht. Die häusliche Situation hat insofern zumindest für viele Ausnahmecharakter, da die Menschen ja meist allein oder zu zweit mitfeiern. Zudem birgt die heimische Situation jede Menge Ablenkungen. Wie Menschen das empfinden, müsste konkret erfragt werden.
3. Online-Gottesdienste sprechen nicht zuletzt Menschen an, die auch andere elementare Lebenssituationen auf diese Weise gestalten. Die Gottesdienste erreichen auf diese Weise durchaus eine erweiterte, social-media-affine Zielgruppe. Diese wird aber nicht einfach immer mitfeiern, sondern muss durch ein dieser Gruppe entsprechendes Angebot gebunden oder immer neu gewonnen werden. Hier wird also untersucht werden müssen, inwieweit Menschen überhaupt den ganzen Gottesdienst mitfeiern und ob sie dies auch wiederholt tun würden.
4. Die Zahl der Abrufe der Gottesdienst-Clips nach Ende des Livestreams ist ein Mehrfaches höher als die derjenigen, die den Gottesdienst in Echtzeit mitfeiern. Insofern zeigt sich hier eine Entwicklung, die sich längst auch in der Fernsehnutzung nachweisen lässt. Die Abrufzahlen würden – wenn sich dahinter mehrheitlich Personen mit einem auf das Feiern von Gottesdiensten ausgerichteten Interessen verbergen – die einzelnen Kirchenräume in ihrer Kapazität überfordern. Überdies gilt: Je jünger die Nutzer, desto größer ist die Bereitschaft, den Gottesdienst zu einem anderen als dem live bespielten Zeitpunkt herunterzuladen und anzuschauen bzw. mitzufeiern; und das vermutlich nicht unbedingt in voller Länger. Hier müssten verstärkt auch mit zielgruppengenauen Kurzformaten Erfahrungen gesammelt und ausgewertet werden.
5. Gute und auf Dauer nachgefragte online-Gottesdienste sind auf eine nicht unerhebliche qualitätsmäßig hochwertige und damit auch teuere technische Grundausstattung angewiesen. Zudem müssen sie aufwändig vorbereitet und mit dafür geschulten Personen durchgeführt werden. Dies kann nicht zusätzlich neben der Verantwortung für die in den Kirchen allsonntäglich gefeierten Gottesdienste geschehen, und es erfordert durchaus noch einmal andere professionelle und im Einzelfall zu erwerbende Kompetenzen. Hier müsste u.U. mit einem Rhythmus gearbeitet werden, der größer Intervalle beinhaltet. Einfach „Draufsatteln“ geht aber auf jeden Fall nicht.
6. Erstaunlicherweise hat sich sehr schnell gezeigt, dass in der aktuellen Situation der Verweis auf bereits bestehende Gottesdienst-Angebote (ZDF-Gottesdienste bzw. DLF-Gottesdienste) bzw. die Übertragung weiterer Gottesdienste zwar durchaus angenommen wird und dort zu höheren Quoten führt. Dennoch gibt es eine unübersehbare Tendenz zu lokalen bzw. regionalen Angeboten, bei denen die „eigene“ Kirche oder der „eigene“ Pfarrer bzw. die „eigene“ Pfarrerin zu sehen ist. Lokale und regionale Angebote sind durchaus in der Lage, die Rezeption der womöglich viel aufwändigeren überregionalen Angebote zu toppen. Anders in kaum zu erklären, warum binnen kürzester Zeit die Kurve der gottesdienstlichen Vor-Ort-Angebote unterschiedlichster Art derart nach oben geschnellt ist. Kirche ist für viele Menschen mit dem Erlebnis von räumlicher Nähe und vertrauter Personen verbunden. Hier wird zu klären sein, inwieweit regionale Angebote hier zumindest entlastend wirken können.
7.. Die nötigen Voraussetzungen in Hardware und Software sowie – trotz Vorhandensein - das fehlende technische Erfahrungswissen schaffen neue Segmentierungen der Gemeinde. Wer Gottesdienste nicht online mitfeiern kann, bleibt erst mal bei dieser Form des Feierns außen vor, zumal das Mitfeiern bei Dritten ja auch nicht möglich ist. Er oder sie ist darauf angewiesen, dass zumindest „Ersatzprodukte“ in gedruckter Form zur Verfügung gestellt werden.
8. Online-Gottesdienste haben eine engagiert ausgetragene Debatte zum Umgang mit dem Abendmahl ausgelöst. Die Frage ist, ob Menschen eingeladen werden sollen, die Abendmahlsliturgie live oder mit dem später heruntergeladenen Video-Clip mitzufeiern und mit vorbereiteten Elementen zu Hause am Abendmahl teilzunehmen. Hier gibt es zwischen einem rigorosen „das geht gar nicht“ über ein abwartendes „so groß ist die Not nun doch noch nicht; im Übrigen ist Christus auch ohne Abendmahl im Gottesdienst durch das Wort präsent“ bis hin zu einem eindeutigen „warum denn nicht“ ein breites Spektrum der Positionen. Zu klären wäre nicht zuletzt die Frage, ob denn der Leib Christi nur analog oder auch virtuell erlebbar sein kann. Tatsächlich könnte sich das theologische Problem fürs Erste dadurch lösen oder zumindest entschärfen lassen, dass Menschen ermutigt werden, in Ausübung ihres Priestertums aufgrund der Taufe eine häusliche Abendmahlsfeier zu leiten. Dies ist durchaus auch geschehen. Ökumenisch könnte diese Praxis aber sicherlich ordentlich Sprengstoff enthalten und muss in den Dialog der Kirchen proaktiv eingebracht werden.
9. Im Blick auf die Zukunft der online gefeierten oder ins Netz gestellten Gottesdienste müsste deren eigenständiges Profil im Verhältnis zu den in absehbarer Zeit sicher auch wieder in Kirchenräumen gefeierten Gottesdiensten geklärt werden. Sofern sie nur als „Ersatz-Veranstaltung“ verstanden werden, müssten sie nach einer Phase der Normalisierung der aktuellen Situation wieder verschwinden. Tatsächlich bieten diese Gottesdienste aber ein durchaus nachgefragtes eigenständiges „Produkt“ kirchlichen Handelns an, das beibehalten und weiterentwickelt werden sollte, weil es dem Lebensgefühl und dem Nutzerverhalten einer Gruppe entspricht, der die traditionellen Angebote weder vom Charakter noch von Zeitpunkt noch vom Erlebnis her zusagen. Hier wird noch weiter zu untersuchen sein, wie solche Angebote zu profilieren sind.
10. Online-Angebote im Bereich Gottesdienst sind auf die Voraussetzung eines ausdrücklich formulierten kirchenleitenden Willens und der theologischen Durchdringung damit verbundener Fragen angewiesen. Dabei müssen mit den entsprechenden Formaten und den angesprochenen Milieus vertrauten Personen in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Zudem sind die Interessen und das Userverhalten der angesprochenen Zielgruppen direkt bei diesen und mit diesen zu erheben.
Wie könnte es weitergehen?
Wenn ich einen Blick in die Zukunft nach den Monaten der Corona-Krise wage, sehr ich drei Entwicklungen:
1. Die hohe Dichte der gestreamten Gottesdienste, so wie wir sie in der derzeitigen Situation haben, wird so nicht aufrecht erhalten bleiben. In vielen Fällen wird nach Aufhebung des Versammlungsverbots dem in der Kirche vor Ort gefeierten Gottesdienst wieder die höchste Priorität zukommen. Trotzdem werden auch dann Veränderungen zu beobachten sein. Ergänzend zu dem Textdokument der Predigt wird in viel mehr Fälle als vorher eine Audio- oder sogar Video-Datei des Gottesdienstes auf der gemeindlichen Website abzurufen sein. Der Umgang mit digitaler Technik wird selbstverständlicher und in vielen Fällen auch genutzt.
2. Wenn gottesdienstliche online-Angebote künftig in stärkerem Maße zur Umsetzung gelangen, erkenne ich unterschiedliche Ebenen: Gemeinden mit starker (auch finanzieller) Infrastruktur nutzen diese Möglichkeit weiterhin selber. Sie erkennen die Chance, neben der bisherigen Zielgruppe andere Menschen oder diese Menschen auch noch einmal anders zu erreichen. Neben dieser selbstgesteuerten Nutzung könnte es auch eine regional oder bezirklich vereinbarte geben. Darüber hinaus könnten landeskirchlich verantwortete Angebote hier noch einmal unterstützend wirken. In allen Fällen werden die Ressourcen kaum ausreichen, dass ein Anbieter hier an jedem Sonn- oder Feiertag aktiv ist – es sei denn, es geht nur um ein Streaming dessen, was ohnedies vor Ort geschieht, was ja durchaus auch ein gewinnbringender Nebeneffekt wäre.
Denkbar sind auch eigenständige Angebote in einem anderen als dem an gottesdienstlichen Liturgien orientierten Format (die es ja durchaus auch schon gibt). Kirchenjahrs- oder auf einen Anlass bezogen (etwa die Situation in einem Krankenhaus, die Beziehung Großeltern und Enkel, die Sorge um das Klima u.a. aufnehmend) können ganz eigene Muster des Feierns – und dies durchaus auch mit interaktiven Elementen oder solchen, die stark mit dem arbeiten, was Menschen an Ideen und Dateien und zur Verfügung stellen. Wichtig sidn hier m.E: auch ausdrückliche „Kurzformate“. Hierbei stünde von Anfang an nicht der Live-Charakter, sondern das Spezifische des Angebots im Vordergrund.
3. In alle weiteren Überlegungen einzubeziehen wird zudem die Thematik einer digital orientierten „gemeindevergleichbaren Community“ sein, d.h. einer Gemeindeform, die sich nicht parochial oder auf ein Kirchengebäude bezogen definiert. Hier liegen zumindest im landeskirchlichen Kontext theologischen Reflexionsprozesse bzw. etablierte Modelle noch nicht in auswertbarer Form vor. Es wäre aber sehr spannend zu beobachten, ob die Ergebnisse der coronabedingten Krise nicht einen Push bewirken. Dann werden sich aber auch Fragen wie die oben in These 8 formulierten in neuer Dringlichkeit stellen und vielen – und ganz sicher auch mir selber! – Umdenk-Prozesse oder theologische Neuorientierungen zumuten.
Fazit
Wichtig ist hier in jedem Fall, dass die online-Angebote keine Konkurrenz zu den ohnedies gefeierten Gottesdiensten darstellen. Sie erreichen einfach noch einmal einen erweiterten Personenkreis und bedienen andere Erwartungen.
Meines Erachtens wäre es durchaus wünschenswert, die aufs Ganze gesehen überwältigend positiven Erfahrungen mit den live gestreamten und online abrufbaren Gottesdiensten nicht als ein vorübergehendes Phänomen zu betrachten. Auch wenn sicher deshalb keine Kirchen verkauft werden müssen, sollten ausreichend Bemühungen angestrengt oder unterstützt werden, online-Gottesdienste als Chance zu betrachten, die auch nach einem erfolgreichen Exit aus dem Shutdown weiter genutzt werden muss. Insofern hätte sich die gegenwärtige Krise dann als Katalysator erwiesen, der eine im Grundsatz schon angedachte Entwicklung in relativ kurzer Zeit zur „Serienreife“ gebracht hat.
Dies gilt durchaus auch für andere positive Erfahrungen, die in dieser Krise gemacht werden konnten (vor allem auch die jetzt vielfach Videokonferenzen, Homeoffice-Erfahrungen etc.) – aber all das wäre am Ende immerhin auch ein nachhaltig wirksamer Krisengewinn!